Inhalt

Der Teenager Winnetou, der Sohn des Apachen-Häuptlings Intschu-tschuna, möchte in verschiedenen Disziplinen stets der Beste sein, da er sich zum Ziel gesetzt hat, ein würdiger Nachfolger seines Vaters zu werden. Bei einem wichtigen Wettkampf agiert er jedoch zu selbstbezogen und unterlässt es, dem gestürzten Teammitglied Tokala zu helfen. Daher verleiht die weise Frau und Seherin Sikari-zinu ihm nicht die begehrte Adlerfeder als Belohnung. Da Winnetou zudem die Nachtwache anlügt, sodass wegen seiner Unachtsamkeit viele Lebensmittel verbrennen, verpflichtet ihn sein Vater zu niedrigen Diensten. In der Nacht stellt er den Pferdedieb Tom Silver, der in Winnetous Alter ist. Es stellt sich sodann heraus, dass die Native Americans die nächsten Wochen und Monate ohne die Büffeljagd nicht überleben würden. Daher beschließen sie, ihr Land bald zu verlassen. Ein Hoffnungsschimmer fällt jedoch auf Toms Wissensstand, der erwähnt, dass er etwas über das Verschwinden der Büffel gehört hat. Bei einer günstigen Gelegenheit stehlen sich Winnetou und sein Gefangener Tom aus dem Tipi und suchen die Kleinstadt Rio Santo auf, wo sie mehr vom Banditen Hank erfahren wollen. Dieser gibt ihnen den Tipp, dass die Büffel in der Teufelsschlucht verweilen. 

Aufgeregt begeben sich die beiden Kinder dorthin, werden jedoch von dem Bösewicht Todd Crow, dessen Diebes- und Goldsucherbande Tom vor einiger Zeit noch angehörte, gestellt. Tom wechselt scheinbar unvermittelt die Seite und gibt vor, Winnetou den Banditen auszuliefern. Nach einem Mordversuch durch die tumben Gehilfen des Krähen-Schurken Todd rettet Tom Winnetou jedoch das Leben. Gemeinsam begeben sie sich danach zum Stammesgebiet des indigenen Volkes zu einem Zeitpunkt, als die Apachen bis auf die Dorfältesten schon abgezogen sind. Immerhin können sie die Intrige des habgierigen Crow vereiteln, indem sie in Teamarbeit zusammen mit Winnetous naturkundiger Schwester Nscho-tschi die gierigen Siedler überlisten, sodass der Stamm der Indigenen wieder zum Siedlungsort zurückkommen kann. 

Kritik

Der Roman beginnt klischeehaft und zeichnet ein stereotypes Bild der Native Americans:

Schneller, Winnetou!, feuerte er sich selbst an und jagte einen Hügel hinauf. Endlich! Vor ihm ragte schon die Spitze des Donnerberges auf, in dessen Tiefen sich die Heiligen Höhlen der Apachen befanden. Rundherum waren die Tipis seines Stammes aufgebaut. Squaws webten Teppiche oder übten sich im Messerwurf. Kinder spielten Hase und Kojote. (S. 7)

Das Werk suggeriert, dass alle „Indianer“[1] in speziellen Zelten lebten und die Frauen entweder typisch weiblich konnotierten Tätigkeiten wie Weben nachgehen oder klischeehaften Betätigungen von sogenannten Wilden wie dem Messerwurf. Auch das Fangspiel der Kinder ist durch das Nennen von Steppentieren klischeehaft überblendet.

Zudem erfährt Winnetous Schwester Nscho-tschi eine klischeebeladene Inszenierung als angehende schamanenhafte Naturheilerin und Giftmischerin: 

Sie hatte die Gabe, mit den Heilpflanzen der Prärie umzugehen. Es gab kein Kraut, kein Blatt, keine Wurzel im ganzen Tal, dessen Kraft sie nicht kannte. Außerdem war sie fast so mutig und stolz wie Winnetou und ihr Vater, Häuptling Intschu-tschuna. (S. 8) 

Insgesamt ist eine Reduzierung der Indianer auf ein die Natur sorgsam behütendes Volk feststellbar. So tragen sie stets traditionelle Tracht und sind mit archaischen Waffen wie Pfeil und Bogen sowie Tomahawks bewaffnet. Eine solche Ausstattung trifft bei weitem nicht auf alle Stämme bzw. indigenen Individuen zu (vgl. Finan 2014, S. 6f.).

Darüber hinaus sind die Handlungen Winnetous bisweilen auch mit Vergleichen in Bezug auf (wilde) Tiere angereichert (Geier und Hase), die ihm scheinbar etwas Animalisches zuschreiben. 

Den teilweise klischeehaften Inhalt spiegelt das Layout des Romans wider: So finden sich am Anfang der Kapitel stets Federn, indianische Traumfänger oder der Kopfschmuck eines Häuptlings. Des Weiteren ist der Text unten durch indianisch anmutende Bortenmuster verziert. Im Gegensatz zu den weiblich konnotierten Arbeiten wie Weben und der Fürsorge für die Kinder inszeniert das Werk das Jagen als prototypisch männliche Tätigkeit: „Die Krieger kommen von ihrer Jagd zurück.“ (S. 18) Immerhin gibt es wenige Jägerinnen, auf die im Fortfolgenden noch einzugehen ist.

Trotz dieser stereotypen Darstellung der Apachen ist der Roman und der dazugehörige (sowie sich kaum vom Roman unterscheidende) Film nicht gänzlich abzuwerten oder gar vom Markt zu nehmen. Denn die Zielgruppe des Films kommt ggf. mit „Indianern“ zum ersten Mal in Berührung, sodass ein differenzierteres Bild eher für Jugendromane eine Voraussetzung wäre. 

Zudem bleibt die klischeehafte Inszenierung eher auf das Aussehen beschränkt, denn charakterlich erweisen sich die Indianer als sehr empathisch, rational denkend und selbstlos. So lehrt die scheinbar Dorfälteste Winnetou zentrale Eigenschaften eines demokratisch-liberal gesinnten Anführers, der zudem für den Frieden einstehen soll: „Sikari-zinu nahm seine Hand. Ihre war angenehm warm. ‚Wie die Motte, die nah am Feuer fliegt, muss auch ein zukünftiger Häuptling lernen, sich zurückzuhalten‘, mahnte sie. ‚Er sollte das Wohl seines Volkes vor das eigene stellen. Seine Entscheidungen müssen vor allem den Frieden der Gemeinschaft sichern‘“ (S. 19f.). Diese Charakterzeichnung bricht mit dem rassistischen Klischee eines wilden und aggressiven Indianers und führt den wichtigen Wert der Friedenssicherung ein. Der Roman weist auch keine „bösen“ Indigenen auf, die weiße Siedler gezielt töten wollen. Angesichts der stetigen brutalen Aggressionen und Kriege in der globalen Welt, halte ich die Etablierung eines derartigen Wertekosmos für wichtig. 

Zentral ist die zusätzliche Beobachtung, dass die Jägergruppen nicht nur aus Männern, sondern auch aus Frauen bestanden, sodass diese Darstellung das Genderstereotyp der rein männlichen Jägerschaft aufbricht, auch wenn die Führung in männlicher Hand bleibt: 

Es waren fünf tapfere Frauen und Männer, die besten Jäger des Stammes, die jetzt auf schweißnassen Mustangs ins Lager preschten. Intschu-tschuna, der Häuptling der Apachen, führte die Gruppe an. Außerdem dabei waren Ahiga, Ish-kay-nay und der starke, aber bescheidene Naginita. (S. 22)

Manchmal schafft es der Roman jedoch auch, dem Klischee entgegenzuwirken. So belässt der Häuptling Intschu-tschuna den Pferdedieb Tom bis zur Übergabe an den lokalen Sheriff in der Obhut seines Sohnes Winnetou: „Ich werde nicht den Boden meiner Ahnen mit dem Blut des weißen Mannes beflecken und damit unser Friedensabkommen gefährden.“ (S. 39) Als klischeehaftes Zerrbild wäre zu erwarten, dass Tom an einen Marterpfahl gebunden wird, von dem im Roman und Film ohnehin keiner zu sehen ist. Auch Friedenspfeife wird nicht geraucht und die Kinder fahren nicht mit Kanus durch einen Fluss. Am Ende des Romans erscheint jedoch die archaische Geste der Blutsbrüderschaft zwischen Winnetou und Tom durch das Vermischen ihres Blutes nach einem kleinen Schnitt. Es hätte dem Roman gutgetan, dieses Klischee aus dem Roman bzw. der Verfilmung „Winnetou I“ von Karl May zu vermeiden, das im realen Leben aufgrund einer möglichen Übertragung von Krankheiten nicht unproblematisch ist. Die Indianer kannten ein solches Ritual eher weniger. 

Außerdem überwindet der Roman auch toxische Männlichkeit, indem der Häuptling seinem Sohn seine Fehltritte nicht nur verzeiht, sondern auch bemerkt, dass sein Verhalten zu streng war: „War er zu streng mit Winnetou gewesen? Ja!, musste der Häuptling sich eingestehen. Winnetou war sein Sohn und er liebte ihn über alles. Winnetou war noch jung. Zur Jugend gehörte, dass man Fehler machte. Intschu-tschuna nickte wortlos. Und zur Liebe gehörte, dass man Fehler verzieh.“ (S. 90) Somit zeigt Intschu-tschuna auch gefühlvolle Selbstreflexion und bleibt nicht auf die Rolle des strengen und strafenden Häuptlings reduziert. 

Auch beim angeblichen Tod Winnetous werden die Apachen als trauernde und emotional verletzliche Gemeinschaft und nicht als aggressive Wilde inszeniert: „In den Gesichtern aller Apachen spiegelten sich Trauer und Entsetzen. Der Tod gehörte zum Leben dazu, das wusste niemand besser als ein Volk, welches in und mit der Natur lebte.“ (S. 150)

Jedoch zeichnet der Roman den Verräter innerhalb der Indianer namens Nagi-nita nicht eindimensional böse, sondern er begeht den Verrat nur, um seinen Stamm vor den bewaffneten Siedlern zu schützen, indem er selbst Waffen einfordert: „Und es gibt nur einen Weg, uns gegen die Waffen des weißen Mannes zu verteidigen. Wir brauchen eure Feuerbüchsen.“ (S. 137) Dass die Goldsucher-Bande tatsächlich ihren Pakt mit Nagi-nita nicht einhält, spielt historisch darauf an, dass auch die Siedler des Öfteren die Verträge mit den Indianern gebrochen haben und diese immer mehr in Reservate mit schlechten Lebensgrundlagen verdrängt haben (vgl. Finan 2014, S. 42f.). Dies deutet der Roman bzw. Film dadurch leicht an, dass der indigene Stamm nur von der Büffeljagd, scheinbar jedoch nicht von der Feldarbeit leben kann. 

Ähnlich (teil-)klischeehaft wie die „Indianer“ sind jedoch auch die Goldsucher und Bewohner der Stadt inszeniert. So ereignet sich im Salon der Westernstadt Rio Santo eine Schlägerei und die Goldsucher machen dabei oft und unvermittelt von ihren Schusswaffen Gebrauch. So sind auch immer wieder westerntypische Verfolgungsjagden in den Roman bzw. Film eingebaut, die der Steigerung der Spannung dienen. Da die europäischen Siedler insgesamt ähnlich stereotyp wie die indigene Bevölkerung erscheinen, kann man nicht einseitig von einer Abwertung der Indianer durch deren Darstellung sprechen. Ähnliche Indianderklischees findet man auch in der der RTL-Neuverfilmung von Winnetou (Stölzl 2016), der sogar in mehreren Kategorien u. a. als beste Fiktion mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. 

Fiktion ist ein gutes Stichwort: „Der junge Häuptling Winnetou“ muss und kann die Realität nicht abbilden, er sollte als reine Fiktion, wenn nicht sogar als Fantasy-Literatur, rezipiert werden, worauf auch der Disclaimer am Anfang des Romans sinnvollerweise verweist:

Der Film und seine Nacherzählungen sind in Anlehnung an die von Karl May erfundene Welt rund um die Apachen entstanden. Die Handlung ist daher fiktional. Alle Namen und Szenen sind frei erfunden und zeichnen kein authentisches Bild der tatsächlichen Lebensweise indigener Völker in Nordamerika. (Titelei)

Wenn man jedoch den historischen Maßstab an dieses populäre und für die Leseförderung als reines und ggf. etwas triviales Lesefutter anlegen will, dann sollte man folgende Textteile nicht außer Acht lassen, die sehr wohl – für Kinder zugeschnitten und natürlich vereinfacht und verknappt – in Ansätzen das sehr große Leid thematisieren, das die Siedler den Indigenen angetan haben. Allen voran verkörpert der Bösewicht und Oberdieb mit dem sprechenden Namen Todd Crow die Habgier des „weißen Mannes“. Er tritt als Personifikation eines Rabens und einer diebischen Elster in Erscheinung, wenn:

 Todd warf hektisch den Kopf herum. Winnetou sah, dass seine Augen nervös flackerten. Noch einmal flogen sie über jeden Gegenstand im Raum. Sein Kopf ruckte vor und zurück. Winnetou hatte wieder das gespenstische Gefühl, eine Krähe in Menschengestalt vor sich zu sehen. Schließlich aber hörte Todd auf zu zucken und beruhigte sich. (S. 120)

Dadurch wirkt der Bösewicht vor allem äußerlich wie eine (simple) Karikatur der Filmfigur „Lone Ranger“ (Verbinski 2013) mit Johnny Depp in der Hauptrolle. Charakterlich besteht eine Parallele zu dem verschrobenen und skurril mit einer flapsigen Ausdrucksweise dargestellten Captain Jack Sparrow aus der Filmreihe „Pirates of the Caribbean“ (u. a. Verbinski, seit 2003).

Insgesamt äußert sich Todd sehr abfällig über die Ureinwohner, sodass zumindest die Vertreibung der Native Americans durch die Siedler anklingt:

„‘Morgen ist unser Tag, der goldene Tag, sozusagen.‘ Todd prustete vor Lachen los. ‚Wenn alles nach Plan läuft, müssten unsere Freunde endlich ihr Land verlassen.‘ Das alberne Gekicher hörte auf.“ (S. 120) Er betont auch mehrfach, wie wenig in seinen Augen ein Indianerleben wert ist, indem er die von den Indianern zurückgelassene weise Frau Sikari-zinu, welche diese nicht in ein neues Land begleiten wollte, bedroht: „‘Wir werden eher sterben, als euch den Weg durch die Höhlen zu zeigen‘, antwortete sie. Todd lachte schrill. ‚Der erste Teil lässt sich schnell erledigen‘, versprach er und richtete seinen Revolver auf Sikari-zinu. Die Alte verzog keine Miene.“ (S. 160) Das grobe und lebensbedrohliche Verhalten der Siedler gegenüber den „Indianern“ findet sich auch an anderen Stellen des Romans mit Blick auf Winnetous gefangene Schwester (vgl. S. 161-165).

Dass die Native Americans aus raffgierigen Gründen von den weißen Siedlern vertrieben werden sollen, spricht Todd auch später noch einmal sehr deutlich an: „Plötzlich verzog Todd ruckartig sein Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen. ‚Es tut mir ja soooo leid, dass ihr euer Land verlassen müsst‘, sagte er höhnisch. ‚Aber wir wollen das Gold aus euren Heiligen Höhlen. Und das ist nun mal wichtiger als alles andere.‘“ (S. 130)

Noch ein drittes Mal verdeutlicht der Roman ebendiese Intention für die jungen Leserinnen und Leser, sodass diese besser verstehen, welch große Gefahr von den Siedlern für die Indianer ausgeht (vgl. S. 136 und S. 138).

Auch die nullfokalisierte Erzählinstanz kritisiert die rücksichtslose Vertreibung der indigenen Bevölkerung mit drastischen Worten: „Schon in einer Handvoll Tagen würde nichts mehr daran erinnern, dass hier viele Generationen lang Menschen gelebt hatten, die es gut mit der Natur meinten“ (S. 153). 

Des Weiteren findet das rücksichtslose Töten von Indianern durch Weiße im Buch eine zielführende Andeutung: „Meinten die [= Todd selbst und Todds Banditen; Anm. M.S.] das ernst? Winnetou hatte keinem der Männer etwas getan. Er war nur gekommen, um seinem Stamm zu helfen. Allerdings hatte er schon gehört, was die Aussicht auf Gold mit den weißen Menschen machte. Sie wurden zu Verrätern, Dieben oder Mördern. Und diese Männer hier würden einen unschuldigen Jungen lange vor seiner Zeit zu den Ahnen schicken. Sie meinten es ganz bestimmt ernst.“ (S. 140) Dieses Beispiel stellt das Motiv der rücksichtslosen Raffgier, die bis zum einkalkulierten Tod von Indianern führt, in den Mittelpunkt. Auch der sprechende Name ‚Todd‘, der das Wort ‚Tod‘ enthält, spielt offenkundig an die Tötung der indigenen Bevölkerung durch weiße Siedlerinnen und Siedler an. Und man kann von einem Kinderbuch, das sich primär an Jugendliche unter 10 Jahren richtet, kaum verlangen, dass es die Ermordung von Indianern in den Plot integriert. Diese Andeutung ist m. E. eindeutig genug, das sollten auch Kinder und deren Eltern im Sinne der Doppeltadressierung von Kinder- und Jugendliteratur verstehen. Aufgrund dieser und anderer in der Rezension erwähnten wertschätzenden Passagen gegenüber der indianischen Kultur kann m. E. nicht primär von einer kulturellen Aneignung der indigenen Lebensweise durch den sogenannten ‚weißen Mann‘ gesprochen werden.   

Fazit

Insgesamt hat der Ravensburger Verlag durch den Rückzug des Buches vom Markt der Leseförderung einen Bärendienst erwiesen. Wie viele Leserinnen und Leser wären ggf. über den Film als Brücke zum Buch zum Lesen motiviert worden? Natürlich gibt es unzählige andere Romane zur Leseförderung, aber dieser prominente (Lese-)Stoff hätte sicherlich ein größeres angehendes (Lese-)Publikum erreicht. Auch dem geschliffenen, elaborierten und gut lesbaren Stil des etablierten Autors Thilo Petry-Lassak, der sogar schon vom Bundespräsidenten Gauck empfangen wurde, wird diese abrupte Entfernung vom Markt nicht gerecht. Die Indigenen sind zwar ebenso wie die Siedler (teilweise) klischeehaft dargestellt, was durchaus zu kritisieren ist. Jedoch finden sich auch viele Hinweise auf die drastische Unterdrückung, Vertreibung und Tötung von Indianern durch die Siedler. Noch deutlichere Szenen wären für ein Kinderbuch sicher schwierig gewesen. Außerdem sollte man m. E. den Winnetou-Stoff von Karl May ohnehin als Fantasy-Literatur lesen, da er selbst bekanntermaßen erst nach dem Verfassen der Bücher zum ersten Mal in Amerika gewesen ist. Somit sollte auch bei seinem Franchise kein historischer Maßstab angesetzt werden. Wer tatsächlich denkt, dass dieses Buch und der dazugehörige Film rassistisch seien, der sollte sich ggf. erst einmal mit subtil rassistischen Filmen aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, um das Ausmaß dieser Behauptung zu erkennen. Auch der Vorwurf der kulturellen Aneignung trifft, wenn dann nur zum kleinen Teil zu, da das indigene Volk nicht abschätzig skizziert und nicht so ins Licht gerückt wird, dass die Siedler als große Helden inszeniert werden. Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall.

Statt eines close-readings scheinen die (nicht selten anonymen) Hater (aus dem Netz) – ich meine damit nicht die fachkundigen Kritiker und Kritikerinnen mit sachlich fundierter und zielführender Kritik, das Buch zum Film nur überflogen zu haben oder sich generell an der Thematik der Indianer, geschildert aus einem europäischen Blickwinkel, gestört zu haben, da deren Pauschalurteile m. E. weniger zutreffen. Der Ravensburger Verlag täte m. E. gut daran, den Titel zu überarbeiten, indem manche zu klischeehaften Szenen wie der Büffeltanz oder die Blutsbrüderschaft durch andere Rituale zu ersetzen wären. Man könnte diese natürlich auch ganz weglassen. In einem erweiterten Disclaimer könnten noch die (teils problematischen) Verwendungsweisen der Begriffe „Indianer“ (kulturell abwertend für Native American; S. 59, 68, 146. Der Begriff kommt nur dreimal im Werk vor) und „Squaw“ (abwertend für eine indianische Frau, S. 7) in einen kulturellen Kontext eingeordnet werden. Man könnte diese Begriffe auch einfach ersetzen. Anstatt Bewahrpädagogik anzuwenden und die Leserinnen und Leser zu bevormunden, sollten in einer mündigen Gesellschaft m. E. die Rezipienten oder die Eltern als Vermittler selbst entscheiden, ob sie ein solches Buch (von ihren Kindern) lesen (lassen) wollen. 

Durch eine Lektüre dieses Romans könnte man die Leserinnen und Leser m. E. dazu ermuntern, sich mit der indianischen Kultur differenzierter auseinanderzusetzen, wie es auch der Verfasser dieser Rezension versucht hat, zumindest in Ansätzen zu tun. Es ist zu hoffen, dass dieser Titel nach einer Überarbeitung wieder auf dem Markt landet, damit nicht die teils anonymen und sehr lauten Querulanten am Ende auch das letzte Wort haben. 

Literaturhinweis:

Finan, Karin: Was ist was. Indianer. Die Ureinwohner Nordamerikas, Tessloff: Nürnberg 2014. 

Filmhinweis:

Stölzl, Philipp: Winnetou – Der Mythos lebt (dreiteiliger Fernsehfilm: Teil 1: Winnetou – Eine neue Welt. Teil 2: Winnetou – Das Geheimnis vom Silbersee. Teil 3: Winnetou – Der letzte Kampf). RTL / Rat Pack Filmproduktion / Rialto Film et al. LEONINE Verleih: München 2016.

[1] Der Begriff wird in dieser Rezension neutral und nicht abwertend als Äquivalent zu Native American oder indigene(r) Einwohner*in verwendet.

Titel: Der junge Häuptling Winnetou. Nach einem Drehbuch von Mike Marzuk und Gesa Scheibner
Autor/-in:
  • Name: THiLO
Erscheinungsort: Ravensburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Ravensburger Verlag
ISBN-13: 978-3-473-49661-7
Seitenzahl: 183
Preis: 14,99 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
THiLO: Der junge Häuptling Winnetou. Nach einem Drehbuch von Mike Marzuk und Gesa Scheibner