Inhalt

Als in der sogenannten Reichskristallnacht brutale SA-Männer die Wohnung des Berliner Anwalts Aaron Landau verwüsten und ihn ohne weitere Erklärungen fortschleifen, wird dem elfjährigen Sohn Josef klar, dass die jüdische Familie im nationalsozialistisch geprägten Deutschland nicht mehr erwünscht ist. Zwar wird der Vater ein halbes Jahr später traumatisiert und seelisch gebrochen wieder aus dem KZ Dachau entlassen, aber nur mit der Bedingung, Deutschland innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Mit einigem Glück gelingt es den Landaus, auf dem riesigen Dampfer St. Louis einen Platz für die Schiffspassage nach Kuba zu bekommen. Doch die anfangs noch überraschend komfortable Seereise entwickelt sich zum Alptraum, als den Passagieren und Passagierinnen in Kuba die Aufnahme verweigert wird. Irgendwann bleibt dem Kapitän nichts anderes als der Weg zurück nach Europa, nach Frankreich, England und Belgien. Ohne ihren Vater, der nach einem Selbstmordversuch in Havanna verblieben ist, gelangt Joseph mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester ins scheinbar sichere Le Mans – bis acht Monate später deutsche Truppen in Frankreich einmarschieren…

1994 erlebt die elfjährige Isabel Fernandez katastrophale Verhältnisse im kubanischen Havanna: Nahrungsmittel sind kaum noch vorhanden, das hungernde, aufgebrachte Volk demonstriert und wird von den Machthabern brutal unterdrückt. Mit einem selbstgebauten, wenig hochseetauglichen Boot wagt sich die Familie Fernandez, darunter Isabels hochschwangere Mutter, gemeinsam mit einer Handvoll Freunden auf die gefährliche Überfahrt nach Florida. Nur wenn sie U.S.-amerikanischen Boden betreten, haben sie eine Chance, als Flüchtlinge aufgenommen zu werden. Es wird ein mörderischer Kampf gegen die Naturgewalten und ein Wettlauf gegen die Zeit, um nicht kurz vor Miami doch noch von der amerikanischen Küstenwache abgefangen zu werden…

Der elfjährige Mahmoud Bishara kennt kaum etwas anderes als Krieg. Seine Heimatstadt Aleppo ist bereits zu großen Teilen zerstört. Als 2015 eine Bombe das eigene Haus demoliert, beschließt die Familie die Flucht ins unendlich ferne Deutschland. In der Türkei, der ersten Station auf ihrem beschwerlichen Weg, müssen sie unter unmenschlichen Bedingungen hausen, bis sie für eine horrende Summe die Überfahrt im überfüllten Schlauchboot von Izmir zur griechischen Insel Lesbos ergattern. Als das Boot nachts kentert, muss Mahmouds Mutter seine kleine Schwester in die Hände von Fremden geben, die auf einem ebenfalls völlig überladenen Boot vorbeikommen. Mehr tot als lebendig erreichen Mahmoud, sein jüngerer Bruder und die Eltern Griechenland. Dort müssen sie lange in einem Auffanglager ausharren, bis sie sich gegen dauernde Widrigkeiten und Schikanen, praktisch ohne Geld und ohne jede persönliche Habe auf den äußerst zermürbenden Weg über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich machen können. Und endlich scheint das gelobte Land Deutschland zum Greifen nahe zu sein…

Kritik

In Vor uns das Meer beschreibt der 1972 in Knoxville, Tennessee geborene Alan Gratz drei Einzelschicksale jugendlicher Flüchtlinge, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Ihre Geschichten werden abwechselnd in episodenhaft kurzen und mit den jeweiligen Namen überschriebenen Kapiteln aufgeführt, die zumeist in typischen Cliffhanger-Situationen enden.

Mahmouds Augenlider zuckten, als er zum Fenster hinausschaute. Er hatte erwartet, die Lichter einer serbischen Grenzstadt zu sehen, oder zumindest eine andere Zeltstadt. Doch stattdessen hatten sie mitten auf einem einsamen Stück Landstraße angehalten, umgeben von kargen dunklen Feldern. Der Taxifahrer lehnte sich über den Sitz nach hinten und richtete eine Pistole auf sie. (S. 210, Kapitelende)

Quasi stellvertretend für die zehntausenden namens- und gesichtslosen Flüchtlinge gibt Gratz drei (fiktiven) jugendlichen Flüchtlingen ein Gesicht, einen Namen und eine Familie; indem er sie auf diese Weise aus der anonymen Masse heraushebt, macht er das unsägliche Leid dieser Menschen begreifbarer und nachvollziehbar. Erst dadurch ist so etwas wie eine Identifikation mit den handelnden Romanfiguren denkbar.

Was die drei Hauptfiguren eint, das ist der Wunsch nach menschenwürdigeren Lebensumständen, die in ihrer Heimat ganz offensichtlich nicht mehr erreichbar sind. Zwar haben alle drei deutlich bessere Zeiten erlebt, haben sich irgendwie auch mit den jetzigen belastenden Verhältnissen zuhause arrangiert, jedenfalls solange es dabei nicht um Leben oder Tod geht. Für alle gibt es einen Aufbruch ins Ungewisse, dessen Ausmaß und enorme Risiken vorab nicht einmal ansatzweise zu überschauen sind. Bei den Protagonisten und Protagonistinnen handelt es sich durchweg um fiktive Personen; doch Gratz hat sich eng an realen Geschehnissen und Zeugnissen von Flüchtlingen orientiert und bringt das, was Zigtausende von ihnen tatsächlich durchmachen mussten, in einer auf die drei Einzelfiguren verdichteten Form zum Ausdruck. Bekannte Pressefotos etwa von großen Flüchtlingsgruppen, die zu Fuß auf der ungarisch-österreichischen Autobahn Richtung Deutschland streben, aber auch das verstörende Bild eines ertrunkenen kleinen Jungen am Ufer von Lesbos, werden zumindest bei älteren Leserinnen und Lesern wieder unmittelbar präsent.

"Ein ganzes Gebirge von Rettungswesten türmte sich entlang der Küste auf, so weit Mahmouds Auge reichte. So wie es in Aleppo bergeweise Trümmer gab, gab es in Griechenland bergeweise Rettungswesten, weggeworfen von Hunderttausenden Flüchtlingen, die vor ihnen angekommen waren. […] Doch am Strand lagen auch Leichen. Menschen, die die Nacht auf dem Meer nicht überlebt hatten, die nicht rechtzeitig von der Küstenwache gefunden worden waren. Es waren hauptsächlich Männer, doch auch ein paar Frauen. Und ein Kind." (S. 175)

Manches Ereignis im Roman mag auf den ersten Blick vielleicht übertrieben erscheinen und allzu sehr auf gesteigerten Spannungsbau abzielen. Doch der Tod vieler Flüchtlinge bei der Mittelmeerüberfahrt, die Schikanen von Nazis oder vom Wachpersonal europäischer Flüchtlingslager und das dort herrschende Elend sind leider ebenso traurige Realitäten wie eine oft fehlende Willkommenskultur der Bevölkerung in den Aufnahmeländern. Hinter enorm hohen, aber weitgehend abstrakten Zahlen wird vieles davon immer weniger zur Kenntnis genommen werden. Von daher hat Gratz einen guten und richtigen Weg gewählt, durch die Fokussierung auf einzelne Figuren die unglaublichen Belastungen einer Flucht zu verdeutlichen, die er zutreffend als Ultima Ratio für die Betroffenen sieht: Für ihn ist jedes einzelne Schicksal mit einem Menschen verbunden, der sich sein Leben so nicht ausgesucht hat.

Den jeweiligen historischen Hintergrund erläutert der Autor zu jedem der drei Figuren in genaueren Schlussanmerkungen; zudem sind drei Landkarten angefügt, die die einzelnen Fluchtwege zeigen.

Mit den häufig sehr dramatisch geschilderten Ereignissen  ̶  etwa dem Tod von Isabels Freund, dem Selbstmordversuch des seelisch gebrochenen Vaters von Joseph, aber auch der nicht minder verzweifelten Weggabe von Mahmouds kleiner Schwester – wird jugendlichen, in Deutschland weitgehend unter geordneten Verhältnissen und behütet aufgewachsenen Leserinnen und Lesern zweifellos einiges zugemutet. Doch durch die Protagonisten und Protagonistinnen des Romans, die ungefähr gleichaltrig mit den Lesenden sind, wird auf eine bewusst herausfordernde Weise verdeutlicht, dass die guten Lebensbedingungen in Deutschland keineswegs überall gleichermaßen herrschen und Kinder und Jugendliche in vielen Ländern der Erde unter ungleich schlechteren Umständen leben und zurechtkommen müssen. Realitätsnah bleibt Gratz auch damit, dass er nicht für alle Romanfiguren ein Happy End parat hat.

Interessant ist zudem der erst zum Ende hin erkennbare Zusammenhang der drei zunächst als völlig separat ablaufend empfundenen Geschichten. Als wichtige Botschaft lässt sich daraus formulieren, dass letztlich die ganze Menschheit eine große Familie ist – mit einer Verpflichtung der stärkeren Mitglieder gegenüber den schwächeren, schlechter gestellten.

Geradezu unabdingbar ist nach der ebenso anrührenden wie spannenden Lektüre die letzte Anmerkung des Buches mit der Überschrift "Was du tun kannst" (S. 296ff): Darin wird als Empfehlung vorgeschlagen, wichtige Flüchtlingsorganisationen wie UNICEF oder Safe the Children finanziell zu unterstützen, damit Flüchtlingskinder nicht zu einer "Verlorenen Generation" werden.

Fazit

Vor uns das Meer ist ein Roman, der auf herzergreifende Weise auf das weiterhin aktuelle Schicksal unzähliger, vor allem minderjähriger (aber auch erwachsener) Flüchtlinge aufmerksam machen möchte, indem er sie als einzelne Menschen beschreibt, die unverschuldet in eine prekäre, nicht selten lebensbedrohliche Situation geraten sind. Das Buch (es wurde für den Deutschen Jugendbuchpreis 2021 nominiert) kann als Grundlage für eine wichtige Debatte mit jungen Leserinnen und Lesern ab etwa 14 Jahren über diese keineswegs einfach lösbare, aber zweifellos dringende Problematik in Schulen oder Familien dienen.

Titel: Vor uns das Meer
Autor/-in:
  • Name: Gratz, Alan
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: Refugee
Übersetzung:
  • Name: Meritxell, Janina Piel
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Verlag Carl Hanser
ISBN-13: 978-3-446-26613-1
Seitenzahl: 302 Seiten
Preis: 17,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Gratz, Alan: Vor uns das Meer