Inhalt
„Mein Freund Winnetou“ ist eine Nacherzählung des Romans „Winnetou 1“ von Karl May, wodurch die zentralen Themen und Handlungselemente des 1892 für Erwachsene veröffentlichten Romans auch Kindern in Textform zugänglich gemacht werden.
Die Geschichte spielt in den 1860er Jahren im Wilden Westen Nordamerikas, wo Charley als Neuling beim Bau der Eisenbahn mithilft. Dabei kommt es zu Konflikten mit Mescaleros, einer indigenen Gruppe, bei denen Charley, der mittlerweile Old Shatterhand genannt wird, auf Winnetou, den Sohn des Anführers der Mescaleros trifft. Sam Hawkens, ein väterlicher Freund von Charley, ruft die Kiowas zu Hilfe, um den Bau der Eisenbahn zu Ende zu führen. Charley will den Mescaleros helfen und befreit Winnetou und seinen Vater Intschu-tschuna unbemerkt aus der Gefangenschaft der Kiowas. Dennoch spitzt sich die Auseinandersetzung zu; Charley und seine Freunde werden Gefangene der Mescaleros. Während Winnetous Schwester den verletzten Charley gesund pflegt, versucht Charley Winnetou seine Absichten zu erklären. Dennoch muss Charley in einem Zweikampf um sein Leben gegen Intschu-tschuna antreten. Durch eine List schafft er es schließlich, den Zweikampf zu gewinnen, ohne seinen Gegner zu verletzen. Nun gelingt es ihm auch, Winnetou mit einer Haarsträhne zu beweisen, dass er ihn und seinen Vater befreit hat, den Mescaleros also stets wohlgesonnen war. Darauf hin schließen Winnetou und Charley Blutsbrüderschaft.
Kritik
Besonders positiv an diesem Kinderbuch fallen die abschließenden, kurzen Informationstexte zu Karl May und seiner Zeit auf, da die kindlichen Rezipient*innen die Entstehungszeit der Ursprungserzählung Winnetou 1 besser nachvollziehen können und so die Chance haben, das Gelesene und die Figuren des Werkes als fiktionale zu verstehen. Die Wichtigkeit dieser Einordnung ist im Hinblick auf die Darstellung indigener Kulturen und ihrer Riten erforderlich, da die von Karl May entwickelten Figuren nicht mit indigener Geschichte und Lebensweisen gleichzusetzen sind: Das beschriebene Ritual der Blutsbrüderschaft zum Beispiel ist eine germanische Sitte und war nie ein indigenes Ritual. Auf die Verwendung des Begriffes „Indianer“, welcher im Buch als Bezeichnung für Indigene genutzt wird, wird jedoch nicht eingegangen. Dies ist schade, da gerade diese Begriffsverwendung Reflexionsprozesse anregt, da kein Konsens unter Indigenen besteht, wie mit dem Begriff umzugehen ist. Insbesondere nach der Debatte nach dem Stopp von Veröffentlichungen von Büchern zum Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ durch den Ravensburger Verlag wäre eine altersgerechte Reflexion zur Begriffsverwendung für Lesende sinnvoll gewesen.
Beispielhaft für den Text kann dieses Zitat stehen, an dem die textliche Reduktion im Vergleich zum Ursprungstext mit kurzen Sätzen und klarer wörtlicher Rede deutlich wird.
„„Wenn es so aussieht, als würde ich ertrinken, sind wir gerettet.“ flüsterte Old Shatterhand dem verblüfften Sam zu.
Dann spielte er den Einfaltspinsel, der kaum schwimmen kann, und täuschte die Indianer geschickt. Als er im Fluss unterging, glaubten sie, er sei ertrunken. Niemand sah, wie er zwischen dem überhängenden Gestrüpp am Ufer Luft holte.“ (S. 45)
Die Nacherzählung ist hinsichtlich der Länge der Sätze und der Wortwahl für leseungeübtere Rezipient*innen konzipiert und gerade im Vergleich zu Winnetou 1 textlich deutlich entlastet. Die vorkommenden Themen Freundschaft und Abenteuer sind für Grundschüler*innen altersgerecht aufbereitet, wobei ein Spannungsbogen aufrechterhalten wird, welcher die Lesemotivation erhöht. Die Identifikationsfigur Charley ist zwar erwachsen, bietet Kindern jedoch durch die ihnen vertraute Situation, Neuling zu sein und Dinge erst lernen zu müssen, Identifikationsmöglichkeiten und positive Beispiele für den Umgang mit Konflikten, da die Figur vorurteilsfrei auf andere Menschen zugeht und Gewalt vermeidet. Es werden handelnde Figuren aus verschiedenen indigenen und nicht-indigenen Kulturen eingeführt, wobei positive und negative Attribute unabhängig von der kulturellen Zugehörigkeit dargestellt werden. Eigenschaften wie Ehrlichkeit und Mut werden positiv dargestellt und finden sich bei vielen handelnden Figuren unterschiedlicher Kulturen, wodurch Vorurteile abgebaut werden. Die als besonders positiv herausgestellten Eigenschaften können Kinder auf ihren Alltag übertragen und auf diese Weise Möglichkeiten zum produktiven Umgang mit Auseinandersetzungen kennenlernen.
Das Kinderbuch ist durchgehend farbig illustriert, wobei auf jeder Doppelseite eine größere Illustration platziert ist. Diese begleiten den Text und bilden Teile der Handlung ab, wobei sie passend zum Inhalt des Textes platziert sind. Die Figuren sind stets in gleicher Weise in Bezug auf Kleidung und Aussehen dargestellt, sodass diese auch von Kindern problemlos wiedererkannt werden. Bedauerlicherweise reproduzieren einige Illustrationen, auf denen indigene Figuren vorkommen, von Karl May nicht benannte und im Text nicht vorkommende Stereotype in Bezug auf indigene Lebensweisen. So wird ein Häuptling stets mit großer Federhaube und bunt bemaltem Gesicht dargestellt, auch wenn dies in Bezug auf die Federhaube im Kontext der Handlung wenig logisch erscheint (vgl. S. 25, 26, 31). Auch wird ein Zelt mit einem Traumfänger dargestellt (z. B. S. 38, 40, 41), obwohl Traumfänger bis in die 1970er Jahre nur in wenigen indigenen Kulturen verwendet wurden und die Mescaleros laut Karl Mays Beschreibung in einem mehrstöckigen Steinbau („Pueblo“) leben. Diese Stereotypisierungen sind als negativ zu bewerten, da diese weder im Text vorkommen noch zum Textverständnis beitragen. Hier wäre es meiner Ansicht nach besser gewesen, den Beschreibungen Karl Mays zu folgen, um auch für die Fiktionalität seiner Darstellungen zu sensibilisieren.
Wünschenswert wäre in meinen Augen die Wahl einer Fibelschrift als Schriftart gewesen, da einige Buchstaben wie „a“ und „g“ verschlungen dargestellt sind, was die Lesefluidität insbesondere für ungeübte Leser*innen beeinträchtigt. Dennoch ist die Erzählung für ungeübte Lesende hinsichtlich ihrer Darstellung im Hinblick auf eine Figurenbeschreibung auf der ersten Seite, kurze Kapitel, eine große Schriftgröße und einen ausreichenden Zeilenabstand aufbereitet, sodass bei Grundschüler*innen mit durchschnittlich ausgeprägten Lesefähigkeiten davon ausgegangen werden kann, dass die Lektüre des Buches ab dem dritten Schuljahr ohne Verständnisschwierigkeiten möglich ist. Positiv auf die Lesemotivation kann sich hier nicht nur die Bekanntheit der Figur Winnetou, sondern auch bei Kindern auswirken oder zum Beispiel durch einen Besuch einer Freilichtbühne, von denen zahlreiche Bühnen im deutschsprachigen Sprachraum Stücke frei nach Karl May aufführen, in denen die Figur Winnetou vorkommt.
Fazit
Mein Freund Winnetou – Abenteuer in der Prärie bietet einen kindgerechten Einstieg in die Welt Karl Mays, wobei das Selbstlesen des Abenteuers ab der dritten Klasse gut möglich sein sollte. Obwohl die zahlreichen Illustrationen zur Erleichterung des Textverständnisses positiv hervorzuheben sind, bilden diese dennoch Stereotype bezüglich indigener Lebensweise ab. Die Identifikationsmöglichkeiten für junge Rezipient*innen bieten eine vielseitige Lektüre.
- Name: Karl May
- Name: Elena Schwarz