Inhalt

Flo lebt auf der Straße. Auf der Flucht vor anderen Streunern und der Suche nach Futter und Schlafplätzen hat der Mischlingshund gelernt, sich ganz klein zu machen. Denn nur, wer nicht auffällt, überlebt. Flos stille Einsamkeit nimmt ein Ende, als er auf die Straßengäng trifft: ein buntes Pack Tiere von der Straße, bestehend aus Dackel Rakete, Ratte Kräcker, Waschbär Murmel und Papageiprinzessin Kara. Die Straßengäng hat sich in einem alten Kiosk ein gemütliches Zuhause eingerichtet und nimmt Flo wie selbstverständlich bei sich auf. Gemeinsam wühlen sich die fünf durch die Mülltonnen ihres Kiezes, stibitzen Hundekuchen aus Fahrradgepäckträgern und helfen sich gegenseitig und auch anderen Tieren, wo sie nur können – ganz nach dem Motto: "Einer für alle und für uns nur das Beste!" (S. 42) In ihrem Viertel haben sie das Sagen – und das alles singend, lachend und mit einem einzigartig kiezigen Charme.

Selbst als der alte Kiosk abgerissen wird und die Straßengäng von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause verliert, weigern sich die fünf Überlebenskünstler*innen, die Köpfe in den Sand zu stecken. Ihre Suche nach einem neuen Zuhause führt sie schließlich in ein nobles Stadtviertel, das zu schön wirkt, um wahr zu sein. Die Straßen dort sind sauber, die Rasenflächen gepflegt und die Gebäude verschnörkelt und verziert. Der einzige Haken: Dieser noble Ort wird bereits von einer anderen Tiergruppe als Revier markiert: Der schnöseligen ‚Elitegäng' – und die kommt gar nicht erst auf die Idee, ihr Revier zu teilen …

Kritik

Wie Titel und Umschlag bereits suggerieren, sind die fünf Mitglieder der Straßengäng das Aushängeschild des Romans. Noch vor Handlungsbeginn werden sie auf zwei separaten Doppelseiten durch Illustrationen und schnittige Kurzcharakterisierungen vorgestellt. Am Ende des Romans gibt es sogar ein Persönlichkeitsquiz mit vier Fragen, das Leser*innenverrät, welche der Figuren ihnen am ähnlichsten ist. Bei Flo, Rakete, Murmel, Kräcker und Kara handelt es sich aber um deutlich mehr als niedliche Maskottchen mit Identifikationspotenzial, denn sie verkörpern die zentralen Werte des Romans: Freundschaft, Zusammenhalt und Akzeptanz. Durch ihre Charaktereigenschaften und persönlichen Vorgeschichten heben sie sich klar voneinander ab und entwickeln sich im Verlauf der Handlung. So teilt nicht nur die vorlaute und kratzbürstige Ratte Kräcker seine verborgene Schüchternheit mit den Freund*innen, sondern auch Mischlingshund Flo lernt, dass man sich wahren Freunden gegenüber nicht ständig beweisen muss. Die grenzenlose unvoreingenommene Akzeptanz, die die Straßengäng nicht nur untereinander, sondern auch anderen Tieren entgegenbringt, kann Leserinnen und Leser aller Altersstufen inspirieren.

Die sechs Gegenspieler – Mitglieder der schnöseligen Elitegäng – werden mit Illustrationen und Steckbriefen ebenso prägnant in Szene gesetzt wie die Straßengäng, erfahren im Handlungsverlauf allerdings eine andere Behandlung. Dass sich Dobermann Sissi laut seinem Steckbrief immer noch als Welpe fühlt (vgl. S. 9), wird im Text des Romans, der ihn als blutrünstigen, kaltherzigen Strippenzieher inszeniert, ausgespart. Das Gleiche gilt für die anderen Mitglieder der Elitegäng, die sich der Straßengäng gegenüber durchgehend feindselig zeigen und sie aufgrund ihres Aussehens und ihrer sozialen Herkunft verurteilen. Die quirligen Details aus ihren Steckbriefen wie Pudel Madonnas Allergien oder Chihuahua King-Kongs Selfiecam bleiben größtenteils auf der Strecke. Ihre ausgrenzenden Handlungen und harten Worte ("[Eure Geschenke] will keiner haben! Genauso wie euch!", S. 143) lassen sie als unverbesserliche Fieslinge dastehen, die am Ende des Romans gnadenlos bestraft und auf unbestimmte Zeit in ein Tier-Erziehungsheim geschickt werden. Dieses harte Schicksal sorgt durch die anfangs wohlwollende Inszenierung der Bösewichte beim Lesen für Dissonanz.

Ansonsten gelingt es der Handlung, eine klare Botschaft zu transportieren – aber ohne sich in allzu tiefe Gewässer zu begeben. Das abweisende Verhalten der Elitegäng gegenüber der Straßengäng öffnet Diskurse zu Klassismus und Fremdenfeindlichkeit, allerdings bleibt deren Auflösung im Roman oberflächlich und bestenfalls subtil systemkritisch. Anstatt das Klassensystem aufzulösen, gelingt der Straßengäng lediglich eine Art Unterwanderung; die Elitegäng zeigt keine Einsicht und das Viertel bleibt Tieren aus unteren sozialen Schichten weiterhin verschlossen.

Der Weltenbau hängt sich ebenfalls nicht an Details auf und lässt einige Fragen offen, beispielsweise nach den Besitzer*innen der Elitegäng, die ihre Haustiere jederzeit frei durch die Nachbarschaft streifen lassen, oder auch der technologischen Funktionsweise von "Dogstagram" und "Dogfluencern". Allerdings wird durch die humorvolle Erzählstimme und ihre ironischen Kommentare deutlich, dass das Konstruieren einer logisch-realistischen Diegese kein Anspruch ist, den Die Straßengäng für sich erhebt. Die heterodiegetische Erzählinstanz verfügt über mehr Wissen als die Figuren und hat Einsicht in ihrer aller Innenleben; es wird durchgängig die Nullfokalisierung verwendet. Am häufigsten wird mit den Leser*innen aber die Gefühlswelt des Protagonisten Flo geteilt, was ein höheres Identifikationspotenzial ermöglicht:

[…] jetzt stand Flo hier auf der Straße in einer völlig fremden Gegend. Ganz allein. Ein merkwürdiges Gefühl schnürte ihm die Kehle zu. So hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er sich frisch von seiner Mutter und seinen Geschwistern getrennt und nicht gewusst hatte, ob er es wirklich schaffen würde, allein zu überleben. (S. 75-76)

Die Tatsache, dass die Erzählinstanz über mehr Wissen als die Figuren verfügt, wird den Leser* gelegentlich in humorvollen Kommentaren offenbart:

Es war ein regnerischer Frühlingstag, als der kleine Laternenpinkler hinter ein paar Mülltonnen als Letzter von sieben Welpen auf die Welt kam. Er plumpste geradewegs auf einen alten Pizzakarton, der zwischen einer verschimmelten Bananenschale und einer zerbeulten Coladose lag. All das konnte er allerdings selbst nicht sehen, denn Hunde werden blind geboren. Nicht gerade die beste Ausgangslage für ein Leben auf der Straße, nicht wahr? (S. 14)

Dass der Roman mit einem Augenzwinkern erzählt ist, wird von der bildlichen Sprache verdeutlicht. So verleiht beispielsweise die Ersetzung menschlicher Merkmale durch Äquivalente aus der Tierwelt der Erzählung einen tierischen Charme:

"Gurke nickte. „Ja, es sind so viele Wertsachen kaputtgegangen bei eurem Streit, dass die Herrchen und Frauchen die Schnauze, äh die Nase, voll hatten!“ (S. 199)

Meist aus dem Mund bzw. Schnabel von Kara kommen gereimte Passagen, die zum lauten Vorlesen oder gar Singen anregen:

"Dieser hübsche Bursche wurde zwischen Abfalltonnen geboren,
er hat es faustdick hinter den Ohren.
Ja, er lebte auf der Straße,
in einer schmuddeligen Gasse –
aber jetzt, jetzt ist er hier.
Los, begrüßt mit mir
Unseren Laternenpinkler: Flo!
Hat er nicht den schönsten Po?" (S. 112f.)

Zusätzlich in Szene gesetzt wird der Text durch Illustrationen von Simona M. Ceccarelli auf einem Großteil der Seiten. Meist handelt es sich bei diesen Illustrationen um Charakterskizzen, Vignetten, allerdings enthalten die Seiten in regelmäßigen Abständen auch detaillierte Szenen, die die Mitglieder der Straßengäng in all ihren individuellen Eigenheiten inszenieren. Manche Illustrationen doppeln sich im Verlauf des Buches, scheinbar unabhängig vom dazugehörigen Text. So steht im Text auf Seite 74, dass Kräcker durch einen Gullydeckel kriecht, auf der Illustration aber gräbt er sich ein Loch. Diese Text-Bild-Schere ist insbesondere deshalb irritierend, da auf Seite 44 eine in einen Gullideckel blickende Ratte zu sehen ist.

Fazit

Cally Stronks neueste Kinderbuchreihe startet voller Leichtigkeit und mit einer gesunden Prise Humor. Der Roman vermittelt Leser*innen wichtige zwischenmenschliche Botschaften über die Macht von Freundschaft, Zusammenhalt und Akzeptanz. Sozialpolitische Problematiken wie Klassismus und Fremdenfeindlichkeit werden zwar nur angeschnitten, was aber im Zusammenspiel mit dem heiteren Erzählton nicht weiter negativ auffällt. Dank des unbeschwerten Narrativs und des Textumfangs gepaart mit Simona M. Ceccarellis charmanten Illustrationen ist Die Straßengäng für Kinder ab 7 Jahren empfehlenswert.



Titel: Die Straßengäng
Autor/-in:
  • Name: Cally Stronk
Illustrator/-in:
  • Name: Simona M. Ceccarelli
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Loewe
ISBN-13: 978-3-7432-1511-5
Seitenzahl: 204
Preis: 10,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Stronk, Cally: Die Straßengäng