Inhalt

Jack und ihr Bruder Birdie müssen umziehen zu ihrem Onkel Patrick, der das genaue Gegenteil seines Bruders Carl ist, bei dem Jack und Birdie bisher nach dem Tod ihrer Mutter – Carls und Patricks Schwester – gewohnt haben. Während Carl den Geschwistern nahezu alles hat durchgehen lassen, ist sein Bruder Patrick ein Ordnungsmensch, dessen Leben strukturiert nach Regeln funktioniert. Und so passt es auch nicht in sein Weltbild, dass Birdie Lipgloss, bunte Leggings und Modemagazine mag. Als genau das Birdie in der Schule zum Verhängnis wird und Teddy Garner, Tyrann der Schule, ihn zu mobben beginnt, spricht Patrick ein Machtwort und verbietet Birdie, in seinen bunten Kleidern zur Schule zu gehen. Je länger er jedoch mit Jack und Birdie zusammenlebt, desto deutlicher wird ihm bewusst, dass Birdie genau richtig ist, wie er ist, und er ergreift Partei: 

„Erzähl du mir nicht, was ich brauche!“ Ross schlägt mit der Hand auf sein Auto. „Du willst doch bloß ablenken, um nicht über den kleinen Schwuli zu reden, und das weißt du auch.“

Plötzlich knallt Patrick die Tür seines Pick-ups zu und macht ein paar Schritte nach vorn. Alles geschieht fast blitzartig, wie in einer einzigen Bewegung. Noch nie habe ich gesehen, dass Patrick sich so schnell bewegt. „Nenn ihn nie wieder so. Nenn diesen Jungen nie anders als bei seinem Namen: Birdie. Dieser Junge muss von niemandem zurechtgebogen werden, weder von dir noch von sonst jemandem. Und jetzt steig in dein Auto und verschwinde.“ (S. 217)

Und während Jack gleichzeitig versucht, auf ihre Art die Erinnerungen an ihre Mutter am Leben zu erhalten und zugleich Birdie zu behüten, erkennen sie und Birdie, dass jeder auf seine Art versucht, die Familie zu beschützen und auch jeder auf seine Art um verlorene Menschen trauert.

Kritik

Nuanez lässt Jack die Geschichte ihrer Familie erzählen und Stück für Stück werden die Leser*innen mit den einzelnen, in ihrer Konzeption durchweg überzeugenden Akteur*innen vertraut gemacht, die sich als Identifikationsfiguren anbieten und deren Handlungsmotivation zunehmend nachvollziehbarer wird.

Vor dem Hintergrund des Verlusts von Jacks und Birdies Mutter, der die ganze Handlung erst in Gang gesetzt hat, sind es die konträr angelegten Figuren, die für Spannungen im Rahmen der Narration sorgen. Kontrastreich sind vor allem die Brüder Carl und Patrick angelegt. Während Carl mit den Kindern keine Schwierigkeiten hat, erscheint Patrick überfordert, was zunächst jedoch nicht explizit thematisiert wird, sondern sich implizit durch Patricks Regeln manifestiert.

So schlägt sich die Hilflosigkeit von Patrick, der nicht weiß, wie er mit Birdies Identität umgehen soll, die so gar nicht in sein von Regeln und Normen geprägtes Weltbild passen will, zunächst in Verboten nieder, von denen er glaubt, dass sie Birdie (be)schützen werden:

Patrick lässt seine Gabel auf halbem Weg zum Mund in der Luft schweben. „[…] Birdie muss lernen, wie er sich unauffällig in die Gemeinschaft einfügt.“ Seine Stimme ist laut und kiesig. „Ihr lebt nicht mehr bei meinem Bruder. Birdie kann nicht so rumlaufen, wie er möchte. Sich anziehen, wie er möchte.“ Er schiebt die Gabel in den Mund. „Er macht sich nur selbst zur Zielscheibe. Und Weglaufen löst das Problem nicht.“

„Aber er macht doch nichts Falsches!“

„Das steht gar nicht zur Diskussion.“ Patrick sieht mich über seine Gabel hinweg an. „Ich hab morgen Arbeit im Nachbarbezirk, die kann ich unmöglich absagen. Du musst mit ihm zu Hause bleiben. Ich ruf bei dir in der Schule an und sage Bescheid, dass du morgen nicht kommst. Ich bin gegen Mittag zurück.“ Er trinkt einen Schluck Wasser und wischt sich den Mund ab. „Du sorgst dafür, dass er im Haus bleibt. Nicht draußen herumläuft und auch nicht mit dem Bus fährt. [….]“ 

Patrick steht auf uns geht zur Spüle. „Ihr zwei müsst lernen, euch anzupassen.“ Er spült seinen Teller und sein Glas ab und gibt ein paar Tropfen Spülmittel auf einen Schwamm. „Ihr könnt nicht einfach die Schule schwänzen oder auf andere Art Ärger machen. Ich weiß, Carl hat euch alle möglichen Freiheiten gelassen, aber damit ist jetzt Schluss. Es hat keinem von euch gutgetan.“ (S. 131-132).

Patricks Strenge, die in diesem Zitat deutlich zum Ausdruck kommt, steht Carls Nachlässigkeit und Gutmütigkeit gegenüber, und doch verbindet beide der Tod ihrer Schwester, der erst dazu geführt hat, dass Jack und Birdie in deren Leben getreten sind. Das führt dazu, dass sich die Nachlässigkeit Carls ändert und er mehr Verantwortung zeigt, während sich Patricks Strenge und damit verbunden auch seine Vorstellungen davon, wie ein Leben zu verlaufen hat, ändern. Vor allem Patrick macht in dieser Hinsicht eine deutliche Veränderung durch, nachdem er zum einen zunehmend vertrauter wird mit Birdie und Jack, zum anderen erlebt er hautnah mit, wie Birdie diffamiert wird. Patrick erkennt, dass Birdie genau richtig ist, wie er ist, so dass er in der Lage ist, ihn aktiv in Schutz zu nehmen und nachhaltig zu verteidigen.

Nuanez präsentiert ihre Figuren durchweg als vielschichtig und wandelbar und zeigt, dass sie in der Lage sind, gegenwärtige Lebenssituationen beständig neu zu bewerten, aber auch rückblickend vergangene Lebenssituationen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. So gelingt es zum Beispiel Jack zu artikulieren, dass sie nicht immer die Rolle der Erwachsenen übernehmen wollte in den depressiven Phasen ihrer Mutter, obwohl sie sich auch wohlwollend an die Worte ihrer Mutter erinnert. Je mehr Jack in die Leben der anderen Familienmitglieder eintaucht, desto differenziert werden ihre eigenen Erinnerungen an ihre Mutter und ihre verklärte Sicht weicht einer ‚kritischen Bestandsaufnahme‘, in denen Rahmen Jack sich auch fragt, ob sie das Recht hat, wütend auf ihre Mutter zu sein.

Mit Janet, Jacks Freundin, hat Nuanez eine weitere starke Nebenfigur geschaffen, die unbedingt Friseurin werden will, und die mit tiefgehenden Fragen Jack und Birdie zum Nachdenken bringt, während ihr Wohnwagen, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter lebt, den Geschwistern Sicherheit gibt: „[…] die Luft ist warm, so als wäre das hier unser eigener ‚sicherer Hafen‘ […] Ein sicherer Hafen, das ist ein Ort, an dem man Schutz und Sicherheit findet – ein Zufluchtsort.“ (S. 211)

Diese ganzen zutiefst individuellen Charaktere verbinden sich in einer dichtgewebten Handlung, die in ihrer Struktur überzeugt und unterschiedliche Themen und Motive miteinander verbindet: So ist es zunächst der Ortswechsel, der zunächst zu Schwierigkeiten im Leben der beiden Geschwister führen, vor allem, da Birdie – zumindest legt es die Handlung und einige konkrete Fragen von Janet – nahe, transgender zu sein scheint (vgl. S. 209-210), was wiederum in der Schule, später dann auch im Alltag für Schwierigkeiten sorgt. Damit verknüpft ist der Komplex der Identitätsfindung der Figuren, ein Aspekt, der zunächst nur Jack und Birdie betrifft. Aber auch Carl und Patrick durchlaufen Entwicklungen, bis sich am Ende der Handlung alle Akteur*innen einander angenähert haben und nun miteinander reden.

Fazit

J. M. M. Nuanez Roman Birdie und ich ist ein beeindruckendes Debüt, das besticht durch ein ausbalanciertes Figurenensemble, das die Handlung von Anfang bis Ende trägt. Alle Akteure treffen aufeinander durch Umstände, die sie nicht gewollt haben. Nuanez gelingt es, feinfühlig im Laufe der Handlung, die sich nach und nach einstellenden Veränderungen zu zeigen, die entstehen, wenn fremde Menschen aufeinanderprallen – selbst wenn es die eigene Familie ist – und im Umgang miteinander wachsen. Dabei gelingt es ihr zudem, Themen einzubinden, die hochaktuell sind und das Identifikationspotential der Figuren zusätzlich erhöhen.

Titel: Birdie und ich
Autor/-in:
  • Name: Nuanez, J. M. M.
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Birgitt Kollmann
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: dtv
ISBN-13: 978-3-423-64095-4
Seitenzahl: 288
Preis: 15,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Nuanez, J. M. M.: Birdie und ich