Inhalt
Öde und langweilig erscheint die Englischstunde der Klasse 4SV am Montagmorgen bis zu jenem Augenblick, als der Direktor den Schülern Tommy MacAdam vorstellt: "Denkt daran: An der Colliery Primary bemühen wir uns, neue Mitglieder freundschaftlich aufzunehmen. Seid also nett und hilfsbereit." (S. 10) Alle starren sprachlos nach vorn. Selbst die lebhaftesten Jungen, wie Doogal und Dumisani, lassen ihre Jokes sein. Da steht er. Tommy. Der Neue. Die Mütze. Diese hat er übers ganze Gesicht gezogen, nur braune Augen lässt sie frei. Selbst beim Sport und Mittagessen gibt sie mehr nicht preis.
Auch, wenn das Tragen der Skimütze Tommys eigene Sache ist, brennen doch alle Schüler darauf, zu sehen, was unter der Mütze steckt. Sie einfach vom Kopf zu reißen, wäre unhöflich und gemein. Immerhin entpuppt sich Tommy als Torschützenkönig der Schule. Um dennoch dem Rätsel 'Mütze' auf die Spur zu kommen, versucht man es mit Psychologie und Spionage oder stellt sich Fragen wie: Hat Tommy vielleicht Brandnarben? Ist er Mitwisser eines Mordes und steckt in einem Zeugenschutzprogramm? Oder hat er gar Krebs?
Nachdem die Klasse versucht hat, eine Attacke auf Tommy abzuwehren, hält sie für ihn eine Überraschung bereit. Auch Tommy überrascht. Am Freitag, dem Tag der Schülerreferate, will er sein Geheimnis lüften. Dumisani wird ihm dabei helfen. Doch als es soweit ist, trauen alle Schüler ihren Augen nicht . . .
Kritik
Lustig und lebhaft geht es in der Klasse 4SV der Colliery Primary zu, die sich durch Witze reißen, Briefchen schreiben oder Lehrer 'ärgern' von einem als sterbenslangweilig empfundenen Unterricht abzulenken sucht. Nicht nur diese Klassenatmosphäre wird jedem Leser bekannt sein und ihn zum Schmunzeln bringen, auch das Vergeben von Spitznamen unter Schülern und für Lehrer hat die südafrikanischen Autorin Jenny Robson treffend in ihrer kleinen Erzählung eingearbeitet. In elf Kapiteln, die eine Schulwoche von Montag bis Freitag abdecken, gewährt der Grundschüler Doogal einen humorvollen und glaubwürdigen Einblick in das Leben seiner Klasse und Schule sowie deren Umgang mit dem Anderssein. Da kommt ein Neuer – Tommy – in die Klasse und keiner vermag ihn optisch zu identifizieren, weil er stets eine Ganzkopfmütze trägt. Zudem bittet der Schuldirektor um Nachsicht und Verständnis für Tommy. Also bleibt nur zu spekulieren oder handfeste Pläne zu schmieden, um aufzudecken, warum jener immer vermummt ist. Zwar bringt keine Aktion Resultate, die Klasse 4SV schließt 'Mütze' trotzdem schnell in ihr Herz, denn er ist ein ausgezeichneter Torschütze, mit dem die Klasse zum Gewinner der Pausenfußballspiele avanciert. Dass er nicht der ausgeschlossene Neue ist, wovor Tommy selbst die meiste Angst hatte, da er schon auf mehreren Schulen war, beweisen ihm seine Klassenkameraden nicht nur, als größere Schüler ihn gewaltsam enttarnen wollen. Auch durch eine geniale Überraschung bekennen sie sich geschlossen zu ihrem Kumpel, den sie in südafrikanischer Manier New Bru nennen.
Nach der Lektüre von Tommy Mütze könnte man glauben, dass Tommys Maskerade ihn im Grunde genommen prädestiniert, der markierte, im Extremfalle ausgeschlossene Neue zu sein. Doch diese macht ihn gerade nicht zum Außenseiter, sondern lässt ihn für seine Klasse interessant werden. Sie gibt Rätsel auf, die jene aus dem als öde empfundenen Unterricht und Alltag reißen. Auch wenn die Fragen zu seinem Gesicht und dessen Verhüllung stets präsent bleiben, zeigen seine Mitschüler, dass sie ihn wegen seiner fußballerischen Fähigkeiten und gelassenen, umgänglichen Art schätzen. Sie sind sich einig, dass niemand wegen seiner (äußerlichen) Eigenheit/en diskriminiert oder gar malträtiert werden darf.
Zwar liegt die Erfahrung der Apartheidpolitik, die Jenny Robson miterlebt hat, Tommy Mütze zugrunde, aber sie spielt für das Verständnis dieser dialogreichen, amüsanten Geschichte keine essentielle Rolle. Die vielen, für den deutschen Leser außergewöhnlichen Namen der Schüler lassen erahnen, dass diese facettenreiche Herkünfte aufweisen, doch Robson lässt (durch) Doogal an keinem Punkt verlauten, dass deren Identitäten an eine Hautfarbe, Ethnie, Religion etc. geknüpft und durch diese bestimmt sind oder gar auf diese reduziert werden können. Solche Identitätskategorien spielen, auch bei der Vergabe der Spitznamen, in dieser verständlich geschriebenen und erzählperspektivisch glaubwürdig gestalteten Story keine Rolle. Schön ist, dass eine solche reduzierende Zuordnung ebenso wenig durch den Buchumschlag bedient wird: Er zeigt auf hellgrünem Hintergrund dunkelgrün skizzierte Kindergesichter, die alle verschieden sind – unter ihnen auch eines mit orange-roter Ganzkopfmütze. Diese Covergestaltung weckt nicht nur sofort das Leserinteresse, die Geschichte selbst bleibt bis zum Schluss sowohl lustig als auch spannend.
Auch wenn die Grundschüler der 4SV sich ständig auf den Arm nehmen oder Späße mit ihren Lehrern treiben, vermittelt ihr Verhalten dem Leser – gleich ob dieser selbst eine multikulturelle/-ethnische Klasse besucht oder in einer solchen Gesellschaft lebt oder nicht: Die/der Andere ist als Mensch zu achten, unabhängig von ihrem/seinem Aussehen, Alter, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus, unabhängig von ihrer/seiner Hautfarbe, Ethnie, Kultur oder Religion etc.
Fazit
Mit Tommy Mütze, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2013 nominiert wurde, schaut Jenny Robson in eine Grundschule Südafrikas hinein, die genauso die eines jeden anderen Landes sein könnte, und zeigt, wie mit Alterität auf amüsante Art und Weise respektvoll umgegangen werden kann. Da die Protagonisten Grundschüler sind, eignet sich die kurze Erzählung zum Selbstlesen ab dem achten Lebensjahr, empfohlen wird sie außerdem für all jene, die sich manchmal schwer haben, menschlich angemessen mit Andersheit umzugehen und Vielfalt zu akzeptieren.
- Name: Robson, Jenny
- Name: Barbara Brennwald