Inhalt

Der Bär ist der Neue im Zoo, der alles neugierig beobachtet. Die anderen Tiere versuchen ihm zu vermitteln, wie man sich in diesem besonderen Zoo zu verhalten hat: Männchen machen, wenn am Sonntag die Gestiefelten mit ihren Kindern vor den Käfigen stehen. Wegsehen, wenn die Gestreiften hinter dem großen, summenden, brummenden Zaun von den Gestiefelten malträtiert oder getötet werden. Vielleicht werde er dann überleben und eines Tages wieder bei seiner Mutter und seiner Schwester sein.

Und was ist mit diesem beißenden Geruch aus dem großen Schornstein? "Da gewöhnst du dich schnell dran." (S. 16), meint Papa Pavian zu dem Bären, der in seinen Augen zu viele kritische Fragen stellt. Er solle seine Nase nicht so tief in Dinge stecken, die ihn nichts angingen, sonst ergehe es ihm wie dem Nashorn. Das Nashorn aus Bengalen ist im Winter verstorben. Ob vor Heimweh, Trauer, Zorn oder zu großer Neugierde, da legen sich die Tiere nicht fest.

Das Murmeltiermädchen hat das Nashorn und sein Schicksal über den Winterschlaf bereits vergessen, obwohl es sich fest vorgenommen hatte, dass sein erster Gedanke nach dem Aufwachen dem armen Nashorn gelten sollte. Dass der Bär nicht freiwillig in diesem "Elite-Zoo" (S. 20) ist, verwundert das Murmeltiermädchen, denn "die meisten von uns Tieren hätten ihre rechte Pfote dafür gegeben, dass sie hier arbeiten dürfen." (ebd.)

Herr Mufflon kann den Bären verstehen, "wenn der Zorn einen so bei den Hörnern packt" (S. 34) angesichts der Tatsache, dass die Tiere mit ansehen müssen, wie die Gestiefelten mit den Gestreiften auf der anderen Seite des Zauns umgehen. Doch Herrn Mufflons Zorn legt sich, wenn er draußen seine Hörner ein bisschen gegen das Gatter rammt. Emotionen müssen um jeden Preis unterdrückt werden. "Sonst gibt es ein Unglück" (ebd.), meint Papa Pavian.

Doch wegsehen kann der Bär nicht, er beobachtet die Geschehnisse auf der anderen Seite des Zauns genau und wird nicht müde Fragen zu stellen. Warum es hier keine Vögel gebe, fragt er zum Beispiel, und erregt damit das Aufsehen der Tiere. Verschwunden seien die Vögel, seitdem der Schornstein in Betrieb ist.

Der Bär hält die Situation nicht mehr aus. Er gräbt sich durch einen Tunnel aus dem Gehege frei, klettert den riesigen Schornstein hinauf und verstopft ihn, sodass der Schornstein in sich zusammenfällt. Diese letzte Aktion des Bären sorgt für Aufsehen auf allen Seiten: Tiere, Gestreifte und Gestiefelte schauen fassungslos zu und fragen sich, warum der Bär das tut. Durch die Zerstörung des Schornsteins wird die Luft wieder besser und die Tiere glauben, dass die Vögel zurückkehren, doch die Körper am Himmel stellen sich als ein Bombenhagel heraus, der schließlich über dem Zoo niedergeht.

 Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute - von Jens RaschkeINSZENIERUNG: Hannah Biedermann / AUSSTATTUNG: Mascha Bischoff / MUSIK: Marie-Christin Sommer / LICHT: Ewa Górecki / DRAMATURGIE:  Angela MerlPREMIERE: 05.05.2022, Werkstatt Abb. 2 Theater Bonn Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute mit Kathrin Bill, Julia Hoffstaedter, Marie-Christin Sommer und Martin Schnippa

Kritik

Inspiriert vom Zoologischen Garten Buchenwald, der gleich neben dem KZ Buchenwald eingerichtet wurde, damit SS-Angehörige mit ihren Familien dort in ihrer Freizeit Zerstreuung und Unterhaltung finden konnten, erfindet Jens Raschke die Geschichte eines jungen Bären, der neu in den Zoo kommt und mit den Gegebenheiten vor Ort konfrontiert wird. Hierbei spielt der Autor sprachlich mit signifikanten Merkmalen des KZ Buchenwalds, die Vorstellungsbilder entstehen lassen, ohne die historischen Fakten genau zu benennen.

Neutrale Erzählstimmen (Erster, Zweiter, Dritter und Vierter) vermitteln Teile der Handlung des Stücks, in dem Tierfiguren auftreten. Jede Tierfigur macht eine eigene emotionale Haltung gegenüber bzw. Umgangsweise mit dem Geschehen deutlich. Papa Pavian versteht sich als Chef aller Tiere und versucht dem Bären gleich zu Beginn zu verdeutlichen, dass er sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen habe, weil das die Sicherheit aller Tiere im Zoo gefährde. Das Murmeltiermädchen, welches in den Augen Papa Pavians ohnehin zu jung für eine eigene Meinung sei, genießt die Annehmlichkeiten des Männchenmachens vor den Gestiefelten, welche Gehorsam mit Lollis belohnen. Es plappert unreflektiert nach, was Papa Pavian sagt, und erscheint somit als manipulierbare Mitläuferin. Herrn Mufflon wiederum macht die Situation wütend. Immer wieder setzt sich sein Zorn durch, der von seiner Frau mit dem Hinweis darauf, dass das Geschehen sie nichts angehe, in klare Bahnen geleitet wird – und zwar mit den Hörnern gegen das Gatter, bis Herr Mufflon beruhigt schlafen kann. Für das Ehepaar ist klar, dass sie selbst keine Schuld trifft und beide an der Situation nichts ändern können, sodass sie sich in Gleichgültigkeit üben müssen.

Der Bär ist weder bereit Kunststücke vorzuführen, um die Gestiefelten zu unterhalten, noch findet er eine Möglichkeit, angesichts seiner grauenvollen Beobachtungen gleichgültig zu werden und wegzuschauen. Als er deprimiert von der Situation überlegt, welche der Umgangsweisen der anderen Tiere er übernehmen könnte, merkt er, "dass schon ein anderer aus ihm geworden ist" (S. 40). Erschrocken darüber gräbt er sich aus der Bärenburg frei und zerstört den Schornstein des KZ. Ob dies eine Heldentat darstellt oder ob der Bär lediglich "einen Ort [sucht], wohin er sich verkriechen kann" (S. 43), bleibt offen. Über die Motive des Bären schreibt Raschke in seinem Text nichts, die Tat des Bären bleibt nahezu folgenlos: Zwar klart die Luft im Zoo wieder auf, doch wird er kurz darauf durch Bomben zerstört. Die sehr unterschiedlichen Umgangsweisen der Tiere sprechen für die multiperspektivische Anlage von Raschkes Text: Die Zuschauerinnen und Zuschauer bekommen keine Vorgabe, welches Verhalten richtig oder angemessen ist, jede Verhaltensweise birgt ihre eigenen Vorteile sowie ihr eigenes Dilemma.

Die neutralen Erzählstimmen fordern das Publikum dazu auf, sich einen Schwarzweißfotozoo vorzustellen, wodurch das Geschehen in die individuelle Vorstellungswelt der Zuschauenden transferiert wird. Dass es in diesem Zoo sprechende Tiere gibt, unterstreicht den fantastischen Charakter der Geschichte. Zugleich stellt Raschke an sich und seinen Text den Anspruch, historische Geschehnisse zu erzählen und damit real Gewesenes narrativ zu vermitteln. Im Rahmen seiner Vorbereitungen für das Stück nahm er selbst für den Moment die Rolle des Historikers ein, indem er Informationen über den Zoo im KZ Buchenwald suchte und sich in der Gedenkstätte damit auseinandersetzte. Die Ergebnisse seiner Recherche finden sich im Text wieder, z.B. dass es im Umkreis des KZ Buchenwald keine Vögel mehr gab, nachdem der Schornstein des Krematoriums zur Vernichtung von Häftlingen in Betrieb genommen wurde. Sprachlich hingegen werden keine Begriffe verwendet, die explizit auf die historischen Hintergründe verweisen, sondern die fiktive Perspektive der Tiere wird genutzt, um Metaphern zu finden, die einen unvoreingenommenen Blick auf das historische Geschehen ermöglichen. So werden z.B. die SS-Soldaten als "Gestiefelte", die KZ-Häftlinge als "Gestreifte" bezeichnet. 

Die Handlung ist in ihrer sprachlichen Gestaltung nicht auf emotionale Überwältigung ausgelegt, sondern ermöglicht immer wieder eine Distanzierung, ein Innehalten, und fordert damit zu einer kritischen Reflexion heraus. Die Situation der Tiere ist nicht auf den einen historischen Kontext des KZ Buchenwald festgelegt, sondern auf andere Zusammenhänge übertragbar, in denen Menschen sich übereinander erheben, einander ausgrenzen und gewaltsam ungerechte Machtstrukturen implementieren. Durch die Perspektive der Tiere, die weder Täter noch Opfer der beobachteten Verbrechen sind, wird das Publikum selbst mit der Frage konfrontiert: Wie gehe ich mit der Verantwortung um, wenn ich Zeuge oder Zeugin einer solchen Situation werde? Sehe ich hin oder schaue ich weg?

Diese zentrale Frage wird in dem Stück von Jens Raschke für junges Publikum ab 9 Jahren verständlich, eindringlich und ohne jede Form emotionaler Überwältigung thematisiert, wobei durch die Abstraktion von den konkreten historischen Ereignissen kein entsprechendes Vorwissen vorausgesetzt wird. Das Stück ist zugänglich, regt zum Nachdenken an und gibt keine Lösungen vor, sodass im Anschluss ein Diskurs über Ungerechtigkeit, Verantwortung und die realen Hintergründe des Texts entstehen kann.

Zugleich bietet der Text künstlerischen Teams am Theater viele Freiheiten: Wie konkret spielt die Inszenierung auf die geschichtlichen Ereignisse an? Wie explizit wird auf der Bühne gezeigt, wovon die Tiere lediglich sprechen? Das sind Entscheidungen, die grundlegend für eine Altersempfehlung sind und die Frage nach der Voraussetzung entsprechenden Hintergrundwissens aufwerfen. Marschieren in einer Inszenierung bewaffnete SS-Soldaten mit Hakenkreuzen über die Bühne, müssen Zuschauende das entsprechend zuordnen können. Umgekehrt ist der Grad an Abstraktion in der ästhetischen Umsetzung entscheidend dafür, ab welchem Alter das Stück zu empfehlen ist. 

Die Fotos aus der Inszenierung von Hannah Biedermann am Theater Bonn zeigen einen besonderen Grad an Abstraktheit: Die Kostüme sind in grellen Neonfarben gehalten, der Schornstein wird von einem großen hängenden Käfig verkörpert, die Bärenburg durch einen Haufen Kissen. Wieso tragen die Tiere alle Kopfbedeckungen, die sogar ihre Ohren verdecken? Wofür stehen die übergroßen Handschuhe, mit denen die Tiere nichts richtig greifen können? Allein das Kostüm fordert die Zuschauer:innen zur Entschlüsselung vielfältiger theatraler Zeichen heraus, wodurch die Inszenierung erst ab 11 Jahren empfohlen wird. Das Ensemble in dieser Inszenierung vertraut auf Raschkes Text und stellt keine spielerische Betroffenheit zur Schau.  Der Text kann seine Wirkung entfalten, ohne dass skurrile Momente ins Alberne umschlagen oder Zuschauende sich vor einer Überlast an Emotionen verschließen. Allein die Wirkmacht des Texts lässt die Zuschauenden zwar schlucken, bietet ihnen aber zugleich die Freiheit zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Handlung.

Fazit

Raschkes Stück ist und bleibt ein Kinder- und Jugendstück höchster Relevanz, da die Frage nach dem Umgang mit sozialer Verantwortung eine grundsätzliche gesellschaftliche Herausforderung darstellt, die jede und jeden betrifft. Diese Frage anhand des Holocausts zu thematisieren, klingt zunächst für Kinder ab 9 Jahren herausfordernd. Doch durch die unvoreingenommene Perspektive der Tiere und die sprachlich-metaphorische Gestaltung des Texts hat Jens Raschke es geschafft, diese komplexe Frage für eine junge Zielgruppe zugänglich zu machen, ohne emotional zu überwältigen.

Da jede Inszenierung immer eine Interpretation der zugrundeliegenden Textfassung darstellt, ist hierbei individuell zu beurteilen, inwiefern den Zuschauerinnen und Zuschauern ein eigener Vorstellungsraum eröffnet oder auf die Vorgabe von Gefühlen gezielt wird. Der Text bietet einen einfühlsamen Zugang ohne Überforderung an, zu dem auf der Bühne entsprechend offene Bilder kreiert werden können.

Im Reclam-Verlag ist der Text in der Reihe Theater der Gegenwart veröffentlicht (ISBN 978-3150144008), der Hessische Rundfunk produzierte 2015 das Hörspiel. Siehe die Kritik von Andreas Wicke https://www.kinderundjugendmedien.de/kritik/hoerspiele-und-buecher/2716-raschke-jens-was-das-nashorn-sah-als-es-auf-die-andere-seite-des-zauns-schaute-hoerspiel

Literatur

Barthel, Karl: Die Welt ohne Erbarmen. Bilder und Skizzen aus dem K.Z. Greifenverlag: Rudolstadt, 1946.

Kölsch, Thomas: Eine bedrückende Fabel auf der Werkstattbühne. „Was das Nashorn sah“ am Theater Bonn. In: Generalanzeiger vom 06.05.2022. Online abrufbar unter https://ga.de/news/kultur-und-medien/regional/eine-bedrueckende-fabel-auf-der-werkstattbuehne_aid-69210507 (zuletzt eingesehen am 21.07.2023).

Krieger, Kristina: „Es stecken zahlreiche historisch dokumentierte Einzelheiten im Text“ Jens Raschke im Interview über sein Theaterstück Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute. In: Der Deutschunterricht 2/2023, S. 91-95.

Raschke, Jens: Was das Nashorn sah als es auf die andere Seite des Zauns schaute. München: Theaterstückverlag, 2014

Abbildungen

Abb. 1 Jens Raschke, Foto: Privat

Abb. 2 Theater Bonn Was das Nashorn sah als es auf die andere Seite des Zauns schaute, Foto: Thilo Beu

Titel: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute
Autor/-in:
  • Name: Raschke, Jens
Uraufführung: Deutsches Nationaltheater Weimar, 30.04.2015
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: Theaterstückverlag
Altersempfehlung Redaktion: 9 Jahre
Raschke, Jens: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute