Inhalt

Alles beginnt mit einem Unfall oder, wie es im Text heißt, mit einer schlimmen Nachricht, die im Rückblick zu dem schönsten Sommer führt, den die Geschwister Martha, 12 Jahre alt, Mikkel, etwa 7 Jahre alt, und Mats, 4 Jahre alt, bei ihrer Großmutter erleben. Sie müssen erfahren, dass ihre Mutter einen Unfall in New York hatte, ihr Vater zu ihr fliegen muss und die Kinder nicht ohne erwachsene Aufsicht in Hamburg bleiben können. Also bringt Annika, die beste Freundin der Eltern, die Kinder zu ihrer Großmutter. Aber hier liegt das Problem: Die Kinder kennen sie gar nicht, denn die Eltern sprechen seit acht Jahren nicht mehr miteinander. Die Oma lebt am Rande der Welt, genauer auf einer Landzunge an der Ostsee. Einen wirklichen Weg zu ihrem Haus gibt es nicht, die Kinder müssen mit Koffern über eine Wiese voller Kuhfladen laufen und lernen eine Oma kennen, die keineswegs großmütterliche Züge hat. Sie nimmt die Kinder auf, lässt ihnen Freiheiten, die sie so nicht kennen, dennoch fühlt sich vor allem Martha eingeschränkt, die am Anfang ihrer Pubertät steht. Im Hause gibt es weder Internet noch Telefon noch einen Fernseher. Die Brüder fügen sich ein, Mikkel ist begeistert von den Tieren und auch Mats, der seine Großmutter konsequent Frau Oma nennt, fühlt sich wohl und schimpft nur ab und zu. Lediglich Martha, die verantwortlich für die Brüder ist, kann sich nicht entspannen. Sie vermisst nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre beste Freundin, die auf den Malediven schnorchelt und immer wieder neue Bilder auf WhatsApp oder Instagram veröffentlicht. Nur langsam gewöhnt sich Martha an ein Leben ohne Digitalisierung, entdeckt den Bücherschrank der Großmutter und zugleich den Reiz des Lesens, freundet sich mit dem Landleben an und erlebt schließlich gemeinsam mit ihren Geschwistern das größte Abenteuer ihres Lebens.

Kritik

Kirsten Boie gehört zu den renommiertesten deutschsprachigen Kinderbuchautorinnen der Gegenwart und ihre Kinderromane überraschen immer wieder aufs Neue. Mit Ein Sommer in Sommerby hat sie einen Ferienroman geschrieben, der in der Tradition des Lindgrenschen Werkes - hier insbesondere Ferien auf Saltkrokan - steht und dennoch ein Roman des 21. Jahrhunderts ist. Einerseits ist es eine Geschichte über unterschiedliche Lebensentwürfe, andererseits ist es ein Buch über Entschleunigung und die Frage, wie viel Digitalisierung man im Leben braucht. Die Kinder lernen bei der Großmutter ein neues, ein anderes Leben kennen. Es ist nicht nur die fehlende Digitalisierung, die Martha zunächst erschüttert, sondern auch das Verhalten der Großmutter: Sie gibt ihren Enkeln Freiräume, lässt sie, trotz Ostseenähe, unbeaufsichtigt draußen spielen und überlässt ihnen sogar das Boot. "Es ist ihr egal, wenn er [Mats] ertrinkt", (S. 65) denkt Martha und ist immer wieder entsetzt, wie unbesorgt die Großmutter ist. Zudem müssen die Kinder im Haushalt helfen, Kartoffeln schälen und Geschirr abtrocknen. Die Schroffheit der Großmutter überrascht in dem Kinderbuch, denn die Oma entspricht keineswegs dem großmütterlichen Typ, der die Enkelkinder verwöhnt. Vielmehr nimmt sie sie als verantwortliche Wesen wahr, die aus ihren Fehlern lernen sollen. Das alles kennen sie von Zuhause nicht und Marthas Kommentare sowie Gedanken deuten die unterschiedlichen Erziehungsmethoden an. Der Verhandlungshaushalt mit einer vorsichtigen Mutter in der Stadt mit eingeschränktem Radius, aber guten Manieren auf der einen Seite, die Freiräume der Großmutter und zugleich die Verpflichtung zur Hilfe im Haushalt auf der anderen Seite. Aber die Kinder werden selbstständiger und können sogar dann der Oma helfen, als diese mit Hexenschuss im Bett liegen muss.

Behutsam wechselt im Roman die Perspektive. Mal lernt man Marthas Gefühle kennen, ihre Gedanken und ihre Perspektiven werden wiedergegeben, um dann zu einem heterodiegetischen Erzähler mit einer externen Fokalisierung zu schwenken und Spannung aufzubauen. Mit Martha begegnet man einer Figur, die zwischen den Stühlen steht: Sie befindet sich auf der Schwelle zur Pubertät, entdeckt ihr Verantwortungsgefühl und setzt sich, wenn ihre Großmutter wieder schimpft, für ihre Brüder ein.

Schließlich trifft Martha den Jungen Enes und hier zeigt sich, dass Boie die Nebenfiguren ernst nimmt und sie detailreich ausschmückt. Enes ist "Türke". Schnell verbessert sich Martha, denn man sagt "ein Mensch mit türkischem Migrationshintergrund" (S. 137). Hier blitzt die Ironie auf, die sich, wie noch gezeigt wird, immer wieder im Roman findet. Aber nicht nur das: Enes spricht fließend Plattdeutsch, was Martha nicht kennt und zunächst für Türkisch hält. Mit einer Selbstverständlichkeit lässt Boie hier eine Kleinfamilie mit türkischen Wurzeln auf einer Ostseeinsel arbeiten, ohne Integration oder Migration zu thematisieren und dennoch zu zeigen. Auch das ist (noch nicht) selbstverständlich im deutschsprachigen Kinderbuch.

Aber Boie wirft auch einen ironischen Blick auf die städtische Landlust-Generation, die bestimmte Bilder vom Landleben konstruiert. Diese bringen vor allem der Großmutter ein gutes Einkommen, denn sie kocht Marmelade ein, versieht diese mit einem Aufkleber "mit dem Leuchtturm" und seitdem "kaufen die Leute wie verrückt" (S. 139). Dass Landlust-Romantik und das ländliche Leben im Widerspruch stehen, lernt Martha schnell: Die Großmutter besitzt keine Töpfe aus Emaille oder schöne Geschirrtücher, wie sie sie aus den Zeitschriften ihrer Mutter kennt, sondern braucht das auf, was da ist. Doch Martha lässt sich nicht einschüchtern und empfiehlt einem Nachbarn, der Holzfiguren schnitzt, einen Internetauftritt, denn die Menschen in Hamburg würden "richtig viel Geld bezahlen" (S. 257) für seine Holzfiguren. Doch auch hier beißt Martha auf Granit, denn der Mann möchte gar nicht Geld verdienen, sondern sucht Ruhe und Entspannung in seiner Arbeit. Solche Aussagen leiten zu einem weiteren Thema des Romans über, denn es geht auch um die Frage, ob Geld glücklich macht oder nicht. Marthas Eltern sind Börsenmakler, was Enes' jüngere, aber kluge Schwester Dilara mit kindlicher Naivität sofort hinterfragt. Als Mats ihr erklärt, dass seine Mutter Geld an der Börse verkauft, reagiert Dilara wie folgt:

"Ha, ha, ha!", sagt Dilara und tippt sich an die Stirn. "Wie soll das denn gehen? Da kann man doch kein Geld verdienen! Ich verkauf dir drei Euro, und du gibst mir dafür vier Euro? Das ist ja Quatsch! Da sind die Leute in New York aber dumm!" […] "Das ist ja ein Euro mehr! Wetten, das bezahlt dir keiner?" (S. 140)

Mikkel ahnt, dass er seinen Vater erneut zu seinem Beruf befragen muss. Die Skepsis gegenüber Geld teilt die Großmutter mit Dilara, denn auch sie braucht nicht viel, um zu leben. Obwohl ihr von Maklern immer wieder Geld für ihr Grundstück angeboten wird, bleibt sie stur, verkauft nicht und lebt ein Leben ohne moderne Medien.

Auch sprachlich überzeugt der Roman, denn Boie gibt den Figuren eine individuelle Sprache, lässt vor allem Mats als den klugen Vierjährigen auftreten, der die Wörter verdreht und Dinge hinterfragt.

Fazit

Kirsten Boie versteht es, Probleme in ihren Kinderromanen zu entfalten, ohne diese zu problematisieren oder zu didaktisieren. Hier liegt auch die Stärke ihres aktuellen Romans: Martha lernt nach und nach ohne die virtuelle Welt zu überleben, hinterfragt Verhaltensmuster ihrer Freundinnen und wird ähnlich wie ihre Brüder selbstständiger. Aber damit ist es nicht nur ein Roman für Leserinnen und Leser ab 10 Jahren, sondern auch für Erwachsene, die insbesondere an der Mehrfachcodierung des Textes viel Lesefreude haben werden.

Titel: Ein Sommer in Sommerby
Autor/-in:
  • Name: Boie, Kirsten
Illustrator/-in:
  • Name: Verena Körting
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7891-0883-9
Seitenzahl: 320 Seiten
Preis: 14,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Boie, Kirsten: Ein Sommer in Sommerby