Inhalt 

Schauplatz: Ostberlin, Hauptstadt der DDR, in den 1980er Jahren: Der zwölfjährige Paul lebt mit seiner liebevollen Großmutter und seinem Onkel Henri zusammen, nachdem seine Eltern bei einem gescheiterten Fluchtversuch verhaftet wurden. Der Schock ist groß, als er erfährt, dass seine Eltern von der BRD freigekauft wurden und dort ein neues Leben begonnen haben. Paul kann es einfach nicht fassen: Wollen sie wirklich ohne ihn leben? Für ihn ist das alles unbegreiflich. Die traumatische Zeit, die er nach der Verhaftung der Eltern im Kinderheim in Rostock verbrachte, bevor seine Großmutter ihn endlich dort ausfindig machte, hat er noch nicht verarbeitet. Doch dann beginnt das Leben im Hier und Jetzt ihn mehr und mehr zu vereinnahmen, vor allem, als er eine neue Mitschülerin bekommt, mit der er sehr schnell ein Herz und eine Seele ist: Milena Schonriegel, genannt Millie aus Cottbus mit sehr dunkler Haut, durch die sie "nicht gerade wie die typische Cottbusserin aussieht" (S. 43). Ihr Vater arbeitet als Beleuchter im Theater am Schiffbauerdamm, die Mutter ist Kubanerin und vor einiger Zeit in ihr Land zurückgekehrt. Sie bietet Paul gleich an, ihn mal mit ins Theater zu nehmen. Das möchte Paul gern, wobei er eine ähnlich spannende Einladung für Millie parat hat: Sein Onkel Henri arbeitet nämlich, seitdem er sein Archäologie-Studium aus für Paul unerfindlichen Gründen aufgegeben hat, als Nachtwächter im Pergamonmuseum auf der berühmten Berliner Museumsinsel. Und damit nicht genug der prominenten Berlin-Schauplätze: Pauls Oma ist Klofrau im Hotel Metropol. Ihre Arbeit in der Bibliothek hat sie verloren. Die Gründe kennt Paul nicht, für den erwachsenen Leser liegen sie auf der Hand. Gemeinsam mit Millie und in Begleitung von deren Nachbarhund Herrn Hurtig, einem extrem hässlichen Mischling aus Jagdhund und Zwergpudel, erlebt Paul nun ein spannendes Abenteuer im Pergamonmuseum, wo äußerst merkwürdige Dinge vor sich gehen. Paul und Millie hören dort nachts sonderbare  Geräusche, ganz oben im Depot, als sie den Onkel zu nächtlicher Zeit im Museum besuchen. Sind dort etwa Einbrecher unterwegs? Der detektivische Spürsinn der Kinder ist sofort entfacht. Die Neugier wird noch größer, als sie im Museum einen vermeintlichen Einbrecher entdecken, den Onkel Henri dann aber als Professor ausgibt, dem er bei einer wissenschaftlichen Entdeckung helfe. Angeblich verbirgt ein Hieroglyphenstein des aus Mesopotamien stammenden Ischtartors, der im Pergamonmuseum ausgestellt ist, ein Geheimrezept für die ewige Jugend. Während der erwachsene Leser gleich ahnt, dass der Onkel hier flunkert, sind die beiden kindlichen Detektive Feuer und Flamme. Doch nach und nach enthüllt sich das wahre Geheimnis von Onkel Henri, Pauls Großmutter und seinen Eltern. Und das hat verdammt wenig mit dem Ischtartor, dem Hieroglyphenstein und ewiger Jugend zu tun. Vielmehr geht es um Stasi-Machenschaften, Bespitzelungen und Bedrohungen, der die Familie nach der Flucht der Eltern ausgesetzt ist. Auch Millies Vater ist in die Geschichte verstrickt, denn er entpuppt sich als Stasi-Funktionär. Onkel Henri wird verhaftet, die heimische Wohnung durchsucht – offensichtlich hat ihn jemand verraten. Die Freundschaft zwischen Millie und Paul droht zu zerbrechen, als Millie sich als die Verräterin herausstellt, weil ihr Vater sie unter Druck gesetzt hat. Pauls liebevolle Großmutter vermittelt schließlich zwischen den beiden Kindern und verdeutlicht ihrem Enkel, dass Millie unter Druck gehandelt hat. Schlussendlich begreift Paul, dass sein Onkel und seine Großmutter heimlich versucht haben, ihm die Ausreise zu seinen Eltern in den Westen zu ermöglichen. Der Plan geht auf, aber Pauls Gefühle sind ambivalent: Was ist, wenn seine Eltern ihm fremd geworden sind? Und der Abschied von Onkel Henri, Oma und Millie ist unerträglich schmerzhaft. Denn vom bevorstehenden Mauerfall ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand was....

Kritik

Die hier angesprochene Ambivalenz Pauls, nämlich die widersprüchlichen Gefühle bei seiner Ausreise, sind eines von vielen Indizien, die auf die Feinsinnigkeit der Figurenkonzeption in diesem DDR-Kinderroman verweisen, der ihn zu einer wahren Perle der Mauerfall-KJL macht. Mit dieser differenzierten Figurenzeichnung gelingt es der Autorin, die sonst so häufig in der Mauerfall-KJL vorkommenden Stereotypisierungen und Klischees zu umschiffen. Es wird kein stereotypes Negativbild vom Leben in der DDR gezeichnet, denn für den kindlichen Protagonisten sind es vor allem die liebgewordenen Menschen, die seine Heimat kennzeichnen (ähnlich ist das bei Lilly unter den Linden von Anne C. Voorhoeve) – ihm geht es nicht um die Gegenüberstellung von Ost und West, sondern um seine Familie:

Abends, wenn er allein auf der Couch lag und nicht einschlafen konnte, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf: Und was ist, wenn sie dir inzwischen fremd sind? Was ist, wenn ihr euch nicht mehr versteht? Zu Oma und Onkel Henri kannst du nie mehr zurück! Paul wusste schon jetzt, wie sehr sie ihm fehlen würden. Ihm war plötzlich so klar, sie waren in diesen anderthalb Jahren, in denen sie zusammengelebt hatten, genauso seine Familie geworden wie Mama und Papa (S. 242)

Die Erzählerin verzichtet darauf, die Eltern als Negativfiguren auszustaffieren, wie es sonst häufig in der Mauerfall-KJL für junge Leser der Fall ist. Dafür muss die Lehrerin Frau Götze, von Paul heimlich "Frau Kotze" (S. 35) genannt, als Feindbild herhalten, das allerdings nicht besonders hochstilisiert wird, da die Lehrerin nur eine Randfigur ist, die sich dann auch jedes Kommentars enthält, als Paul schließlich in den Westen ausreisen darf.

Humoristische Elemente bereichern die Romanhandlung u.a. durch die herrlich liebevoll gezeichnete Oma von Paul, "die netteste und mutigste Großmutter, die man sich vorstellen konnte" (S. 11), eine Kettenraucherin, die ihre fleischfarbenen Unterhosen nach draußen hängt, um die vor der Tür lauernden Stasi-Männer zu provozieren. Diese Oma hat der Leser in kürzester Zeit so lieb, dass der Abschied von ihr am Ende regelrecht schmerzt und man sich beinahe wünschte, Paul möge in der DDR bleiben.

Einzigartig ist das Buch auch deshalb, weil die historischen Hintergründe eher nebenbei thematisiert werden und der geschichtsdidaktische Impetus so nicht so offensichtlich wird. Im Fokus der Handlung steht die Freundschaft zwischen Paul und Millie, zudem entwirft der Roman eine spannende Detektivgeschichte – so ist das Buch mehr Freundschafts- und Detektivroman, der das zeitgeschichtliche Thema als Kulisse für die Narration nutzt. Gerade diese Erzählweise dürfte kindlichen Lesern die DDR-Thematik näherbringen, die ihnen durch den historischen Abstand sonst häufig fremd ist. 

Interessant ist darüberhinaus die Darstellung von Ostberlin: Mit der Museumsinsel, dem Alex, dem Hotel Metropol und dem Theater am Schiffbauerdamm sind zentrale Referenzpunkte geschaffen, die die Handlung strukturieren und ihr erfreulichen Lokalkolorit verleihen. Sie ermöglichen dem mit Berlin vertrauten Leser Orientierungspunkte und Wiedererkennungsmomente. In der Buchklappe befinden sich Karten vom Pergamonmuseum und dem geteilten Berlin, die dem Leser helfen, die Roman-Schauplätze innerlich zu "kartographieren".

Fazit

Wer mit seinem Kind ab etwa 10 Jahren über Deutschlands jüngere Geschichte und die DDR sprechen will, ihm zudem ein lustiges, spannendes und gut konstruiertes Detektivabenteuer mit liebenswerten Figuren anbieten möchte, dem sei Im Labyrinth der Lügen wärmstens empfohlen. Endlich mal ein gehaltvolles, literarästhetisch gelungenes Kinderbuch zur DDR-Geschichte!

Titel: Im Labyrinth der Lügen
Autor/-in:
  • Name: Krause, Ute
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2016
Verlag: cbm Random House
ISBN-13: 978-3-570-17292-6
Seitenzahl: 287
Preis: 14,99 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Krause, Ute: Im Labyrinth der Lügen