Inhalt
„Ich schreibe euch, weil ich euch liebe. (…) Ich vertraue eurem Weg, den ihr geht, weil ich mir sicher sein kann, dass ihr wisst, woher ihr kommt. Lernt eure Geschichte weiter. Wenn ihr wisst, woher ihr kommt, könnt ihr unendlich weit gehen.“ (S. 10/11) Mit diesem Brief der väterlichen Erzählinstanz Mamadou an die beiden Kinder Nia und Noa, beginnt die Erzählung. Es ist ein sehr persönlicher und liebevoller Brief eines Vaters of Colour an seine Kinder, durch den zu spüren ist, wie sehr es schmerzt, immer als der*die "Andere" deklariert, exotisiert, sexualisiert und/oder kriminalisiert zu werden und der die Kinder dazu aufruft, sich selbst zu lieben und sich nicht für andere zu verbiegen. In dem konsequent zweisprachig aufgebauten Buch brechen Mamadou, Nia und Noa in einen gemeinsamen Winterurlaub nach Leukerbad (Bergdorf im Schweizer Kanton Wallis) auf. Und es ist kein Zufall, dass Leukerbad das Ziel der Reise ist: Hierhin zog sich der ebenfalls Schwarze Schriftsteller James Baldwin Mitte des 20. Jahrhunderts zum Schreiben zurück und hielt seine Eindrücke in seinem berühmten Essay Stranger in the Village (Fremder im Dorf) fest.
Auch im 21. Jahrhundert erleben die drei Schwarzen Protagonist*innen dieser Erzählung während ihrer Reise Diskriminierungen: rassistisch motivierte Übergriffe, exotisierende Zuschreibungen oder schlichtweg das nicht-mitgedacht-Werden/nicht-abgebildet-Sein. All das, was nicht-Weiß-gelesene/rassifizierte Menschen ständig erleben, beschreibt dieses Buch ungeschönt und mit großem Realitätsbezug. So wird z.B. Noa beim Aussteigen aus dem Bus von einer fremden Person einfach in die Haare gefasst. Seine Schwester Nia springt ihm helfend zur Seite, indem sie sagt: „Noa ist keine Katze, die man einfach streicheln kann.“ (S. 40/41) Die anschließende, empörte Reaktion Noas und die Unterstützung, die er auch durch eine andere Familie erfährt, die die Situation beobachtet hat, verdeutlichen eindrucksvoll, wie belastend solche Übergriffe sein können. Durch die expliziten Beschreibungen der Aktionen und Reaktionen von Täter*innen und Betroffenen in dieser und ähnlichen Situationen bietet die Erzählung den Lesenden als potenziellen Beobachter*innen von rassistischer Diskriminierung immer wieder Handlungs- und Einmischungsoptionen an.
Kritik
Wenn ich anders bin als du, bist du anders als ich ist James Baldwin gewidmet, einem der bedeutendsten US-amerikanischen Schwarzen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der sich 1951 im Schweizer Kurort Leukerbad aufgehalten hatte und auf dessen Spuren die Protagonist*innen der Geschichte im Folgenden wandeln. Vorangestellt wird der Erzählung ein Auszug aus dem Gedicht blues in schwarz weiß von May Ayim - einer Pionierin der afrodeutschen Literatur - deren kurzes Leben von Kämpfen gegen Rassismus und für eine gerechtere Gesellschaft geprägt war. Ihre Worte und Baldwins Biografie bilden einen thematischen Rahmen, der die Erfahrungen der Protagonist*innen in einen größeren historischen und gesellschaftlichen Kontext einbettet.
Den insgesamt 19 sehr kurzen Kapiteln wird jeweils eine bunt-poppige Illustration von Ivie Ada Onaiwu vorangestellt. Die Arbeiten der Künstlerin of Colour, die in Deutschland lebt und arbeitet, sind oft von Themen wie Identität, Diversität und gesellschaftlichen Herausforderungen geprägt. Neben dem Grafikdesign hat Ivie Ada Onaiwu ihre kreative Arbeit auch auf handgetuftete Teppiche ausgeweitet. Ihre Designs, die oft von dem Gefühl des „Zuhause-Seins“ inspiriert sind, transportieren politische Botschaften und setzen Impulse zur Förderung des sozialen Wandels.
In dem vorliegenden Kinderbuch fangen ihre stilisierten, farbenfrohen Illustrationen die Emotionen der drei Hauptcharaktere auf eindrucksvolle Weise ein und verstärken die Erzählung durch eine visuelle Sprache, die der Schwere der Thematik eine wunderbare Leichtigkeit entgegensetzt. Der zweisprachige Text – mit französischen und deutschen Passagen in unterschiedlicher Farbgestaltung – macht das Buch besonders zugänglich für Kinder und Familien mit mehrsprachigem Hintergrund. Es fällt auf, dass viele Sätze (auf deutsch) sehr kurz und einfach aufgebaut sind und ich vermute, dass Erstleser*innen davon profitieren könnten. Außerdem wird (im deutschsprachigen Teil) durchgängig gegendert. Manchmal werden schweizerdeutsche Worte wie "schlitteln" benutzt, was die Sprache für mein Empfinden schön lebendig macht und die schweizerdeutsche Authentizität unterstreicht.
Wenn ich anders bin als du, bist du anders als ich beeindruckt durch seine unaufgeregte und episodische Erzählweise. Ohne einen klassischen Spannungsbogen zu verfolgen, begleitet die Geschichte die drei Schwarzen Protagonist*innen auf ihrer scheinbar unspektakulären Urlaubsreise. Im Mittelpunkt stehen alltägliche Erlebnisse, die mit einer beklemmenden Authentizität Situationen schildern, in denen rassistische Diskriminierung stattfindet. Mohamed Wa Baile gelingt es, diese Situationen so präzise zu beschreiben, dass die Leser*innen sowohl die Perspektive der Betroffenen verstehen als auch Möglichkeiten der Unterstützung erkennen können. Der starke Realitätsbezug wird z.B. anhand des Verweises auf den australischen Standup-Comedian Aamer Rahman deutlich, der in seinem bekannten Set „Reverse Racism“ die Absurdität des Konzepts eines „umgekehrten“ Rassismus humorvoll dekonstruiert (S. 136/137). Solche Bezüge regen dazu an, sich über die Erzählung hinaus mit den vielfältigen Facetten von Rassismus, gesellschaftlichen Machtstrukturen und historischen Hintergründen auseinanderzusetzen. Besonders hervorzuheben ist, wie das Buch bildungssprachliche Begriffe wie „Blackfacing“, „Othering“ oder „Racial Profiling“ verständlich macht. Hinter all diesen bildungssprachlichen Begriffen stehen komplexe, gesellschaftliche Dynamiken. Dadurch, dass die Erzählung sich quasi an der Biographie James Baldwins "entlanghangelt", gelingt es dem Autor, sehr viele rassistische Diskriminierungsformen scheinbar beiläufig zu thematisieren und sie dabei auch immer in ihrer historisch begründeten "Entstehungsgeschichte" (Stichwort: Kolonialismus) und ihrer gesellschaftlichen Verankerung zu beleuchten. Diese komplexen Zusammenhänge auf einer Ebene zu verhandeln, die (auch) für Kinder gut verständlich und nachvollziehbar ist - das ist absolut beeindruckend!
Mohamed Wa Baile hat Islamwissenschaften und Peace Studies in der Schweiz studiert und ist in mehreren antirassistischen Kollektiven aktiv, so z.B. in der "Allianz gegen Racial Profiling" (Mitbegründer), bei den „#youngblackpanthersbern“ und beim „Berner Rassismus Stammtisch". Außerdem hat er in einem beispielhaften Prozess über insgesamt 9 Jahre hinweg vor verschiedenen gerichtlichen Instanzen dafür gekämpft, dass rassistisches Profiling als institutioneller Rassismus anerkannt wird. Nachdem er 2015 selber in eine Polizeikontrolle geriet und sich mutig weigerte, sich (ohne Grund!) auszuweisen, hat er nun im Februar 2024 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht bekommen - ein Meilenstein für von rassistischer Diskriminierung betroffene Personen!
Fazit
Ich vermute, dass so ein authentisches Buch nur von jemandem geschrieben werden kann, der*die selbst Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung gemacht hat. Die Authentizität der Erzählung speist sich dementsprechend auch stark aus den persönlichen Erfahrungen des aktivistischen Autors.
Aufgrund der einfachen, klaren Sprache und der episodischen Erzählweise eignet sich das Buch bereits für Kinder ab ca. 8 Jahren – insbesondere für gemeinsames Lesen und Gespräche in der Familie oder im schulischen Kontext. Gleichzeitig bietet es durch die zahlreichen historischen und gesellschaftlichen Bezüge auch für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene wertvolle Denk- und Reflexionsanstöße. Hervorzuheben ist außerdem, dass es von einem Schwarzen Autor stammt, denn die Stimmen von Schwarzen Autor*innen sind im deutschsprachigen Literaturbetrieb nach wie vor unterrepräsentiert.
Es ist an der Zeit, dass sich das ändert! Il faut que les choses changent!
- Name: Mohamed Wa Baile
- Name: Karin Vogt
- Name: Ivie Ada Onaiwu
