Inhalt

Vincent ist anders als seine draufgängerischen Mitschüler: Er ist Einzelgänger und spricht in Gedanken mit seinen tierischen imaginären Freunden, einem Fohlen, einem Käfer, einem Wurm und einem Eichhörnchen. Sie geben ihm in schwierigen Situationen wertvolle Ratschläge und vermitteln ihm das Gefühl, nicht gänzlich allein zu sein. Vincent vertieft sich in Tipps zum Überleben in der Wildnis aus seinem Survival-Handbuch und stellt sein eigenes Survival-Kit zusammen. Einem anderen Überlebenskampf ist er jedoch bereits tagtäglich in der Schule ausgesetzt. In seiner Fantasie ist er stark und mutig wie ein Actionheld und malt sich aus, wie er seine Peiniger bekämpft.

Die Lage scheint recht aussichtslos für ihn zu sein, auch ein früherer Versuch, Vincents Situation durch eine Therapie zu verbessern, schlug fehl. Die Therapeutin konfrontierte Vincent mit der Frage, warum die anderen ihn mobben. In Anbetracht der Brisanz der Lage – die Mitschüler treten Vincent in den Bauch, werfen ihn in den Dreck, zerstören seine Habseligkeiten – scheint diese Frage allerdings sehr fehl am Platz zu sein. Ihm ist wenig damit geholfen, die Motivation der Taten der anderen bei sich zu suchen. Der empfindsame Junge merkt selbst, dass seine Situation seine Eltern in Besorgnis versetzt und schweigt deshalb, um sie nicht traurig zu machen oder sie zu beunruhigen. Vincents Standing in der Klasse wandelt sich jedoch, als seine neue Mitschülerin Jacqueline, genannt „Die Jacke“, in die Klasse kommt. Die beiden freunden sich an und Vincent hat endlich jemanden Gleichgesinnten gefunden, mit dem er Zeit in den Pausen und nach der Schule verbringen kann. Als Vincent auf der Klassenfahrt von seinem Mitschüler Dilan mit einem Messer verletzt wird, daraufhin im Wald Unterschlupf sucht und von der Polizei entdeckt wird, ist Jacqueline es, die ihn davon überzeugt, sich endlich zu öffnen und den Erwachsenen anzuvertrauen.

Kritik

In einem Wort könnte man den Protagonisten Vincent als hochsensibel beschreiben, zumindest ist er viel empfindsamer, fantasievoller und kreativer als seine Altersgenossen. Die Autorin beschreibt sehr eindringlich, wie er versucht, dem Mobbing seiner Mitschüler, allen voran den Aktionen des empathielosen Dilan, dadurch zu entgehen, dass er sich in den Pausen in der Nähe der Lehrkräfte aufhält, andere Schulwege einschlägt oder einfach mit einem Vorwand, zum Beispiel Bauchschmerzen oder Fieber zu haben, zu Hause bleibt. Dies verursacht beim Lesen ein sehr beklemmendes Gefühl, zumal man in einer Prolepse auf den ersten Seiten erfährt, dass Vincent bei der Klassenfahrt weggelaufen ist.

Durch die ungewöhnliche Kapiteleinteilung ("Noch 7/6/5/4/3/2 Tage bis zur Klassenfahrt", "Der letzte Tag", "Klassenfahrt", "Überleben", "Alles erzählen") wird ein großer Spannungsaufbau erzeugt. Die jedem Kapitel vorangestellten Auszüge aus Vincents Survival-Handbuch nehmen dem ernsten Thema Mobbing die Schwere. Dank der Schilderung aus der Ich-Perspektive kann man sich als Leserin oder Leser sehr in Vincent einfühlen. Die Sympathielenkung beim Lesen fokussiert sich deutlich auf Vincent und markiert, dass nicht er das Problem ist, sondern seine Mitschülerinnen und Mitschüler. Bis Vincent dies selbst erkennt, vergeht jedoch einige Zeit, in der er sich in Gedanken nur seinen tierischen Freunden anvertraut. Von Dilan erfährt man beispielsweise, dass er selbst eher zurückhaltend und schüchtern war, dann aber einen draufgängerischen, stärkeren Freund fand, und dass seine Mutter ein Alkoholproblem hat, unter dem der Junge offenbar zu leiden hat.

Die Grausamkeit von Dilans Aktionen wird durch Vincents Humor sowie durch die liebevollen Illustrationen von Maartje Kuiper und das zweifarbige Layout aufgefangen. Allerdings kann dies auch eine beklemmende Stimmung erzeugen, denn die ersten Seiten, in denen die Leserinnen und Leser Vincent in seinem Versteck kennenlernen, sind schwarz, die Schrift ist weiß. Man bekommt dadurch das Gefühl, selbst im dunklen Wald auf der Flucht zu sein.

Natürlich stellt sich beim Lesen die Frage, warum Vincent gemobbt wird. Gründe hierfür lassen sich nur erahnen: Seine Eltern sind sehr fürsorglich und auf das Wohl ihres Sohnes bedacht, allerdings haben sie wenig Zeit für ihn, sodass nur die Babysitterin Charlotte nach der Schule für Vincent da ist.

Der einzige Wermutstropfen dieses ansonsten sehr gelungenen Kinderbuchs ist das Ende: Dass Vincent den Polizisten den Tathergang und den Grund für seine Flucht vor all seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern schildert, ist ein wenig unrealistisch und könnte auf kindliche Leser – falls sie sich mit der Hauptfigur identifizieren – eine abschreckende Wirkung haben. Auch wünscht man sich als Leser nach Dilans derart gewaltsamen Übergriff Konsequenzen für sein Handeln.

Fazit

Das überaus gelungene Kinderbuch für Leserinnen und Leser ab neun Jahren behandelt das ernste Thema Mobbing auf vielschichtige, abwechslungsreiche und humorvolle Weise. Die zweifarbigen, pointierten Illustrationen von Maartje Kuiper und die besondere Gestaltung runden die Handlung sensibel ab.
 

Alle Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 im Überblick finden Sie hier (mit weiteren Rezensionen auf KinderundJugendmedien.de)

Titel: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst
Autor/-in:
  • Name: Koens, Enne
Originalsprache: Niederländisch
Originaltitel: Ik ben Vincent en ik ben niet bang
Übersetzung:
  • Name: Andrea Kluitmann
Illustrator/-in:
  • Name: Kujper, Maartje
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Gerstenberg
ISBN-13: 978-3-8369-5679-6
Seitenzahl: 192
Preis: 15,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 9 Jahre
Koens, Enne: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst