Inhalt
DDR 1988 – Als Anjas Mutter einen Ausreiseantrag stellt, ändert sich das Leben der 14jährigen Anja radikal und brutal. Bislang war sie eine fröhliche, leicht aufmüpfige Schülerin, doch diese Fröhlichkeit wird nun gebrochen: Die Mutter wird verhaftet und Anja von der Stasi in ein Durchgangsheim gebracht. Sie wird einfach weggesperrt, behandelt wie eine Schwerverbrecherin und ist nun tagtäglich den Demütigungen und der Willkür der Erzieher ausgesetzt. Anja weiß kaum, wie ihr geschieht. Was hat sie verbrochen? Der einzige leise Hoffnungsschimmer besteht für die Protagonistin in der sich anbahnenden Freundschaft zur rebellischen Gonzo und in dem vorsichtigen Kontakt zu Tom, der ihr durch die Zellentür hindurch vom Kinofilm E.T. erzählt. Anja verliebt sich in ihn. Doch vorrangig kann sie nur an eines denken: Flucht. Vom Durchgangsheim wird sie in einen Jugendwerkhof gebracht, wo sie sozialistisch umerzogen werden soll. Anja gelingt von dort der Ausbruch. Sie schlägt sich durch zu Verwandten, wo sie sich über die Weihnachtstage verstecken kann. In diesen Tagen entwickelt sich eine intensive Verbindung zu ihrem Cousin Kilian, der Anja von seiner Begeisterung für Lyrik, speziell für die Gedichte von Rilke erzählt. Erst ist Anja befremdet, doch schon bald gewinnt das Gedicht Der Panther eine existenzielle Bedeutung für sie. Denn Anja bleibt nicht unentdeckt, schon kurz nach Weihnachten wird die flüchtige Jugendliche aufgegriffen und zurück in den Jugendwerkhof gebracht. Die Identifikation mit dem eingesperrten Panther aus Rilkes Gedicht wird ihr nun zum Lebenselixier und hilft ihr beim Überleben hinter Gittern.
Denn es kommt noch schlimmer: Als eine Erzieherin Anja quält, indem sie mit einem Brief ihrer Mutter herumwedelt, ihr diesen aber nicht gibt, rastet das Mädchen aus. Blind vor Wut und Verzweiflung schlägt sie mit einem Stuhl auf die Erzieherin ein. Aufgrund dieses Vorfalls wird sie als gewalttätige Jugendliche eingestuft und in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gebracht. Gewalt und Drill stehen hier auf der Tagesordnung, ebenso wie Zwangssport und Arbeit bis zum Umfallen. Sobald ein Mädchen z.B. durch körperliche Schwäche beim Sport eine Kollektivstrafe ausgelöst hat, prügeln die anderen Mädchen des Nachts auf es ein. Anja verliert die Orientierung und den Lebenswillen, versucht nur noch zu funktionieren und fragt sich immer wieder, wo ihre Schuld liegt.
In Torgau trifft sie Gonzo und Tom wieder. Da Kontakte unter den Jugendlichen streng verboten sind, bleiben die Annäherungen unter ihnen sehr vorsichtig, sind aber dennoch der einzige Halt, der sich in dieser "Hölle" bietet.
Anja entkommt schließlich durch einen Unfall. Sie rutscht auf der feuchten Treppe aus, zieht sich eine Gehirnerschütterung zu und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Von dort aus gelingt ihr die Flucht. Sie schafft es bis nach Leipzig, wo sie sich zunächst bei einer alten Frau verstecken kann. Da Tom ihr seine Adresse gegeben hat, schafft sie es schließlich, ihren Freund wiederzufinden, der inzwischen aus Torgau entlassen wurde. Durch ihn gerät sie mitten in die Montagsdemonstrationen vor der Nikolaikirche. Bis dahin hatte sie vom Umbruch in der DDR fast nichts mitbekommen. Hier findet sie endlich ihre Mutter wieder, die im Zuge des politischen Aufbruchs entlassen wurde.
Doch der Leser ahnt: Durch die Zeit in Torgau wird Anja für immer eine gebrochene Persönlichkeit bleiben…
Kritik
Grit Poppe erzählt in Weggesperrt eine durch und durch düstere Geschichte. Von der ersten bis zur letzten Seite vermittelt der Text beklemmende Gefühle, schockiert und bestürzt den Leser zutiefst. Schonungslos und offen zeichnet die Autorin das Schicksal ihrer Protagonistin nach, die zwar eine fiktive Figur ist, deren Darstellung sich jedoch eng an der Realität orientiert und somit tatsächlich an das Grauen erinnert, das die jugendlichen Insassen im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau in der DDR erfuhren. Aufklärung über die Zustände dort ist das deutliche Anliegen des Textes. Damit wendet sich Grit Poppe einem bislang wenig beachteten Thema der DDR-Geschichte zu und legt mit Weggesperrt den ersten Jugendroman darüber vor.
Auf der Darstellungsebene fällt die schnelle Handlungsabfolge auf. Die Handlung beginnt in medias res mit der Verhaftung von Anjas Mutter. Von da an überschlagen sich die Ereignisse, sodass der Leser gar nicht anders kann, als diesen in rasantem Tempo zu folgen und um sich die ganze Lektüre über betroffen und bedrückt zu fühlen. Ganz sicher entspricht das der Intention der Autorin, wie sie in einem Interview verdeutlicht hat (vgl. http://www.grit-poppe.de/interview.html): Sie leistet mit ihrem Buch Aufklärungsarbeit über das, was in Torgau geschah und öffnet damit dem jugendlichen Leser die Augen über ein Stück DDR-Historie, das häufig tabuisiert wurde und wird. Vor diesem Hintergrund ist das Buch als zeitgeschichtlicher Roman mit unübersehbarem geschichtsdidaktischen Anspruch zu betrachten. Die geschichtliche Aufklärung erfolgt aber nicht mahnend oder belehrend, sondern durch die schonungslose Offenheit, mit der von den auf Tatsachen beruhenden Verhältnissen in Torgau erzählt wird, beispielsweise in einer Szene, in der Anja gezwungen wird, die aus Ekel erbrochenen Milchnudeln wieder aufzuessen. Diese schonungslose Offenheit ist sicher die größte Stärke des Romans – neben seinen intertextuellen Bezügen zum Kinofilm E.T. und zu Rilkes Gedicht Der Panther. Beide fungieren als Symbole: der Panther für die Gefangenschaft der Protagonistin, der Außerirdische für ihre Einsamkeit und ihr Heimweh.
Kritisch anzumerken ist aber, dass sich die Darstellung einem starken Täter-Opfer-Topos verhaftet zeigt, einem Stereotyp, das sich in vielen Texten der Kinder-und Jugendliteratur zu Mauerfall und Wende findet, wie Carsten Gansel herausgearbeitet hat (vgl. Gansel 2010, S. 36ff). Die jugendlichen Opfer stehen den bösen Tätern gegenüber, die ihre Repräsentation in den Erziehern finden. Eine differenziertere Figurenzeichnung wäre wünschenswert gewesen – und täte dem Anliegen des Textes, die Grausamkeiten von Torgau authentisch und realitätsnah abzubilden, gewiss keinen Abbruch, im Gegenteil: Der Einblick in die "Täterperspektiven" (vgl. zum Begriff in Bezug auf die KJL zum Nationalsozialismus Zimmermann 2011) hätte die Darstellung noch authentischer und glaubwürdiger wirken lassen.
Fazit
Das Buch rüttelt auf, macht nachdenklich – und wütend. Im Kontext der KJL zu Mauerfall und Wende handelt es sich bei Weggesperrt insofern um ein besonderes Buch, als dass es ein Thema aufarbeitet, das bisher von der Jugendliteratur gänzlich ausgeblendet wurde. Sicher ist dies der Grund, weshalb der Roman im Jahr 2010/2011 als Prüfungslektüre für den Mittleren Bildungsabschluss in Baden-Württemberg ausgewählt wurde. Denn Weggesperrt leistet eindringliche Aufklärungsarbeit über ein Stück oftmals verdrängter DDR-Geschichte.
Literatur
- Interview mit Grit Poppe unter http://www.grit-poppe.de/interview.html (19.11.2013).
- Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Dettmar, Ute/Oetken, Mareile (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder– und Jugend) Literatur und Medien. Heidelberg: Winter 2010. S. 17-50.
- Zimmermann, Holger: "Blumen für den Führer" – Kinder und Jugendbücher aus der Täterperspektive. In: kjl& m 2011.3. S. 31-38.
- Name: Poppe, Grit