Inhalt
Erzählt werden zehn miteinander verknüpfte Kurzgeschichten aus der Sicht von Jugendlichen, die auf unterschiedliche Weise ihr „erstes Mal“ erleben. Das Buch beginnt mit einer simplen, und doch verblüffenden Beobachtung: Wie kann es sein, dass so viele ganz unterschiedliche Wörter - von "Koitus" über "ficken" bis "Liebe machen" - alle dasselbe meinen?
Jede Geschichte beleuchtet eine neue Figur, ein anderes Dilemma und doch greifen sie ineinander, weil alle im selben Dorf leben und sich in den Episoden der anderen begegnen. Da ist etwa Alex, die sich fragt, ob sie jetzt wirklich mit Playboy Fabian ihr erstes Mal haben wird. Oder Lou, auf der aufregenden und nicht ungefährlichen Reise in die große Stadt, um dort Anschluss an die queere Community zu finden, die im eigenen Dorf fehlt. Andere probieren sich aus, schreiben geheime Liebesbriefe, haben zum ersten Mal richtig Krach oder müssen sich gegen Gruppendruck und Vorurteile behaupten.
Vor-, Nach- und Zwischenspiele rahmen die einzelnen Episoden und fügen zu dem ohnehin schon vielstimmigen Geschehen weitere Perspektiven hinzu.
Kritik
Sowohl auf sprachlicher als auch narrativer Ebene bietet der Roman differenzierte Lesarten. Besonders die sprachliche Gestaltung fällt durch die bewusst gewählte Einfachheit auf, die sich jugendsprachlicher, teils derber und direkter Ausdrucksweisen bedient. Zum Beispiel, wenn Alex darüber sinniert, wieso sie auf keinen Fall ohne Kondom mit Fabian schlafen sollte und sich an die Abtreibung ihrer Freundin Linda erinnert, während der sie ihre Hand hielt.
Ich habe aus dem Fenster gesehen, versucht mich auf die Wolken zu konzentrieren, die weiß und flauschig waren, und hab mir geschworen, niemals so dumm zu sein wie Linda, die auf einer Hausparty im Kinderzimmer zwischen Lego- und Playmobilkisten mit einem random Dude geschlafen und ihm geglaubt hatte, dass er seinen Spermafluss im Griff hatte wie ein Schleusenwärter. (S. 28f.)
Oder als der Türsteher Teddy mit Rassismus und Homophobie konfrontiert wird:
Die haben sich beim Chef beschwert über mich, die Alten. Weil ich sie nicht reinlassen wollte, als sie das erste Mal gekommen sind. Waren schon vollkommen blau am Abend, standen schwankend vor der Eingangstür und haben Türkenwitze erzählt, extralaut, damit Yousef und seine Leute, die wie immer auf dem Parkplatz an ihren Autos lehnten, es auch ganz bestimmt hören. […] "Hast du das gehört?", sagt der Muppet mit der Truckermütze zu seinem Freund. "Die kleine Schwuchtel ist ganz schön frech." (S. 35f.)
Es wird deutlich, dass die Entscheidung gegen komplexe Satzbaustrukturen keineswegs als Ausdruck stilistischer Reduktion zu deuten ist, sondern vielmehr als Mittel zur Authentizitätssteigerung dient, wodurch eine realitätsnahe Darstellung jugendlicher Erfahrungswelten ermöglicht wird. Komplexität entsteht hier nicht durch Syntax oder Vokabular, sondern durch die thematische Tiefe und Vielschichtigkeit der Situationen. Auch die Dialoge wirken dementsprechend lebendig und glaubwürdig – sie reflektieren nicht nur Alters- und Sozialstruktur der Figuren, sondern tragen wesentlich zur Figurenzeichnung und emotionalen Tiefe der Charaktere bei.
Die Wahl der internen Fokalisierung erzeugt eine Innenschau, die hohes Identifikationspotential schafft. Das Erleben und die Wahrnehmung der Jugendlichen stehen im Mittelpunkt, wodurch eine intime und unmittelbare Lektüreerfahrung ermöglicht wird. Tini zum Beispiel versteckt in der Episode "Rabbit Vibe" eventuelle Unsicherheiten hinter trockenen Beobachtungen und humoristischen Bemerkungen:
Ich erwidere kurz ihren Blick, dann starre ich wieder auf die Penis-Armada in dem Regal vor mir. Was meint sie denn damit? Was glaubt sie, für was ich so ein Ding brauche? Als Dekorationsobjekt? Zum Suppe umrühren? […] Die Dinger in der Plastikkartons sehen sowieso nicht so aus, wie ich mir das vorgestellt habe. Ehrlich gesagt machen sie mir ein bisschen Angst. (S. 58)
Jenny hingegen umschreibt offen und durchaus überschwänglich ihre Gefühle für Momo und nutzt dabei sprachliche Bilder, um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen:
Dear Momo, ich bin so verliebt in dich. Jeden Tag ein bisschen mehr. Ich weiß nicht, wie das geht, aber so ist es. Irgendwann platzt mein Herz, weil es zu voll ist. Wirklich. So fühlt es sich an. Eines Tages werde ich dich sehen, und mein Herz wird aus meinem Brustkorb herausplatzen wie ein übervoller Wasserballon. (S. 71)
Je nach Perspektive sind auffällige Unterschiede in der Verwendung sprachlicher Mittel der Protagonist:innen zu erkennen, wodurch mehr Identifikationsmöglichkeiten und Perspektivwechsel entstehen.
Auch in narrativer Hinsicht folgt der Roman einem Schema, welches das fragmentierte, suchende Bewusstsein der Figuren widerspiegelt. So unterschiedlich wie die einzelnen Figuren gestaltet sich auch die Textform der Episoden: in Briefen, Tagebucheinträgen und frei fließenden Gedankenströmen. Die Form selbst ist Ausdruck des Inhalts.
Die zehn Episoden, verbunden durch Texteinschübe in teilweise lyrischer Form, ähneln einem Netz, das sowohl die komplexe Gedankenwelt der Individuen als auch die sozialen Verbindungen zwischen ihnen sichtbar macht. Dieses kann als Illustration im Vorsatzpapier nachvollzogen werden. Es gibt keine klare Trennung von Haupt- und Nebensträngen. Vielmehr sind verschiedene Themenfelder – soziale Beziehungen, Körperlichkeit, Selbstfindung, Zugehörigkeit – organisch miteinander verknüpft. Konventionelle Motive der Coming-of-Age-Literatur, die erste Liebe oder Konflikte innerhalb der Bezugsgruppe, werden explizit aufgegriffen. Anstatt in Kitsch zu verfallen oder jugendliche Erfahrungen zu romantisieren, platziert Rottmann bewusst Leerstellen oder Negativerfahrungen. Als Teddy beispielsweise zum ersten Mal in seinem Leben von einem anderen Jungen geküsst wird, bricht die Erzählung mit der Erwartung eines Happy Ends:
Ich spür Michas Atem und wie warm er ist. Und dann legen sich seine Lippen auf meinen Mund. Sie sind weich und fest gleichzeitig, ich hab nicht gewusst, dass es sowas gibt. Ich hab nicht gewusst, dass es sich so anfühlt, wenn man geküsst wird […], wie hundert kleine Stromschläge, aber in angenehm. […] Ich lass Micha sofort los, aber an der Art, wie der Chef grinst, […] erkenn ich, dass er den Kuss gesehen hat. […] Ich will nicht über das reden, was gerade passiert ist. […] [P]lötzlich kommt die Wut. Wie eine heiße Welle schwappt sie von meinem Bauch in den Kopf und ich merk, dass ich es keine Sekunde länger in diesem Raum aushalte. (S. 46ff.)
Das Ende bleibt offen und spiegelt so den Prozesscharakter jugendlicher Selbstfindung wider.
Die Figuren wirken differenziert und facettenreich gezeichnet. Geschlechterrollen, sexuelle Orientierungen sowie soziale Hintergründe werden nicht homogenisiert, sondern vielfältig repräsentiert. Dies geschieht jedoch nicht plakativ, sondern ist integraler Bestandteil der Figurenentwicklung. Die literarische Repräsentation queerer Lebensrealitäten wird nicht als Sonderfall, sondern als selbstverständlicher Teil jugendlicher Lebenswelten verhandelt. Dadurch wird ein breites Identifikationsangebot geschaffen, das es Lesenden ermöglicht, sich in unterschiedlichen Aspekten der Figuren selbst wiederzuerkennen.
Eva Rottmanns Roman richtet sich in seiner sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung klar an ein jugendliches Publikum. Während ihrer Recherchearbeit ließ die Autorin Fragebögen von Jugendlichen ausfüllen, um relevante Themenschwerpunkte zu setzen und sprachliche Besonderheiten besser greifen zu können. Viele Impulse wurden demnach direkt von Jugendlichen gegeben, was die Authentizität des Textes und der besprochenen Themen abermals unterstreicht. Die Adressat:innen werden weder infantilisiert noch belehrt, sondern als diskursfähige Individuen angesprochen. Sensible Inhalte wie psychische Krisen und sexualisierte Gewalt werden weder tabuisiert noch voyeuristisch inszeniert. Stattdessen begegnet die Autorin diesen Themen mit einer reflektierten Haltung, die sowohl Betroffenen Raum gibt als auch Nicht-Betroffenen einen Zugang ermöglicht. Ebenso bilden gesellschaftspolitische Aspekte einen integralen Bestandteil des Textes. So werden zum Beispiel das Bildungssystem, die Rolle von Eltern und Institutionen sowie normative Vorstellungen von Geschlecht und Körper kritisch beleuchtet. Eine zugehörige Website bietet sowohl Schüler:innen als auch Lehrpersonen die Möglichkeit, Gelesenes im Privaten oder Schulkontext nachzuarbeiten und die im Buch behandelten Themenfelder zu vertiefen.
Fazit
Fucking fucking schön ist ein durchkomponiertes Ganzes, das die Vielfalt jugendlicher Lebenswelten ernst nimmt und dabei humorvoll und direkt bleibt. Eva Rottmann gelingt es, politisch zu schreiben, ohne mahnend den Zeigefinger zu heben. Es handelt sich um einen Text, der mit Jugendlichen für Jugendliche geschrieben ist und so Raum schafft anzuknüpfen, Fragen zu stellen, konfrontiert zu werden und sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen. Auch wenn das Buch eindeutig ein jugendliches Publikum ab 14 Jahren adressiert, kann die Lektüre für erwachsene Leser:innen im Hinblick auf die eigene Jugend eine heilsame Erfahrung sein.
Erste Male können beängstigend sein. Besonders deren Tabuisierung kann zu einer Mystifizierung beitragen. Mit dem Erwachsenwerden gehen sie jedoch naturgemäß einher, weshalb Stoffe wie der vorliegende zu jeder Zeit von Relevanz sind. Die zehn kurzen Geschichten zeigen, wie vielfältig Sexualität erlebt werden kann: unbeholfen, liebevoll, schmerzhaft, aufregend. Eben: fucking fucking schön.
- Name: Eva Rottmann
