Inhalt

Der pandemiebedingte Lockdown bricht im Frühjahr 2020 ganz plötzlich auf Nikosch und seine Familie ein – wie auf die ganze Welt – und versetzt alle in den Ausnahmezustand. Nikosch, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt ist, versteht nur in Ansätzen, was eigentlich los ist, warum sie mit einem Mal zu Hause bleiben müssen und die Schule schließt. Zwar partizipiert er an den abendlichen Nachrichten, so richtig begreift er aber nicht, was vor sich geht. Das Stichwort "Corona" fällt interessanterweise an keiner Stelle. Die Nachrichtenfrau erlebt der kindliche Ich-Erzähler als ursächlich für das Geschehen, verfolgt nur halb verstehend, dass sie ihm und seiner Schwester Nini "von einem Virus, einer gefährlichen Krankheit" (S. 33) erzählt, die für einige Menschen tödlich enden kann, so auch für die alte Nachbarin Frau Kirchner, zu der die Kinder  ein herzliches Verhältnis pflegen und die sich nun in ihrer Wohnung verbarrikadiert. Aus kindlich-naiver Sichtweise, die dem erwachsenen Rezipienten möglicherweise phasenweise als fast zu naiv erscheinen kann, entfaltet sich die Handlung, die im Kern Züge eines Kriminalromans trägt, denn die Corona-Pandemie bildet im Laufe der Erzählung mehr und mehr die Kulisse für ein detektivisches Abenteuer, das Nikosch und Nini im stumm gewordenen Haus erleben. Denn eines Nachts empfangen die Kinder Lichtsignale aus dem Nachbarhaus, die sie als SOS einordnen. Einfallsreich und mit detektivischem Gespür beginnen Nina und Nikosch zu ermitteln...

Kritik

Den Lockdown und die Kontaktverbote erfahren die Kinder zunächst als zähe Ewigkeit, durchsetzt von zermürbender Langeweile. Die Schulschließungen erscheinen Nikosch erst wie frühzeitige Ferien, bis ihn ebendiese zermürbende Langeweile einholt, die er in an konzeptionelle Mündlichkeit erinnerndem Sprachgestus beschreibt, typographisch auffällig ist und dabei die Leserinnen und Leser immer wieder direkt anspricht:

Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null. Null.

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Seht ihr? Nichts. Das ist die Ewigkeit. Ich habe sie kennengelernt. Was denn? Ihr kennt sie auch? Dann seid ihr sicher meiner Meinung. Sie ist nicht so toll! (S. 64)

Durch diese Erzählweise gelingt es kongenial, einsamen, in der Pandemie leidenden Kindern eine Stimme zu verleihen, die alle betroffenen Kinder direkt adressiert und anzusprechen versucht. So inszeniert sich der Ich-Erzähler als Teil eines großen, gemeinschaftlichen Leidens und der Frustration, weshalb er als Identifikationsfigur für viele kindliche Leserinnen und Leser taugt. Die große Stärke des Textes ist es, dass er das Erleben der Kinder ernstnimmt.

Nikosch ist keine Figur, die an der sogenannten Ewigkeit zerbricht. Seine Mutter geht als Putzfrau weiterhin zur Arbeit, während sein Vater zu Haus bleibt. Er ist Erzieher – warum er auch vollständig zu Hause bleibt, ist nicht ganz klar, die Erzieherinnen und Erzieher mussten ja bundesweit überwiegend in der Notbetreuung arbeiten. Zunächst betätigt er sich als Heimwerker  und, verfällt aber immer mehr in Lethargie und sitzt nur noch auf dem Sofa und sieht fern, wobei er sich Unterstützung in Form von Zuwendung von seinen Kindern erhofft. Welche dramatischen Auswirkungen der Lockdown auf Familien haben kann, scheint in der die Handlung stetig stärker dominierenden Kriminalgeschichte auf. Nikosch und Nini beobachten nachts Lichter auf der gegenüberliegenden Baustelle und empfangen Lichtsignale aus dem Nachbarhaus , die sie als Hilferuf deuten, was aufgrund seiner Analogie auch als impliziter intertextueller Verweis auf Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten lesbar ist. Sie beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen, wodurch Elemente einer klassischen Detektivgeschichte in den Vordergrund der Handlung gelangen. Aufgedeckt wird schließlich ein Fall von Kindesmisshandlung: Nikosch und Nini bekommen durch fulminante Ermittlungen heraus, dass ihr neuer Klassenkamerad Martin von der Mutter geschlagen und misshandelt wird. Zum Glück wenden sich die Kinderfiguren mit dieser Entdeckung an die erwachsenen Figuren, sodass Martin aus seiner Situation befreit werden kann. So wirft der Kinderroman ein Schlaglicht auf die dramatischen Folgen, die der Lockdown in vielen Familien verursacht. Einerseits halten die Kinder und ihre Familien im stumm gewordenen "Kaninchenbau" zusammen, andererseits kämpfen sie mit Einsamkeit, Langeweile und eben auch Streit und Gewalt.

Fazit

Ein wichtiges und mutiges Buch, das den von der Pandemie benachteiligten Kindern eine Stimme gibt! Die Handlung ist stellenweise bedrückend, aber durch die Kriminalhandlung auch spannend und unterhaltsam zu lesen. Uticha Marmon ist eine der ersten, die sich diesem wichtigen Thema zuwendet. Es werden sicher weitere Kinderbücher folgen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, gerade darum sind solche kinderliterarischen Inszenierungen der Krise ungeheuer wichtig – Uticha Marmons Text über Nikosch und das einst so belebte und nun plötzlich stumme Haus macht einerseits Mut, verschweigt aber nicht, was für existenzielle Folgen der Lockdown für viele Familien hat. Für Kinder ab 8 Jahren empfehlenswert.

Titel: Das stumme Haus
Autor/-in:
  • Name: Marmon, Uticha
Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Verlag Fischer Sauerländer
ISBN-13: 978-3-7373-5825-5
Seitenzahl: 207
Preis: 14,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Marmon, Uticha: Das stumme Haus