Inhalt
Das Schulmädchen Luise, von allen Pünktchen genannt, weil sie nach ihrer Geburt kaum wachsen wollte, stammt aus reichen Verhältnissen. Ihr Vater besitzt eine Spazierstockfirma, arbeitet viel und bekommt seine lebhafte Tochter kaum zu Gesicht. Die Mutter hat ebenfalls wenig Zeit für ihre Tochter, da sie zu sehr mit Migräne, Modenschauen und Müßiggang beschäftigt ist. Und so leisten meistens die Köchin Berta, das etwas seltsame Kindermädchen Fräulein Andacht und der Dackel Piefke dem kleinen Mädchen Gesellschaft in der teuren Berliner Zehn-Zimmer-Wohnung.
Anton hingegen lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung und muss sogar die Friseurbesuche auf Raten bezahlen. Um seine kranke Mutter, der kürzlich ein Tumor entnommen werden musste, zu unterstützen, bettelt er abends auf der Weidendammer Brücke und verkauft Schnürsenkel. So lernen sich die beiden aus völlig unterschiedlichen Verhältnissen stammenden Kinder kennen. Denn auch Pünktchen muss mit Fräulein Andacht auf der Brücke Streichhölzer verkaufen. Nun stellen sich die Fragen: Was hat Pünktchen auf der Weidendammer Brücke zu suchen? Und kann Antons Mutter geholfen werden?
Kritik
Dass Pünktchen und Anton ein Klassiker der Kinderliteratur ist, zeigt sich nicht nur an den seit 1931 zahlreichen Neuauflagen (die jüngste Ausgabe des Atrium-Verlags erschien 2018), sondern auch an der bis heute anhaltenden plurimedialen Adaptionsgeschichte des Kinderromans. Beispielsweise wurde Pünktchen und Anton 1953 von Thomas Engel und 1999 von Caroline Link verfilmt, eine Comicadaption von Isabel Kreitz erschien 2009.
Dem Klassikerstatus zuträglich dürfte auch Kästners lustvolles und auch heute noch eher ungewöhnliches Spiel mit metafiktionalen Kommentaren und Einmischungen sein: Wie auch in Emil und die Detektive und andere Werken wendet sich in der Einleitung eine Autoreninstanz namens „Erich Kästner“ offen an die Lesenden, stellt sich ihm als Erschaffer und Erzähler des Werkes vor und beschreibt, was ihn zum vorliegenden Werk inspiriert hat. Er legt seine Gedankenprozesse und Überlegungen transparent dar und ebenso die Struktur, in welche dieses Werk eingeteilt ist: Die Kapitel enden jeweils mit "Nachdenkereien". In diesen vermittelt der Autor moralische Botschaften und verknüpft die Geschehnisse des Kapitels mit Alltagsbeispielen, historischen Ereignissen oder Gesprächen die wiederum die jeweilige Moral veranschaulichen oder argumentativ stützen.
Ebenso wie die in der Einleitung klar zur Schau gestellte Entstehungsgeschichte spielt die sich als Autor inszenierende Erzählinstanz "Kästner" auf der metafiktionalen Ebene mit dem Bekanntheitsgrad seiner Buchfiguren aus anderen Werken - beispielsweise erwähnt er im "kleinen Nachwort" fast schon beiläufig, dass sich die Charaktere Anton und der Protagonist Emil aus "Emil und die Detektive" sehr ähneln.
Mit seinem Blick für Alltagsdetails zeichnet Kästner (insbesondere für die 1930er) souveräne, selbstbewusste Mädchen, die leider mit sexistischen Vorurteilen seitens der männlichen Romanfiguren konfrontiert werden: "Davon verstehen Frauen nichts" (Kästner, S. 10) oder "Das ist nichts für Frauen", (Kästner, S. 50). Dennoch sind sie autonom und zur selbstständigen Konfliktlösung fähig, stellenweise brechen sie sogar weibliche Stereotype auf. Insbesondere Pünktchen, die mit Anton das Hauptfigurenpaar bildet, ist eine sympathisch hyperaktive Figur mit überbordender Fantasie: "Pünktchen hätte gern einmal probiert, ob man sich in der Glatze von Herr Bremser spiegeln konnte, aber sie hatte jetzt keine Zeit" (Kästner, S. 82). Auch Anton ist keine 'typische' Jungenfigur und bricht als Halbwaise, der für sich und seine Mutter kocht und putzt, mit stereotypen Männlichkeitscharakterisierungen.
Eine helle Freude für ältere und jüngere Lesende ist die vorurteilsfreie und konstruktive Freundschaft der beiden Kinder: Weder ist Pünktchen überheblich und schaut auf Menschen, die weniger gut finanziell aufgestellt ist, herab, noch missgönnt Anton ihr den Reichtum und macht Menschen wie Pünktchen für seine finanziellen Probleme verantwortlich.
Während die Freundschaftskonstellation noch eine vergleichsweise zeitlose Dynamik veranschaulicht, haben einige der "Nachdenkereien" den Test der Zeit weniger gut bestanden. Sie offenbaren, dass Kästner ein Kind seiner Zeit ist: Während Botschaften wie "Unterstütze die Armen" direkt moralphilosophischen Abhandlungen entnommen sein könnten, zeigt sich in anderen, konkreteren "Nachdenkereien" beispielsweise ein aus heutiger Sicht veraltetes, verstaubtes Verständnis von Geschlechterrollen, welches kritisch zu hinterfragen ist.
Beispielsweise unterhält sich "Kästner" in der zweiten "Nachdenkerei" mit einem Jungen namens "Paul", in welchem er diesem nahelegt, dass Jungen die Eltern im Haushalt entlasten sollten – allerdings nur dann, wenn diese der Hilfe dringend benötigen (wie im Krankheitsfall von Antons Mutter). "Paul", der sich erst vehement gegen das Kochen stemmt, diskutiert ein wenig mit "Kästner". Nach längerem Hin- und Her räumt er ein, dass er zwar für seine Mutter kochen würde wenn sie dazu nicht in der Lage sei, bleibt allerdings dabei, dass das Kochen für Männer und Jungen etwas Peinliches sei. "Kästner" entgegnet, dass man sich nicht dafür schämen müsse, die kranken Eltern zu versorgen, sondern höchstens dafür, "mit einer Puppenküche" zu spielen. (S. 32).
Derlei Passagen veranschaulichen die stellenweise altbackene Anmutung der Kästner’schen "Nachdenkereien". Ebenso wirkt der Sprachstil stellenweise seiner Zeit verhaftet. Nachgerade zeitgemäß wirken hingegen die familiären Probleme, die Dreh- und Angelpunkte der Handlung sind. Finden sich in dem Kinderroman doch Mutterfiguren wie Frau Pogge, die sich nicht für ihre Tochter interessiert, Väter, die vor lauter Arbeit den Nachwuchs aus den Augen verlieren sowie viele kluge Beobachtungen über die fatalen Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf Familien im Allgemeinen und Kinder im Besonderen.
Zwar ist die Auflösung, warum nun das reiche Mädchen Pünktchen nun betteln gehen muss, leider etwas vorhersehbar und fällt eher kurz aus, jedoch verspricht der Klapptext des Buches auch keine sehr aufregende Geschichte, sondern eine "die vergnügt und lustig und voller Witz" ist – und dieses Versprechen wird gehalten.
Fazit
Auch wenn die Geschichte von Pünktchen und Anton für die Kinder glücklich endet, werden die Leserinnen und Leser in den "Nachdenkereien" daran erinnert, dass nicht jeder Schuldige seine verdiente Strafe erhält. Die positive Endstimmung mit einer realistischen Mahnung ist daher auch für jüngere Leser nachvollziehbar umgesetzt.
Dieser Abstecher in das Berlin der 1930er ist mit seiner zeitlosen, aber wirklichkeitsnahen Moral auch für die heutige Lesendengeneration geeignet. Kinder ab sieben Jahren können der Handlung des Romans folgen und die Protagonisten ins Herz schließen, zugleich bieten die doch recht veralteten Geschlechterdarstellungen Anlass für Gespräche über den gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechterrollen.
- Name: Kästner, Erich
- Name: Trier, Walter