Inhalt
Die Ich-Erzählerin Deetje, auch Dee genannt, stellt sich die "Frage aller Fragen" (S. 8), die Quintessenz des ganzen Buches: "Wer bin ich?" (S. 8). Gemeinsam mit ihrer Mutter, deren Name zunächst unbekannt ist, wohnt sie in einem Hochhaus und kann von dort aus die Stadt überblicken. Aufmerksam beobachtet sie die Nachbarschaft und hängt kindlichen Fantasien nach.
Auf dem Nachhauseweg vom Einkauf sehen Dee und ihre Mutter den Postboten, der beim Briefkastenleeren einen blauen Brief übersieht, der von Dee vor dem Regen gerettet wird. Neugierig liest sie zu Hause den Brief, verheimlicht ihren Fund jedoch vor ihrer schnell tadelnden Mutter, mit der sie ein schlechtes Verhältnis hat. Dee vergleicht ihre Familie mit den anderen Familien im Haus, beispielsweise mit denen ihrer Freunde Vito und Kevin, und erkennt bei sich weder charakterliche noch äußerliche Ähnlichkeiten mit ihrer eigenen Mutter. In ihrer kindlichen Hybris fantasiert sie von heldenhaften Eltern und glaubt fest, adoptiert zu sein. Ihre Identitätskrise ist gleichzeitig Auslöser für ihre Suche nach Absender und Empfänger des Briefes.
Ihren Vermutungen geht Dee zunächst allein, später mit der Hilfe ihres guten Freundes Vito nach. Vito, der in Dee verliebt ist, lässt sich die Gelegenheit ihr zu helfen nicht entgehen. Ihre Nachforschungen führen sie zu diversen Personen ihrer Nachbarschaft, wie der nicht-mehr-berühmten Sängerin, dem Ehemann der 'toten Hexe' oder ihrem Sportlehrer. Alle haben eine eigene Geschichte zu erzählen, sind jedoch nicht Empfänger oder Empfängerin des Briefes. Dennoch lauschen Vito und Dee gebannt den Erzählenden und lernen verschiedene Schicksale voller Krieg, Flucht und anderen Problemen kennen. Alle vermissen jemanden, so wie Dee ihre ‚wahren Eltern‘ vermisst.
Dee redet sich immer stärker ein, nicht zu ihrer Mutter zu gehören und sucht nach Anhaltspunkten, die ihre Idee unterstützen und sie zu ihren 'wahren Eltern' führen können. Den Mut, ihre Mutter zu fragen, bringt die sonst furchtlose Dee nicht auf.
Als ihr anderer Freund Kevin eine Krise wegen seiner getrennt lebenden Eltern hat, beschließt Dee, ihm den Brief unter falschen Behauptungen zu geben, um ihn aufzumuntern. Damit ist ihre Suche scheinbar beendet.
Doch plötzlich verdichten sich die Hinweise zur Lösung der Rätsel, während Dee nach und nach mehr über ihre eigene Mutter erfährt. Die unbekannte Frau, welche Dee vor der eigenen Wohnungstür antrifft, und ein danach auftauchender zweiter Brief bilden die entscheidenden Indizien. Endlich bringt Dee es über sich, ihre Mutter zu fragen und beide Geheimnisse werden gelüftet: An wen war dieser Brief adressiert und woher kommt Dee?
Kritik
Bereits zu Anfang des Romans gelingt es , Spannung durch die Verwendung von Vorausdeutungen und Weglassung von Informationen aufzubauen: "Ich habe keinen Vater. Und meine Mutter ist eigentlich auch … Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich später." (S. 16). Die Suche nach Absender oder Empfänger des Briefes ist nur ein Ersatz für die unmögliche Suche nach ihrer vermeintlich "echte[n] Mutter" (S. 28). So begibt sich die analytische Detektivin auf Spurensuche, lernt die Geschichten ihrer Nachbarn und schreibt ihre Gedanken und Indizien in ein Notizheft:
7.19 Uhr
Ich habe viele kleine Stücke. Aber die Geschichte ist nicht rund. Sie ist zu groß. Ich muss mich auf die Suche nach der Person machen, die den Brief geschrieben hat, aber es gibt so viele Ps, Bs und Ds. Vielleicht wohnt der Briefschreiber ja ganz woanders, ganz weit weg von hier: Außerdem scheinen alle, die ich treffe, jemanden zu vermissen. (S. 72)
Was Dee vermisst, ist eine gesunde Beziehung zu ihrer Mutter, die leider von Ängsten, Zweifeln und Kommunikationsstörungen geprägt ist. Gemeinsam mit Dee erfährt man, wie es dazu kommen konnte, dass Mutter und Tochter am Stadtrand in ärmlichen Verhältnissen leben, welche von Dee als selbstverständlich angenommen werden. Das führt dazu, dass Dee neben ihrer Mutter keine andere Verwandtschaft kennt, weder persönlich noch durch Erzählungen. Nach mehrmaligem Fragen erklärt die Mutter ihr und den lesenden Kindern altersgerecht, wie sie im Teenageralter zu einer alleinerziehenden Mutter ohne Unterstützung wurde und welche Schwierigkeiten das mit sich brachte, wie ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Tochter durch lange unterdrückte Probleme. Doch das Gespräch, so emotional belastet es auch sein mag, bietet Ausblick auf eine glücklichere Zukunft ohne Geheimnisse, dafür vielleicht mit der Dee noch unbekannten Familie, die sie sich so sehr wünscht.
Die Protagonistin Deetje ist ein aufgewecktes, intelligentes und freches Mädchen. Aufgrund ihrer Einsamkeit nimmt sie häufig eine beobachtende Position ein, ist mitfühlend und reflektiert viel; "aber zwei Pluszeichen für Kreativität und Ausdauer!" (S. 36) beschreibt die Essenz ihrer Persönlichkeit am besten. Außerdem ist sie wenig an Romantik und deutlich mehr am Erforschen der eigenen Identität interessiert.
In ihrer Suche wird Dee unterstützt von Vito, ihrem besten Freund. Sie ist häufig bei ihm zuhause und hält ihn für einen der intelligentesten Menschen der Welt. Für sein Alter ist Vito auch recht informiert, allerdings ist er auch hartnäckig an einer romantischen Beziehung mit Dee interessiert. Ihre Ablehnung ist ihm egal, er drängt sich ihr stets verbal und körperlich auf, sodass seine hartnäckige Flirterei zur Belästigung wird: "Vito hat mir unbemerkt die Hand aufs Bein gelegt. Ich [...] lege sie zurück auf seinen Schoß. Nein, Vito, sage ich mit den Augen. Er grinst." (S. 100). Dieses Verhalten wird mit Vitos starker Verliebtheit begründet. An seiner Hoffnung auf die Erwiderung seiner Liebe durch seine "bella" (S. 74, 198) hält er fest, bis Dee ihn letztendlich auf die Zukunft vertröstet, da ihr die Freundschaft trotz dessen wichtig ist. Dieses wiederkehrende Motiv, welches (körperliche) Belästigung mit kindlicher Verliebtheit gleichsetzt und durch den tröstenden Schluss sogar belohnt, ist eine pädagogisch missliche Botschaft. So wird Kindern vermittelt, dass klare Grenzen anderer überschritten werden können, wenn man selbst verliebt ist, und mit genug Hartnäckigkeit ein klares 'Nein' in ein 'Ja' umgewandelt werden kann.
Auffällig ist das diverse Spektrum an Figuren, das auch durch die Verwendung unterschiedlicher Sprachen hervorgehoben wird. So wird Dee von ihren Nachbarinnen "Dushi, also 'Schätzchen' in ihrer Sprache" (S. 38) genannt; die Sprache wird nicht benannt. Teilweise kann der sprachliche Kontext von Lesenden erschlossen werden. Beispielsweise wird klar, dass Vitos Familie italienische Einwanderer sein müssen (S. 44-46). Teilweise wird Diversität jedoch klischeehaft dargestellt, so heißt beispielsweise eine Nachbarin Grazia Bengali (S. 39) – die zweithäufigste gesprochene Sprache Indiens wird kurzerhand als Nachname verwendet.
Dafür werden durch die Gespräche mit Dees Nachbarn für Kinder schwer greifbare Themen wie politische Unterdrückung, Krieg und Armut behutsam beschrieben. Die Kritik an den Problematiken in betroffenen Ländern bleibt indirekt, eine tiefergehende Auseinandersetzung bleibt aus. Da es sich aber um einen Kinderroman handelt, kann dies als altersgerechte Heranführung betrachtet und von Erwachsenen als Antriebsmoment für Informationsgespräche über unschöne Lebensrealitäten genutzt werden.
Wenig divers ist die Darstellung des Familienkonzepts, das heteronormativ bleibt: Der Grundaufbau von Mutter–Vater–Kind wird nur durch alleinerziehende und geschiedene Eltern aufgebrochen. Man erlebt kaum funktionierende Familien, sondern hauptsächlich Familien mit grundlegenden Problemen. So ist Dees Mutter aufgrund einer für sie problematischen, streng-konservativen christlichen Erziehung so stark durch diese geprägt, dass sie dennoch am Gelernten festhält, obwohl diese sie in ihre missliche Lage gebracht haben. Es wird wenig hinterfragt, wie sinnvoll oder sinnlos diese Regeln sind und was für Schäden sie verursachen können (vgl. S. 174-177, 183-188).
Die poetische Sprache Koens gibt dem Kinderroman einen melancholischen Klang und bietet Platz für emotional ausgedrückte Vergleiche: "Meine Mutter und ich sind wie zwei Sandkörner, weggeweht aus einer großen Wüste." (S. 178). Stilistisch ist der Text geschmückt mit Allegorien und Metaphern, die die emotionalen Themen für Kinder greifbarer machen. Idiomatisch scheint die Übersetzung gut gelungen zu sein.
Passend zum jeweiligen Inhalt des Kapitels gibt die Illustratorin Maartje Kuiper mit in verschiedenen Rottönen gehaltenen Illustrationen von Fenstern kleine Einblicke in das Leben Dees unmittelbarer Umgebung, wie die Rauchschwaden von Kevins Mutters Zigaretten (S. 51, 110, 179) oder die begehrten Kekse der Mama Veronica (S. 124).
Besonders deutlich wird Deetjes Charakterentwicklung in den Illustrationen dargestellt. Aufmerksamen Lesenden werden die Andeutungen nicht entgangen sein, dass Deetje eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater haben muss, denn die Mutter "ist blond. Ich habe kleine dunkle Locken. Sie hat eine helle Haut und ich eine dunkle." (S. 26). Da Dee sich dessen aber nicht bewusst ist, und darin ihre Identitätskrise resultiert, wird sie zu Beginn in einem rotbraun-weißen Farbverlauf skizziert. Nach Aussprache von Mutter und Tochter am Ende des Romans akzeptiert Dee sich in Gänze selbst und wird auch so gezeichnet.
Fazit
Enne Koens gibt mit Von hier aus kann man die ganze Welt sehen jungen Lesenden ab 10 Jahren den Anlass zur persönlichen Auseinandersetzung mit den Hauptthemen des Romans: Identität und die Bedeutung von Herkunft und Familie. Zudem ist der Roman für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2025 in der Kategorie Kinderbuch nominiert. Zwar gelingt die Darstellung unterschiedlicher politischer Themen, doch kann die Autorin das Potential ihres eigenen Werkes nicht vollends entfalten, da sie in einer streng-konservativen Darstellung des Familienkonzepts verbleibt.
- Name: Enne Koens
- Name: Andrea Kluitmann
- Name: Maartje Kuiper
