Inhalt
Eigentlich wartet Nemi, ein nahe des Waldes wohnendes und junges Mädchen, nur zusammen mit ihrer Schwester auf den Bus, als sie laute „Heh!“-Rufe aus dem Wald hört. Während ihre Schwester nichts zu bemerken scheint, macht sich Nemi hingegen direkt auf die Spurensuche. Als sie die menschengemachten Waldpfade verlässt, trifft sie auf einen Mann, der scheinbar aus sich stets wandelnden Naturmaterialien besteht und seine Größe je nach Stimmung verändert. Sie nennt ihn aufgrund seiner Rufe den Hehmann. Dieser kann zunächst nicht glauben, dass Nemi ihn hören konnte: „Hast du mich etwa gehört? […] Nein, nein. […] Mich hört schon lange niemand mehr.“ (S. 15) und „Nichts hört man […]. Nur die Autos. Und diesen grässlichen Bus! Ich höre mich ja selbst kaum rufen!“ (S. 15 f.) Die Verfassung des Hehmann ist nämlich eng mit der Naturwahrnehmung und -wertschätzung der Menschen verbunden – wenn es dem Wald nicht gut geht oder er in seiner Relevanz vergessen wird, dann wird auch der Hehmann vergesslich und klein.
Nemi kehrt von nun an mehrfach in den Wald zurück, um den Hehmann zu treffen. Durch gereimte Lieder, Erklärungen und viele eigene Beobachtungen in Bezug auf den Hehmann, die oftmals von Nemi bildlich fixiert werden, verändert sich Nemis Naturwahrnehmung. Sie entdeckt die Vielfalt des Waldes und lernt, dass er und seine Bewohner schützenswert sind und Beachtung verdienen. Gleichzeitig hat der Hehmann damit zu kämpfen, dass er seiner eigentlichen Aufgabe nicht mehr nachkommen kann, wenn die Menschen ihn nicht mehr wahrnehmen: „Es hat niemand mehr Angst vor mir. […] Und wie soll ich den Wald beschützen, wenn niemand mehr Angst vor mir hat?“, worauf Nemi antwortet: „Ich hatte Angst um dich“. Um den Hehmann aufzubauen, zeigt Nemi ihm, zusammen mit einer alten Dame, die ebenfalls die Heh-Rufe vernehmen kann, die Darstellung von ihm in einer Kapelle und erklärt: „Es ist hier, weil du wichtig bist […]. Wir haben dich nicht vergessen. Es ist hier, weil wir dich nicht vergessen haben.“ (S. 134) Die Geschichte endet mit einem elegant verpackten Aufruf zum Schutz des Waldes: „Sie würde den Hehmann nicht alleine lassen, dachte Nemi. Sie würde ihm helfen, dachte sie. Doch dabei würde sie Hilfe brauchen. Sie stellte sich fest auf beide Beine und holte tief Luft. Und dann rief sie, so laut sie konnte, damit es durchs ganze Viertel schallte. „Heh!“ (S. 138).
Kritik
Die naturnahe Geschichte wurde von Hanna Jung durch zahlreiche liebevolle und ausdrucksstarke Illustrationen in Naturfarben umgesetzt, die auch die Vielfalt des Waldes in Gestalt des immer wieder optisch anders auftretenden Hehmanns veranschaulichen. Dabei greift sie zur Darstellung auf die Gestaltungsmuster des, häufig als skulpturale Zierelemente an Gebäuden genutzten, Grünen Mannes zurück – einer Darstellungsweise die vermutlich auf die vorchristliche Zeit zurückgeht. Indem die Darstellungsweise des Hehmanns sich immer wieder verändert, wird indirekt durch Text und Bild auch die Vielfalt des Waldes, für die der Hehmann stellverstretend steht, verdeutlicht. Dies wird zusätzlich durch die sprachliche Bewusstmachung des verlorengegangenen Wissens über die Natur verdeutlicht. Der Hehmann erklärt Nemi beispielsweise, dass Namen eine Bedeutung haben:
„Du hast nur einen Namen? […] Ja, lieben deine Eltern dich denn nicht?“ […] „Vielleicht“, sagte der Hehmann, „bist du einfach nicht wichtig. Wobei das natürlich auf dasselbe hinausläuft. Du bist deinen Eltern nicht wichtig. Also lieben sie dich nicht. Also hast du nur einen Namen. Ein einziger Name ist nicht mehr als eine Notwendigkeit. Viele Namen hingegen…“ (S. 52).
Diese Aussage wird dadurch unterstützt, dass der Hehmann beispielsweise 14 verschiedene Namen für den Eichelhäher oder neun Bezeichnungen für die Heuschrecke aufführen kann und diese somit sprachlich aufgewertet werden. Später am Abend fragt Nemi ihre Schwester „Gibt es etwas, für das du besonders viele Wörter weißt?“ (S. 58) und diese antwortet: „Die meisten Wörter weiß ich für Geld.“ (S. 58). Dieser Austausch verdeutlicht, dass mittels der Sprache eine Relevanzmarkierung einhergeht – eine hohe Variation in der Benennung suggeriert somit eine übergeordnete Rolle im Wertesystem. So wird kindgerecht veranschaulicht, dass sich die kapitalistische Denkweise auch in Worten manifestiert. Daher kann eine ökologische Denkweise, die Vielfalt und Vernetzung wertschätzt, durch die Verwendung spezifischer Sprachmuster erzeugt werden – oder in Nemis Worten: „Alles, was wichtig ist, hat viele Namen“ (S. 115)
Das Werk bringt durch verschiedene Techniken die (fehlende) Wertschätzung für die Natur zur Geltung und kann sich so zum Erzeugen eines Umweltbewusstseins bei den Leser*innen eignen. So werden beispielsweise auf der lexikalischen Ebene neue Wörter für Lebewesen und Vorgänge eingeführt oder es wird auf typografischer Ebene mit unterschiedlichen Schriftgrößen gearbeitet, wodurch die Rufe des Hehmanns lauter und leiser werden, je nachdem, wie es ihm – und damit dem Wald – geht. Durch die emotional berührende und nachdenklich stimmende Geschichte des nahezu vergessenen Hehmanns wird die Natur personalisiert und bekommt wortwörtlich ein Gesicht. Dies kann den jungen Leser*innen bei der Erfassung eines komplexen Konstruktes, wie eines Waldes, helfen.
Es wird im Werk bereits früh deutlich, dass es unter anderem um den Konflikt zwischen naturbelassenen und menschenbesiedelten Gebieten geht. Die Natur wird vom Menschen immer weiter zurückgedrängt und dies wird im Werk beispielsweise zu Beginn durch die akustische Überlagerung von menschengemachtem Lärm (wie die Geräusche eines Flugzeug-Triebwerks) veranschaulicht. Am Ende bilden Wald und Stadt eine akustische Einheit, wodurch die Symbiose zwischen städtischen Siedlungen und Natur betont wird: „In der Eiche schimpfte der Eichelhäher. Ein Auto und der Bus fuhren vorbei. In einem der Häuser gegenüber zog jemand ratternd einen Rollladen hoch. Unter der Eiche scharrte die Amsel.“ (S. 138) In einer Welt, die ohne den Menschen und seine Eingriffe nicht mehr vorstellbar ist, kann dies ein guter Ausgangspunkt zur ökologischen (Weiter-)Bildung darstellen, indem die Natur in Form des stadtnahen Waldes wieder ins Bewusstsein gerückt wird, ohne menschliche Einflüsse per se zu verurteilen.
Fazit
Das Buch Nemi und der Hehmann setzt sich auf neuartige Weise mit der Natur und dem menschlichen Verhältnis zu ihr auseinander, denn mit dem Hehmann wird auf die Darstellung des Grünen Mannes zurückgegriffen. Dabei wird visuell durch abwechslungsreiche Illustrationen auf die Vielfalt des Waldes verwiesen, die auch durch eine neue Kontextualisierung von Begrifflichkeiten mit Naturbezug untermalt wird. Durch Nemi lernen die Leser*innen mehr über den Wald, wobei ein achtsamer Umgang mit der Natur und ein Hinterfragen gegebener sprachlicher Konstrukte und gesellschaftlicher Standards eingeübt werden kann. Das Werk stellt eine nachhaltig motivierte Lektüre dar, die durch ausdrucksstarke Bilder und sprachliche Neu- bzw. Umbenennungen zu einer Auseinandersetzung mit (Nicht-)Nachhaltigkeit führen kann. Der Altersempfehlung von 8 Jahren ist zuzustimmen, wenn auch in diesem Alter vermutlich eine erwachsene Bezugsperson als Erklärer*in die nachhaltige Wirkung der Lektüre verstärken kann.
- Name: Wieland Freund
- Name: Hanna Jung