Inhalt

Anna kann es kaum glauben: Sie soll auserwählt sein? Sie soll der "Kühne Kämpfer" (S. 52) aus der Prophezeiung sein, der das Land-auf-der-anderen-Seite von Evil dem Fürchterlichen erlösen wird? Warum gerade sie? Sie hatte zuvor "noch nie von einer Heldin gehört, die erst 10 Jahre alt war und nicht mal mehr sehr groß für ihr Alter" (S. 64). Außerdem ist Anna auch nicht besonders mutig.

Schuld daran ist der alte Handspiegel, den sie auf dem Weg zum Supermarkt zufällig gefunden hat.  Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein harmloser, etwas kitschiger beidseitiger Spiegel, der Anna an verwunschene Prinzessinnen in Märchen erinnert, der sich jedoch als ganz und gar nicht harmlos entpuppt. Denn als Anna hineinblickt und ihn umdreht, verändert sich plötzlich alles um sie herum und sie findet sich in einer Parallelwelt wieder, dem Land-auf-der-anderen-Seite. Doch die Menschen in diesem Land leben in großer Angst, denn das Böse in Gestalt von Evil dem Fürchterlichen hat eine Dunkelheit über die Steine und das Wasser, die Pflanzen und die Tiere und zuletzt auch über die Menschen gelegt. Die Einwohner eines kleinen Dorfes sind die letzten Menschen, die sich der Dunkelheit Evils bisher entziehen konnten und die noch nicht zu Häschern, zu seinen Geschöpfen ohne Herz und Gefühle, geworden sind. Die letzten Verbliebenen erwarten nun "schon seit undenklichen Zeiten" (S. 124) den "Der-durch-den-Spiegel-kommt" (S. 42), der die Prophezeiung erfüllt. Und so kommt es, dass Anna, obwohl sie "so normal und so durch und durch durchschnittlich" (S. 12) ist, mit ihren Gefährten, dem Bauernjungen Rajún und dem kleinen Kaninchen, loszieht und einen gefährlichen Weg auf sich nimmt. Er führt sie durch den Wald ohne Wiederkehr, in eine Wüste und in das Liebliche Land sowie über wandernde Wege bis zu den Bergen des Bösen, denn sie muss "bewaffnet mit nichts als [ihrem] Mut" (S. 78) den Kampf gegen Evil aufnehmen, um das Land-auf-der-anderen-Seite zu befreien und um in ihre eigene Welt zurückzukehren.

Kritik

Das Kinderbuch Der durch den Spiegel kommt von Kirsten Boie erschien 2001 erstmals im Oetinger Verlag und wurde dort 2010 neu veröffentlicht. Neben ihrem ersten Buch Paule ist ein Glücksgriff (1985) und zahlreichen anderen Werken erreichte die Autorin Kirsten Boie, die in DIE WELT als "Deutschlands wichtigste Kinder- und Jugendbuchautorin" bezeichnet wurde, mit Der durch den Spiegel kommt einen weiteren Erfolg. Das Kinderbuch erhielt einige Auszeichnungen, unter anderem wurde es im Jahr 2001 für den Deutschen Bücherpreis nominiert und von FOCUS in die Liste "Die besten 7 Bücher für junge Leser" gewählt.

Die vorliegende Rezension fußt auf der gebundenen Erstausgabe des Werkes, die 237 Seiten umfasst und in 40 Kapitel unterteilt ist. Dies ermöglicht ein kindgerechtes Lesen sowohl durch die Unterteilung in kurze Kapitel, die meist keine zehn Seiten umfassen, als auch durch das handliche Seitenformat und die große Schrift. Die visuelle Gestaltung des Buches, realisiert von Dorothea Göbel, beschränkt sich auf den ausdrucksstarken Bucheinband sowie die ansprechenden Vignetten zu Beginn eines jeden Kapitels. Der in den Komplementärfarben Blau und Gelb gestaltete Bucheinband sticht hervor, wobei sowohl die Abbildung im als auch der Titel des Werkes in Gelbtönen, der Hintergrund dagegen in Blautönen gehalten wird. Vorder- und Hintergrund heben sich entsprechend voneinander ab, es scheint geradezu, als blicke Anna aus dem Spiegel auf die Dorflandschaft, die im Hintergrund zu sehen ist. Die Ausgestaltung der Vignetten, die inhaltlich Aspekte aus dem nachfolgenden Kapitel aufgreifen und zu Beginn eines jeden Kapitels zu finden sind, ist formal angelehnt an die Covergestaltung und kombiniert Grautöne mit einem Gelbton, der wiederum mit dem Cover korrespondiert.

Die Erzählstruktur der Geschichte ist in eine Rahmen- sowie eine Binnenhandlung gegliedert. In der kurzen Rahmenhandlung, die sich in kursiver Schreibweise von der Binnenhandlung abhebt, wird in personaler Erzählweise beschrieben, wie zu Beginn die Figur Der-über-den-Wolken-wohnt das kleine Kaninchen auf die Erde schickt, um den Auserwählten zu finden und ihm den Spiegel zu überbringen. Diese Figur nimmt eine göttliche Position ein, wie bereits der Name suggeriert, und wacht über die Geschehnisse auf der Welt. Im letzten Abschnitt, nach der Erfüllung der Prophezeiung und der Rückkehr Annas, schaut er mit einem Lächeln auf die Erde herab.

Die Binnenhandlung, die Haupthandlung, wird von Anna aus einer autodiegetischen Erzählperspektive heraus erzählt: Sie selbst ist es, die ihre Geschichte vom Abenteuer im Land-auf-der-anderen-Seite erzählt: "Wenn ich jetzt meine Geschichte erzähle, wird niemand mir glauben. […] Keinem ist jemals so etwas Ähnliches passiert, nur mir, ausgerechnet mir" (S. 9).

Die einfache, bildreiche Wortwahl und die kurzen Sätze verleihen dem Text einen kindlichen Ausdruck und lassen die Protagonistin in ihrer Lebenswelt realistisch und glaubhaft wirken. Zudem wird die Hauptfigur nicht als etwas Besonderes beschrieben, sondern als ziemlich 'normal'. Dass Anna niemand Besonderes und deshalb auch keine typische Heldin ist, wird deutlich, wenn sie sich die Frage stellt, weshalb gerade sie in das Land-auf-der-anderen-Seite geschickt wurde, obwohl sie "beim Völkerball alle nur mittelgerne in ihrer Mannschaft haben wollen" (S. 12) und sie weder schlau noch besonders groß und mutig ist. Ihre Normalität ermöglicht eine hohe Identifikation des Lesenden mit der Protagonistin und erleichtert es, Sympathie zu der Figur aufzubauen. Mit der Aussage: "Auf einmal findet man einen Spiegel, und schon muss man eine Heldin sein." (S. 12) macht Anna zudem deutlich, dass sie nicht gerade abenteuerlustig ist, sich nicht viel zutraut und lieber, wie gewöhnlich, mit ihrer besten Freundin spielen würde. Unsicherheit und Angst der Protagonistin sind zentrale Themen der Geschichte und verleihen der zehnjährigen Heldin Glaubwürdigkeit.

Die einfühlsame Erzählweise über Annas Gefühle lassen sie für den Lesenden  nah und wirklich werden. Somit wird der Leserschaft in diesem Kinderbuch nicht nur auf einen abenteuerlichen Weg durch das Land-auf-der-anderen-Seite mitgenommen, sondern man erlebt auch eine Reise in die Gefühlswelt der Protagonistin mit, die allen Hindernissen zum Trotz ihr Ziel nicht aus den Augen verliert und zunehmend entschlossener und mutiger werdend an ihrer Aufgabe wächst.

Fazit

Der Autorin Kirsten Boie gelingt eine wunderbare Verbindung zwischen einer realistischen Protagonistin und einer fantastischen Märchenwelt. Dabei schafft sie es, in den lebhaft geschilderten Szenarien eine durchweg fesselnde Atmosphäre zu schaffen und den Lesenden auf eine Reise voller fantastischer Abenteuer mitzunehmen. Die Geschichte zeigt, dass man nichts Besonderes sein muss, um mutig und tapfer eine schwierige Aufgabe zu lösen. Die Geschichte lehrt den Lesenden zudem, dass es trotz Hindernissen im Leben "manchmal nicht weiterhilft zu fragen", sondern zu handeln und "zu tun, was getan werden muss" (S. 12). Das Buch ist aufgrund der einfachen Erzähl- und Ausdrucksweise empfehlenswert für Kinder ab zehn Jahren.

Titel: Der durch den Spiegel kommt.
Autor/-in:
  • Name: Boie, Kirsten
Illustrator/-in:
  • Name: Dorothea Göbel
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2001
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7891-3183-7
Seitenzahl: 272
Preis: 14,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Boie, Kirsten: Der durch den Spiegel kommt