Inhalt
Die drei jugendlichen Mädchen Cindy, Conny und Sandy verbringen gemeinsam den Sommer im Freibad. Sie tauschen sich ständig über ihre Vorstellungen von Schönheit und Liebe aus. Ihr Objekt der Begierde ist der besonders gutaussehende Thomy. Nachdem Cindy hinter dem Rücken der anderen vermeintlich erfolgreich Thomy für sich gewinnen konnte, entwickelt sich ein offen ausgetragener Konflikt zwischen den Freundinnen, der ohnehin schon länger zu schwelen scheint. Denn der alljährliche Höhepunkt des Sommers ist nämlich ein Miss-Bikini-Wettbewerb, den Cindy jedes Mal deshalb gewinnt, weil das einzige Jury-Mitglied Cindys Vater ist. Neid und Missgunst von Seiten der beiden Freundinnen sind vorprogrammiert. Diesmal rechnet sich auch Conny gute Chancen bei der „Miss Bikini-Wahl“ aus. Ihr scheint jedes Mittel recht zu sein, Cindys Erfolgspläne zu durchkreuzen. Als Conny sogar von Thomy, mit dem Cindy schon insgeheim Heiratspläne hegte, schwanger wird, werden lange verdeckt gehaltene Animositäten ungeschminkt ausgesprochen. Die vermeintliche Freundschaft gleicht zunehmend einem Trümmerfeld aus Hass und Abscheu, einem offen ausgetragenen Kampf mit verletzenden Worten. Nachdem sich die Wogen ein wenig geglättet haben, da die schwangere Conny naturbedingt von den Wettbewerbsplänen Abstand nehmen muss, offenbart die Schlussszene wieder ein fast gewohntes Bild: Die drei Mädchen sitzen gemeinsam im Freibad. Sie ertragen sich unter nun neuen Vorzeichen auf die gewohnte Art und Weise.
Kritik
Bikini macht das alltägliche Verhandeln um Anerkennung und Freundschaft unter Freundinnen zum Thema. Es geht auch um Selbstfindung in Zeiten immer weiter zunehmenden Optimierungszwangs, um den Umgang mit Selbstzweifeln und Sehnsüchten.
Tina Müllers Theaterstück funktioniert durch die unheilvolle Zusammensetzung seiner drei weiblichen Hauptfiguren: Cindy erscheint besonders schön, arrogant, dominant und egozentrisch, ihre Freundin Conny entpuppt sich als hinterlistige, unnachgiebige Gegenspielerin. Sandy ist die Reflektierteste, aber vielleicht deshalb auch die Einsamste unter den drei allesamt innerlich Einsamen. Die drei Freundinnen können allein nicht existieren, sie brauchen sich. Ihre Beziehung erscheint als rein funktional.
Cindy, Conny und Sandy, deren Namen aus Girly-Magazinen stammen könnten, haben sich eigentlich nicht viel zu sagen und überbieten sich sprachlich wie inhaltlich in der ersten Szene mit belanglosen Gesprächen auf überschaubarem Niveau.
Cindy: Thomy ist auch so ein hübscher Name. Findest du das auch, oder nicht? Thomy ist ein sehr hübscher Name.
Conny: Wo kommt er denn her, wo kommt so einer denn auf einmal her, plötzlich, der muss doch von irgendwo kommen.
Cindy: Puh, keine Ahnung du, puh du, weiß nicht.
Conny: Ich frag mal.
Cindy: Oder ich.
Conny: Vielleicht sollte ich das fragen, sonst gibt’s ganz rasch ein Durcheinander. Manchmal geht das ganz rasch.
Cindy: Also tschüss Sandy, gell bis nachher, tschüss.
Conny und Cindy rasen wieder los und kommen auch schon wieder zurückgerast.
Cindy: Aus da und da.
Conny: Nein, dort und dort.
Cindy: Wo liegt das eigentlich?
Sandy: Irgendwo da drüben und dann rechts und dann wieder irgendwo. Stimmt ja, stimmt. (S. 3)
Tina Müller gelingt es gleich zu Beginn des Stücks, mit zahlreichen ironischen Brechungen ein ins Absurde abdriftendes Figurenportrait ihrer drei Hauptfiguren zu entwerfen, das komödiantisch wirkt, aber doch zutiefst echt erscheint. Erweitert wird die überzeichnete, platte Kommunikation in der Folge durch monologische Einschübe, in denen jedes der drei Mädchen offenherzig ihre egozentrische Selbstwahrnehmung deklariert.
Conny: Aber ich merke schon, wenn ich so vor der Kamera stehe, so ausgezogen, merke ich halt, wie verführerisch, ja genau, wie unwiderstehlich verführerisch ich grad bin. Wie schön ich eigentlich bin. Und irgendwie glaube ich manchmal, das ist doch der Zweck meines ganzen Daseins. Verführen! Nur dann nämlich, wenn ich begehrt werde, bin ich wirklich ich selbst und fühl mich dann auch stark und so und standhaft. Total ich selbst. (S. 11)
Connys Darlegungen wirken auf den ersten Blick oberflächlich bis selbstverliebt. Auf den zweiten Blick brechen im selben Atemzug mit klischeehaften Vorstellungen von vermeintlich vollkommen unreflektierten und grundnaiven Laufsteg-Möchtegern-Schönheiten. Tina Müllers Figuren deuten oft an, was nicht gesagt werden darf, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Die zu erahnende innere Trostlosigkeit, die allen drei Mädchen zu eigen ist, findet sich in Cindys Monolog.
Cindy: Die Scheinwerfer make me feel Ibiza. Nur das Licht ist manchmal etwas grell und man kann kleine geplatzte Äderchen an meinen Beinen sehen. (Überlegt kurz.) Normalerweise bestehe ich immer darauf, hohe Absätze, die lange Beine machen, zu tragen. Aber wen interessiert’s, dass ich Plattfüße habe, interessiert ja hier keinen und man sieht’s ja dann auch auf den Fotos nicht, dass ich ständig an meine Plattfüße denken musste und meine Äderchen und überhaupt, ich habe seit einigen Tagen ein paar Pickel am Rücken, ich kann mich damit eigentlich gar nicht zeigen lassen, man müsste mich krankschreiben, ich bin krank. (S. 8)
Ist es das tägliche Bemühen Cindys um das Aufrechterhalten ihrer Fassade? Oder ist selbst diese Äußerung ein Teil des Spiels mit dem Publikum, dem hier eine plötzliche, aber längst vermutete Verletzlichkeit vorgegaukelt wird, die aber im Gesamtkontext eigentlich zu viele Showelemente aufweist und sich damit wiederum selbst als falsch entlarvt? Diese Mehrdimensionalität und die ihre volle Wirksamkeit entfachende Unschärfe ist eine Qualität des Theaterstücks. Was ist Show? Was ist Wahrheit? Auch die Dialoge unter „Freundinnen“ sprechen in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit eine mehrdeutige Sprache:
Cindy: Für mich sind aber echte Auseinandersetzungen und Aussprache über modische Ketzerei in meinem doch sehr bescheidenen Alltag überlebenswichtig. Am Rande des Nervenzusammenbruchs sehe ich doch eigentlich besonders sexy aus. Ich möchte mich daher nicht ständig irgendwie gefangen fühlen in einer Umgebung, die mich dauernd versucht zu beruhigen und zufrieden zu stellen.
Conny: Aber Cindy, ich mag dich so wie du bist und akzeptiere auch, dass du mal für einige Stunden ganz normal bist, auch wenn es mich vielleicht anstrengt, mag ich auch deine ruhigen Seiten manchmal, und es gibt sogar Momente, da genieße ich irgendwie die Tiefe eines persönlichen Gespräches und fühle mich dann bei dir zu Hause. (S. 6)
Auch die Doppelbödigkeit in diesem Szenenausschnitt ist nahezu greifbar, bleibt aber bemerkenswert diffus. Die Haltungen von Cindy und Conny sind schwer zu fassen: Kläffen beide im Tiefstatus aus einer diffusen inneren Leere heraus? Oder offenbaren sich Cindy und Conny vielmehr als unnachgiebige Rampensäue, denen die Selbstinszenierung über alles geht, auch über die Freundschaft? Tina Müllers sprachliche und dramaturgische Kunstgriffe funktionieren auf bemerkenswerte Art und Weise. Die Exaltiertheit von Cindy auf der einen Seite kann erst durch die Missgunst von Conny auf der anderen Seite ihre Wirkung entfachen. Beides wirkt wie ein oft bemühtes Alltagsritual zwischen vermeintlichen Freundinnen, die in ihren Rollen innerhalb dieser vergifteten und manipulativen Freundschaft gefangen sind: Aus Connys Sicht ist Cindy besonders hübsch, aber auch unfassbar naiv. Conny genießt in Cindys Augen deshalb eine Daseinsberechtigung, weil Letztere dadurch mit noch größerer Strahlkraft wirken kann. Der kommunikative Umgang mit diesem unausgesprochenen Deal macht einen besonderen Reiz in Tina Müllers Stück aus. Er wirkt deshalb zutiefst menschlich, weil er so ungemein unmenschlich erscheint.
An einigen Stellen im Theaterstück kann man dem Paradoxon kaum ausweichen, dass die gesamte Existenz jeder der drei Mädchen an ihrer ungesunden Freundschaft hängt. Das Publikum erfährt dadurch ein tragfähiges Konzept einer Kippfigur – nämlich einer eigentlichen Anti-Freundschaft, die als „Freundschaft“ getarnt bestens funktioniert und für ihre Protagonistinnen existentiell zu sein scheint.
Conny: Dir stehen einfach diese goldene Krone und dieser Blumenstrauß so gut und dass dann alle Jungs auf dich stehen und du gratis ins Freibad kommst, das passt irgendwie auch total zu dir, muss ich sagen.
Cindy: Ich frage mich nun ernsthaft, ob ich in Türkis wieder gewinnen werde und bin so froh, dass ihr mich beraten könnt und ich euch vertrauen kann, obwohl ihr meine härteste Konkurrenz seid.
Conny: Ich habe dich eigentlich gerade deshalb so gern, weil du so schön bist.
Sandy: Und dir steht irgendwie die silberne Krone, die passt zu deinem dunklen Teint und dass dann doch auch noch einige Jungs auf dich stehen und du manchmal ein Gratiseis kriegst, das du dann gleich in den nächsten Mülleimer wirfst, das passt irgendwie einfach zu dir, muss ich sagen. (S. 10.)
Als grundlegend falsch erscheint natürlich die Gesamtkonstruktion der Miss-Bikini-Wahl, die eigentlich gar keine ist - von Sandy gegenüber Cindy treffend sarkastisch auf den Punkt gebracht.
Sandy: Diese Miss-Bikini-Wahlen sind eine alljährliche Diktaturparade, weil dein Vater sich weigert, ein zweites oder drittes Jurymitglied aufzustellen, womit er mich zwar durch seine patriarchische Führungsstärke beeindruckt, die Berechtigung deiner wiederholten Wahlsiege jedoch in Frage gestellt werden muss. (S.11).
Der Absurdität sind in diesem sommerlichen Treiben und Tun keine Grenzen gesetzt. Zudem wird Conny in der Zuspitzung des Balzkampfs mit Cindy um Thomy schwanger. Naheliegend wäre, Thomy die Vaterschaft zuzuschreiben. Aber selbst das wird plötzlich von Cindy in Frage gestellt, die vollkommen überdreht ihren eigenen Vater der Schwangerschaft Connys bezichtigt, was aus dramaturgischer Sicht gerade im Hinblick auf die Figurenzeichnung auch kaum überrascht.
Tina Müller lässt ihr Publikum oft im Unklaren – und das auf so verblüffend vielschichtige Art und Weise und so häufig, dass der eigentlich kurze Sprechtext einen mindestens doppelt so langen Subtext nach sich zieht, der Fragen nach sich ziehen muss. Man könnte meinen, die auffallend oft von der Regieanweisung verlangten Pausen haben unter anderem genau dies im Sinn: Innehalten, zwischen den Zeilen lesen, Ausgesprochenes und Unausgesprochenes soll reflektiert werden.
Das Ende von Bikini spricht diesbezüglich eine bewährt zweideutig eindeutige Sprache.
Conny, Cindy sitzen da.
Conny: Ich mach ja auch nicht mit, also.
Pause
Conny: Wegen dem Bauch.
S’ wird ja wohl keine gewinnen mit Bauch.
Oder gibt’s das manchmal, dass eine mit Bauch gewinnt?
Keine Antwort.
Conny: Und du?
Keine Antwort.
Conny: Hab dich eben nicht auf der Liste gesehen, drum. Cindy: Keine Lust.
Pause
Conny: Rausgeflogen?
Pause
Conny: Tja, wer gewinnt dann wohl dieses Jahr?
Beide schauen zu Sandy rüber.
Sandy: (ruft von weitem) Schaut mal, Thomy auf dem Zehner. Gleich springt er. Gleich springt er. Wahnsinn, er springt.
Lange Pause
Conny: Und sonst so?
Keine Antwort.
Conny: Ja, ja. Das sind nun wohl die letzten warmen Tage. Schade. (S. 21).
Die Männer kommen in diesem Theaterstück gar nicht zu Wort, treten als bloße Projektionsfläche in Erscheinung: Cindys Vater steht wenig vorteilhaft für systemisch angelegten Machterhalt mit unfairen Mitteln. Er taugt ferner auch als Mahnmal erzieherischer Verfehlung, da seine Tochter das offensichtlich manipulative Spiel gerne mitspielt. Der von den Mädchen angehimmelte Thomy überzeugt als Karikatur eines besonders männlichen und begehrenswerten Jungen, so oft lässt ihn die Autorin vom Zehnmeter-Sprungturm springen.
Fazit
In Bikini werden exemplarische Fragen aufgeworfen, die im Besonderen für Jugendliche im heranwachsenden Alter von persönlicher Relevanz sind dürften: Was bedeutet eigentlich Freundschaft? Wie funktioniert Freundschaft im besten Sinne? Wann leiste ich Widerstand, wann passe ich mich an? Worin besteht meine wahre Superkraft? Was macht mich resilient? Wie gelingt eigentlich gewaltfreie Kommunikation? Und: Welche Werte sind mir wichtig? Was bedeutet für mich Schönheit?
Bikini, für junge Menschen ab dreizehn, überzeugt als explosives und unterhaltsames Theaterstück mit teilweise boulevardesken Zügen. Auf den zweiten Blick glänzt Bikini als dramaturgisch fein kalkuliertes Vexierspiel. Gängige Klischees von Selbstoptimierung, pubertären Auswüchsen und Mobbing unter besten Freundinnen finden nur auf erster Ebene statt. Tina Müller bricht aber mit einem möglichen, dem Stück durchaus inhärenten Alltags-Voyeurismus, indem sie provoziert, ironisiert und die vermeintliche Freundschaft unter pubertierenden Mädchen gleichsam sanft wie geradezu derbe ruppig dekonstruiert. Bemerkenswert und auch hier fast schon paradox anmutend ist die zeitlose Sprache, in der die Mädchen ihre Konversation betreiben. Sie ist nie anbiedernd oder einem bestimmten Zeitgeist geschuldet. Sie verstärkt den bleibenden Gesamteindruck, dass mit Bikini ein für Jugendliche alltagsrelevantes Theaterstück von hoher exemplarischer Bedeutung vorliegt.
Literatur
Müller, Tina: Bikini. Hamburg: Rowohlt Theater Verlag, 2005
Abbildungen
Abb. 1 Tina Müller. Foto: Philipp Striegler
Abb 2. Junge Akteure Bremen "Bikini", Foto: Jörg Landsberg
- Name: Müller, Tina