Inhalt
"Das ist Lisa. […] Sie ist kein glückliches Kind." (Berg o.J., S. 3) Gleich zu Beginn des Theaterstücks wird das Seelenleben der achtjährigen Lisa auf den Punkt gebracht, die aus nachvollziehbaren Gründen kein Glück empfindet. Lisas Eltern sind seit ihrer Arbeitslosigkeit depressiv, suchen Trost im Alkohol und schaffen es nicht, sich um ihre Tochter zu kümmern. Aus Angst, in ein Heim zu müssen, vertraut sich diese niemandem an, sondern wahrt nach außen den Schein, dass in der Familie alles in Ordnung ist. Doch nichts ist so, wie man es sich für ein achtjähriges Kind wünscht. Lisa wird nicht nur von ihren Eltern vernachlässigt, sondern erfährt auch Ausgrenzung und sogar Gewalt von ihren Mitmenschen. Auf dem Schulweg wird sie täglich von älteren Jungen geschlagen oder gedemütigt, in der Schule ist sie Außenseiter, findet keine Freunde und auch ihre Lehrerin grenzt sie aus. So ist die einzige Freude in Lisas Leben ihre Beschäftigung mit dem Universum, beispielsweise durchsucht sie nachmittags mit einer Astro-Software das Weltall nach unbekannten Flugobjekten. Dabei wird Lisa eines Tages Zeugin, wie ein Raumschiff in der Nähe landet und dabei versehentlich einen jungen Außerirdischen zurücklässt, den Lisa einfachheitshalber Walter nennt. Die Außenseiterin kümmert sich um ihn und zeigt ihm ihre trostlose Welt. Walter erkennt die prekäre Situation Lisas und hilft ihr, ihr Leben zu verändern. Dann kehrt er zu seiner Familie ins All zurück. Er weiß, dass er nicht mehr gebraucht wird: Lisa wird auch ohne ihn glücklich sein.
Kritik
Sibylle Berg ist in mehrfacher Weise ein bemerkenswertes Stück gelungen. Schonungslos legt sie die deprimierende Situation eines Kindes offen. Das theatrale Mittel der erzählenden Stimme, die aus dem Off gesprochen wird, berichtet von Lisas Alltag:
Lisa hat vor allem möglichen Angst, zum Beispiel: dass es immer so bleiben könnte wie jetzt. Lisa ist zwar fast neun, aber alles alleine zu machen, die Wäsche, das Essen, die Rechnungen, nur damit keiner merkt, dass ihre Eltern in einem seltsamen Dämmerschlaf sind und sie dann in ein Heim kommt, das ist sehr, sehr anstrengend. […] Es gibt viele Kinder, die niemanden haben, der ihnen sagt, was richtig und was falsch ist, der auf sie aufpasst und sie streichelt. Aber das kann Lisa nicht wissen. Sie glaubt, sie sei die einzige auf der Welt, die allein ist, sie glaubt, sie sei selber schuld daran, dass keiner sie mag. Und nun kommt Lisa wie jeden Morgen an dem Ort vorbei, von dem sie oft sogar schlecht träumt. (Berg o.J., S. 4)
Die Stimme berichtet nicht nur von Lisas Alltag, sie weist zugleich in kommentierender Weise darauf hin, dass es keineswegs normal ist, wie das Mädchen leben muss, und dass sie nicht für ihre Situation verantwortlich ist. Auf solche Weise wird Kindern, die die Theateraufführung besuchen, vermittelt, dass auch sie nicht allein mit ähnlichen Problemen sind. Zudem kann der Kommentar der "Stimme" als spannungserzeugende Vorausdeutung gelten, denn es wird zunächst nicht gesagt, was Lisa auf ihrem Schulweg erlebt. Das klärt sich in der weiteren Handlung. Es folgt ein Dialog Lisas mit den größeren Jungen, die ihr jeden Tag auf dem Schulweg auflauern und sie quälen. Auch an diesem Tag lassen sie das Mädchen nicht in Ruhe, sondern stecken Lisa kurzerhand in eine Mülltonne. (Berg o.J., S. 6)
Doch das Stück belässt es nicht bei dieser bedrückenden Darstellung, sondern es werden auch komische und ironische Elemente, die die Dialoge durchziehen, mit der trostlosen Handlung verwoben. Beispielsweise entgegnet Lisa den großen, sie demütigenden Jungen: "Also, ich würde den Teil, in dem ihr mich quält, heute gern überspringen, ich bin spät dran." (Berg o.J., S. 5) Dieser Kommentar wirkt verstörend und lustig zugleich, da Lisa scheinbar nichts gegen die Gemeinheiten der Jungen hat, nur heute sei es eben schlecht. Auch sonst erscheint sie durchaus forsch und schlagfertig.
Abgesehen von Lisas Kommentaren kann die Figur des Hundes als weiteres komisches Element gelten. Das Mädchen wünscht sich sehnlichst einen Hund, einen Begleiter, der sie beschützt, tröstet und der ihr Wärme gibt. Diese Sehnsüchte werden aber von der Figur des Hundes unterbunden. So äußert Lisa den Wunsch, dass sie ihren Hund am liebsten ihrer Lehrerin "auf den Hals hetzen" würde, was die Figur des Hundes nur mit "Sorry, für Aktivitäten, die so aggressiv sind, stehe ich nicht zur Verfügung. Ich muss außerdem noch mein Buch fertig lesen" (Berg o.J., S. 8), kommentiert. Auch Lisas Phantasie, sich mit dem Kopf an ihren Wunschhund zu lehnen, wird zurückgewiesen: "Ich hab’s nicht so gern, wenn man mich als Kopfkissen benutzt" (ebd.). Dass der sprechende Hund hier allzu menschlich auftritt und sich seiner Rolle als Trostspender und Beschützer verweigert, reizt zum Lachen. Auf solche Weise wird der Situation die Schwere genommen. Zugleich wird eine Distanz zum Dargestellten hergestellt. Solche Ästhetik kann auch in den Erwachsenenstücken Sibylle Bergs nachgewiesen werden (vgl. Dawidowski 2020, S. 26).
Auch die Darstellung des Außerirdischen nimmt der Handlung das Bedrückende und zeigt parodistische Züge. Lisa beschreibt, dass das UFO wie ein Staubsauger aussehe (Berg o.J., S. 13), was zum Lachen reizt. Der Grund für die Erdlandung der Außerirdischen wirkt zudem allzu menschlich, denn diese haben eine Reise inklusive "Erdspaziergang, zwei Mahlzeiten, eine Übernachtung" gebucht, aber ihren Urlaub abgebrochen, weil es so kalt auf der Erde ist und ein "schwerer Meteoritensturm" naht (Berg o.J., S. 14). Überhaupt sei eine Reise zur Erde kein so beliebtes Reiseziel, wie Walter zu berichten weiß: "Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." (Berg o.J., S. 15) Die parodistischen Einschübe unterstützen die Leichtigkeit, die der Text trotz der inhaltlichen Schwere aufweist, verweisen aber auch auf die sozialkritische Haltung der Autorin.
Lisas neuer außerirdischer Freund heißt Klakalnamanazdta, so dass Lisa ihn schlicht Walter nennt. Obwohl dieser in seiner Welt ein Kind ist, umfasst sein Alter 345 Jahre – ein Widerspruch, der zum Schmunzeln anregt. Walter erzählt Lisa von seiner Kindheit, die so anders ist als das, was Lisa kennt, nämlich ein Aufwachsen in Harmonie und Wärme:
Bei uns kümmern sich die Großen um die Kleinen. Kinder dürfen rumjammern. Erwachsene nicht. So ist die Regel. Alle sind nett zu Kindern. Bei uns gibt es keine Türen, und wenn es bei dir zu Hause gerade langweilig ist, geht man in eine andere Familie. Man isst etwas, schaut Weltall, die Erwachsenen zeigen einem interessante Sachen, und es wird viel geknuddelt. (Berg o.J., S. 17)
Dass Lisa das Wort knuddeln nicht kennt, verweist wieder auf ihre traurige Lebenssituation. Diese wird auch von Walter erkannt und er beschließt Lisa zu helfen. Er verhilft ihr nicht nur mittels eines Mikrocomputers zu einem besseren Denken (vgl. Berg o.J., S. 25), sondern zeigt ihr auch, wie sie mit den älteren Jungen auf dem Schulweg umzugehen hat und wie sie in der Schule Anerkennung von ihrer Lehrerin erhält. Das führt dazu, dass Lisa der Unterricht zunehmend Spaß bereitet und sie reift (vgl. Berg o.J., S. 22). Zudem verdeutlicht Walter Lisa, dass nicht alle Kinder schlecht über sie denken, und lenkt so den Blick auf neue Freunde:
WALTER […] Okay, ein paar von den Kindern in deiner Klasse sind Arschlöcher. Ein paar sind Angeber. Aber ich sehe auch einige, die echt in Ordnung sind. Und vielleicht trauen sie sich nicht, dich anzusprechen, weil du immer Bücher liest, am Rand stehst und wirkst, als würdest du keinen brauchen.
LISA Aber …
WALTER Das „Aber“ nun wieder. Klar - du machst das, damit es nicht auffällt, dass du das einsamste Kind auf der Welt bist. Aber das wissen doch die anderen nicht.
LISA Klugscheißer!
WALTER Gern geschehen.
STIMME So hatte Lisa das noch nie gesehen. Nachdenklich wackelte sie neben Walter zurück nach Hause. (Berg o.J., S. 23)
Schritt für Schritt holt Walter die Achtjährige in das soziale Leben. Lisa findet Freunde und behauptet sich gegen die Jungen auf dem Schulweg. Als sie nachts schläft, bewegt Walter ihre Eltern dazu, sich um ihre Tochter zu kümmern und durch einen Einstieg in die Selbstständigkeit ein neues Leben zu beginnen. Lisa braucht ihren außerirdischen Freund nicht mehr, so dass dieser – wie es häufig in phantastischer Kinderliteratur ist – am Ende in seine Heimat zurückkehren kann. Zwar hatte die Achtjährige alles versucht, um ihren Freund bei sich zu halten, hatte seine Notfall-Box versteckt, damit er nicht sofort abreisen kann. Doch nachdem Lisas Leben sich derart zum Positiven verändert hat, ist der Schmerz über Walters Verschwinden zu verkraften. So berichtet die Stimme, wie sich Lisa auf den Weg zur Schule macht: "Zum ersten Mal ohne Angst, und zum ersten Mal sehnte sie sich nicht danach, erwachsen zu sein" (Berg o.J., S. 31). Und so verabschiedet sich auch die Stimme von den Zuschauerinnen und Zuschauern: "Und damit endet unsere Geschichte von Walter, von Lisa, dem einsamsten Kind der Welt. Ich muss mich jetzt auch verabschieden. Mein Raumschiff wartet." (Berg o.J., S. 32) So wird am Ende klar: Auch die Stimme kommt von einem anderen Stern. Arnd Beise deutet das als "ironische Schusswendung, mit der die Autorin signalisiert: So einfach, wie eben hier gezeigt, ist es natürlich nicht im wirklichen Leben." (Beise 2017, S. 156) Doch auch die Erzählinstanz verabschiedet sich erst, als sie nicht mehr gebraucht wird, denn es gibt nichts Negatives mehr zu berichten. Das glückliche Ende wird durch einen Song unterstützt, der noch einmal auf das Phantastische Bezug nimmt:
[…] Und wenn dann nachts die Sterne blinken,
sieht Lisa Walter heftig winken.
Sie wird ihn wiedersehen, ganz klar,
noch dieses oder nächstes Jahr. (Berg o.J., S. 32)
Fazit
Sibylle Berg gelingt es in ihrem durchaus sozialkritischen, emanzipatorischen Kinderstück, die Balance zu halten zwischen problemorientierter Literatur, die eine prekäre Kindheit darstellt, und einem Theaterstück, das unterhaltsam ist und letztlich Mut macht. Dabei erweisen sich sowohl das narrative Element der Stimme als auch die komische Figur des Hundes als innovative Elemente des häufig gespielten Stückes. Es nimmt innerhalb des Schaffens von Sibylle Berg aber auch eine Sonderstellung ein: Optimistisch ist die Autorin selten. Das Stück richtet sich an Menschen ab sechs Jahren.
Literatur
Berg, Sibylle: Mein ziemlich seltsamer Freund Walter. Stück für junge Menschen. Reinbek: Rowohlt Theater Verlag o.J..
Beise, Arnd: Ziemlich seltsame Kinderbücher. Sibylle Bergs Schreiben für „junge Menschen“. In: Sibylle Berg. Romane. Dramen. Kolumnen und Reportagen. Hg. von Anett Krause, Arnd Beise (Literarisches Leben heute Bd. 7), Frankfurt a.M. 2017 S. 141-157.
Dawidowski, Christian: Zwischen Pop und Postmoderne. Sibylle Bergs Stücke und Romane bis 2007. In: Text + Kritik. H. 225 Sibylle Berg. München: edition text + kritik, 2020, S. 20-30.
Abbildungen
Abb.1 Sibylle Berg. Foto Dominik Butzmann https://www.flickr.com/photos/re-publica/47015208194/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78927314
Abb. 2 Stadttheater Fürth Mein ziemlich seltsamer Freund Walter, Foto: Thomas Langer
Abb. 3 Stadttheater Fürth Mein ziemlich seltsamer Freund Walter, Foto: Thomas Langer
Sunna Hettinger, Hannah Candolini, Frederick Redavid
- Name: Berg, Sibylle