Inhalt

Der zwölfjährige Felix wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter Astrid auf. Er nennt sie stets beim Vornamen, denn Astrid ist eine moderne Mutter. Obwohl sie regelmäßig unter depressiven Schüben, ihren sogenannten "Krisen" leidet, bei denen sie tagelang ausfällt und nur im Bett liegt, hat Felix sich bei und mit ihr immer sehr wohlgefühlt. Doch als Astrids Mutter bzw. Felix‘ Großmutter Mormor stirbt, gerät die Kleinfamilie in eine schier unaufhaltsame Abwärtsspirale, die in die Obdachlosigkeit mündet. Das geerbte Haus kann Astrid nicht halten, die finanziellen Probleme spitzen sich zu, da sie nicht mit Geld umgehen und sich bei Arbeitsstellen nicht anpassen kann. Der soziale Abstieg geht rasant vonstatten: Von der Zwei-Zimmer-Mietwohnung geht es in einen Ein-Zimmer-Keller, und schließlich bleibt Astrid und Felix nur noch der Bus "Westfalia", den der Ex-Freund der Mutter vermeintlich nach der Trennung überlassen hat. So zumindest hat sie es Felix gegenüber behauptet, aber auch mit der Wahrheit nimmt die Mutter es nicht zu genau. Das ist Felix durchaus bewusst: In einem Kapitel, das mit "Astrids Ratgeber für Lügen aller Art" übertitelt ist, informiert der Ich-Erzähler seine Leserinnen und Leser über die verschiedenen Art von Lügen, die das Leben seiner Mutter konstituieren und die er nach ihrem Schweregrad kategorisiert. Sie reichen von der "Unsichtbaren Lüge" über die "Gib-dem-Frieden-eine-Chance-Lüge" und die "Beschönigungslüge" bis zur "Die Jemand-könnte-ein-Auge-verlieren-Lüge". Felix findet sich in seinem Leben mit dieser schwierigen Mutter durchaus zurecht und setzt auf ihre liebevolle Zuwendung, die ihm immer sicher ist. Seinen Vater Daniel sieht er nur sporadisch, dieser lebt am anderen Ende Kanadas, ist homosexuell und hat Astrid einst als Samenspender zur Verfügung gestanden. Trotz dieser instabilen Verhältnisse entwickelt Felix eine enorme Ich-Stärke, die sich einerseits auf seine überbordende Merkfähigkeit und andererseits auf seine ausgeprägte Beziehungs- und Liebesfähigkeit stützt. Liebevoll kümmert er sich um seine Rennmaus Horatio, und sein größter Traum ist die Teilnahme an einer landesweit populären Quizshow, bei der er sich aufgrund seines hohen Allgemeinwissens hohe Chancen ausrechnet. Mit einer ihrer ausgefuchsten Lügen gelingt es Astrid, den Sohn in einer renommierten Schule mit Französisch-Schwerpunkt anzumelden, indem sie Formulare fälscht und falsche Adressen angibt. Felix spielt das Spiel mit und findet in der Schule Anerkennung und vor allem in Dylan und Winnie richtig gute Freunde. Diese Freundschaft bricht auch nicht zusammen, als das Lügengebäude, das sich um die Obdachlosigkeit rankt, schließlich zusammenfällt.

Kritik

Der Roman setzt in ultimas res ein: Felix sitzt auf der Polizeiwache und entschließt sich, dem Constable die Wahrheit zu erzählen "und nichts als die Wahrheit" (S. 12). Und so beginnt der kindliche Ich-Erzähler mit dem Kapitel "Eine kurze Geschichte unserer Wohnsitze" (S. 13), rollt die Geschichte des sozialen Abstiegs von hinten auf. Dabei bleibt die Darstellung eng an den Wahrnehmungshorizont des Protagonisten gebunden und entfaltet das Drama aus seiner ureigenen Sicht. Diese Sicht ist geprägt von der uneingeschränkten Liebe des Kindes zu seinen Eltern, zu denen es keine Alternative hat, und gerät an einen entscheidenden Wendepunkt, als Felix die Fehlbarkeit seiner Eltern plötzlich schmerzhaft bewusst wird:

Und ich hätte schon wieder heulen können, denn zum ersten Mal kam mir etwas durchaus Großes und Gewaltiges und Überwältigendes in den Sinn: Astrid und Daniel waren tolle Menschen...aber sie waren keine tollen Eltern. (S. 182)

Was den (erwachsenen) Leserinnen und Lesern von vorneherein klar ist, erschließt sich dem Ich-Erzähler erst hier mit voller Wucht. Diese Darstellung macht den Kinderroman psychologisch glaubwürdig und in sich stimmig. Er liefert eine ehrliche, schonungslose Beschreibung der Nöte eines Kindes, das den Entscheidungen seiner Eltern ausgeliefert ist.

Aber er klagt nicht an, weil Felix nicht anklagt, vielmehr kann der Protagonist sich auf sich selbst und schlussendlich auf seine Freunde verlassen, woraus sich die starke Botschaft des eindrucksvollen Kinderromans speist.

Adresse unbekannt erzählt die Geschichte eines resilienten Kindes, das es schafft, sich mithilfe seiner Freunde Hilfe zu suchen. Felix erkennt, dass er in den Behörden Unterstützung findet und diese keine Bedrohung darstellen, wie Astrid ihm zeit seines Lebens eingeschärft hatte. Trotz des bedrückenden Themas handelt es sich nicht um einen bedrückenden Roman, denn der Ich-Erzähler rekurriert auf komische Elemente, weshalb der Roman insgesamt sowohl als komischer als auch als psychologischer Kinderroman zu klassifizieren ist. Psychologische Feinfühligkeit gewinnt der Text aus den mehrdimensionalen Figuren, die alle mit Höhen und Tiefen ausgestattet sind (vor allem auch die problematischen Eltern). Die Komik resultiert aus dem Sprachwitz an vielen Stellen, wie der Auflistung und Kategorisierung der Lügen und Wohnsitze oder eingeschobene und typographisch durch Kursivdruck abgehobene Passagen, die Berichte aus der Schülerzeitung sind, die Felix und seine Freunde Winnie und Dylan selbst geschrieben haben. So nimmt das Buch überzeugend das Thema „Obdachlosigkeit“ in den Blick und findet eine kinderliterarische Form, die es zu einem kleinen Meisterwerk macht. Die Geschichte ist spannend, mitreißend, komisch, glaubwürdig und hochgradig sensibel. Beim Lesen fiebert man mit Felix, der sich im Zuge der fatalen Entwicklungen nichts mehr wünscht als einen ungestörten Toilettengang, eine warme Dusche und eine vollwertige Mahlzeit.

Fazit

Ein moderner Kinderroman, der die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch absolut verdient hat und sowohl für die Privatlektüre von Kindern ab 11 Jahren als auch für die Schullektüre in der Orientierungsstufe vollumfänglich empfehlenswert ist.

Titel: Adresse unbekannt
Autor/-in:
  • Name: Nielsen, Susin
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: No fixed address
Übersetzung:
  • Name: Herre, Anja
Illustrator/-in:
  • Name: Mechanic, Leslie
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Verlag Urachhaus
ISBN-13: 978-3-8251-5226-0
Seitenzahl: 284
Preis: 18,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 11 Jahre
Nielsen, Susin: Adresse unbekannt