Inhalt
Drei Schauspieler erzählen zusammen die Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in seinem Alltag in Analogie zum Computerspiel mehrere Level bestehen muss. Als der Junge eines Morgens erwacht, findet er sich plötzlich in eine Biene verwandelt. Er fliegt durch Zimmer und Garten, befindet sich dann jedoch wieder jäh in seinem Bett. Er muss sich nun beeilen, um rechtzeitig zur Schule zu kommen – zunächst seine Kleidung zusammensuchen und sich dann an seinen arbeitslosen, zunehmend verwahrlosenden Eltern vorbeischleichen: "Am Küchentisch sitzt dein Vater. […] Der ist am Tisch eingeschlafen, […] [d]er Fernseher läuft, […] [u]nd neben ihm steht eine halbvolle Flasche Bier, […] [u]nd sieben weitere stehen auf dem Fußboden" (Schimmelpfennig 2015, S. 26). Obwohl der Junge trotz aller Vorsicht seine Eltern weckt, gelingt es ihm doch, aus dem Haus zu eilen und dieses ‚Level‘ so zu meistern: "du hast es geschafft, […] und jetzt – [k]ommt das […] nächste" (Schimmelpfennig 2015, S. 32).
In diesem befindet sich der Junge plötzlich in seinem Klassenraum, wo die Unterrichtsstunde bereits begonnen hat. Weil er auf seiner Flucht die Schultasche vergessen hat und der Tadel der Lehrerin deshalb kurz bevorsteht, scheint es für ihn nur noch eine Möglichkeit zu geben: "Du bist wieder eine Biene: Du musst dich wieder in eine Biene verwandeln – so wie heute früh." (Schimmelpfennig 2015, S. 35) Auf wundersame Weise glückt das Vorhaben, allerdings ist der Junge dann direkt mit der nächsten Gefahr konfrontiert: Seine Mitschülerin baut aus Tisch und Stuhl einen "Todesturm" (Schimmelpfennig 2015, S. 45), um von dort aus die Biene, die ja eigentlich der Junge ist, mit ihrem Schuh totzuschlagen. Der Turm bricht jedoch zusammen, wobei in einer nicht minder realitätsfernen Weise der Schuh aus ihrer Hand durch die Fensterscheibe fliegt. Durch das gesplitterte Glas kann sich die Biene dann befreien.
Im nächsten Level muss der Junge auf dem Heimweg zunächst an einem pädophilen "Seemann"(Schimmelpfennig 2015, S. 49) und anschließend an einer Gruppe von Jugendlichen vorbei, die ihn ausrauben wollen. Doch auch aus diesen brenzligen Situationen kann sich der Junge retten:
# 2
Aber du –
Kurze Pause.
du kennst dich hier aus.
Du kennst in diesen Straßen jeden Winkel.
# 3
Jeden. Das hier ist dein Revier.
# 2
Und du weißt:
Dieser Zaun hat eine Lücke. Ein loses Brett.
Kurze Pause.
Und da passt du durch.
# 3
Durch die Lücke. (Schimmelpfennig 2015, S. 56-57)
Im letzten ‚Level‘ liegt der Junge wieder in seinem Bett, wo ihm die größte Schwierigkeit des Tages bevorsteht: Er muss einschlafen, auch "wenn keiner kommt und Gute Nacht sagt" (Schimmelpfennig 2015, S. 69). Auf einmal sitzt die Bienenkönigin an seinem Bett, um ihm Mut zu machen: Sie sagt ihm, dass er etwas Besonderes sei und bereits so viel geschafft habe. Zugleich erinnert sie ihn daran, dass er zwar keine Biene sei, aber dennoch etwas Besonderes könne. Es vergeht eine "kurze magische Pause" (Schimmelpfennig 2015, S. 78) und der nächste Tag hat begonnen, der wie jeder vorherige zu werden droht. Doch dieses Mal ist etwas anders, denn der Junge wird von den erzählenden Schauspielern daran erinnert, dass er ja fliegen kann: "Und du fliegst los." (Schimmelpfennig 2015, S. 80).
Kritik
In der für Schimmelpfennig typischen narrativierenden Überbietung (Hansen 2021, S. 274) der Brecht’schen Episierungstechniken nehmen die Spielsituationen im Drama einen geringeren Umfang ein, da die Schauspieler vor allem erzählend agieren: Sie schreiben zum einen dem Jungen durch Du-Ansprachen sein Verhalten vor, zugleich verkörpern sie gemeinsam im Spiel den Jungen. Darüber hinaus agieren sie für kurze Momente auch als weitere Figuren:
# 3 als Seemann, sehr freundlich.
Hallo.
(Ich bin jetzt der Seemann)
# 1
Er sagt Hallo. Der Seemann sagt: Hallo.
# 3 als Seemann, sehr freundlich, vielleicht mit einem Regenschirm.
Na, wie geht’s. Du siehst traurig aus, ist was passiert, kann ich dir helfen? (Schimmelpfennig 2015, S. 49).
Durch diese Form der Informationsvermittlung wird die Geschichte des Jungen durchgehend von einer kommentierenden Reflexionsebene begleitet. Sie ermöglicht es zugleich, dass abrupte Raumwechsel und fantastische Ereignisse, deren Realitätsstatus vage bleibt, einfach behauptet werden können: Da der Junge sich am Anfang und am Ende der Geschichte in seinem Bett befindet, läge es nahe, sowohl die Verwandlungen als auch die Begegnung mit der Bienenkönigin als Trauminhalte aufzufassen. Eine solche auf Rationalität fußende Herangehensweise greift insgesamt jedoch zu kurz, da sich, wie der Fall vom Todesturm in der Schule zeigt, auch außerhalb der Traumwelt Unglaubliches ereignet:
# 2
Aber ihr Schuh -
Susis Schuh …
# 3
der fliegt ihr, während sie von ihrem Turm stürzt, aus der Hand…
und der Schuh rauscht knapp an dir vorbei durchs Fenster –
# 3 macht die Flugbahn nach.
Kurze Pause.
# 1
Tausend Scherben- (Schimmelpfennig 2015, S. 45-46).
Lediglich als Bildspender wird das Unrealistische hingegen herangezogen, um vom Heimweg des Jungen zu erzählen: "Es ist, als ob es Klebstoff regnen würde – […] Deine Füße sind zentnerschwer, […] Sie kleben an der Straße" (Schimmelpfennig 2015, S. 58).
Traum und Phantastik halten in diesem Jugenddrama die Wirklichkeit auf Distanz, die harte Lebensrealität des Jungen wird hingegen ohne Verklärung geschildert: Die Empathielosigkeit der Eltern wird anhand eindeutiger Versäumnisse ("Deine Mama sieht durch dich durch, als wärest du eine Glasscheibe" (Schimmelpfennig 2015, S. 62)), der ‚Abziehversuch‘ der Jugendlichen durch klare Worte und explizite Gewalt ausgedrückt: "Willst du mich verarschen, hast du keinen MP3-Player und kein Telefon? Das glaubt dir keine Sau" (Schimmelpfennig 2015, S. 56). Ob die anschließende Schlägerei gezeigt wird, bleibt Entscheidung der Regie. Da die Gewalt aber zugleich Ausweg und Lebensrealität des Jungen ist, verzichtet das Drama auf eine simplifizierende Verurteilung oder gar moralische Einordnung. Die außenstehende Erzählerrolle ermuntert den Jungen zwar, sich zu wehren: "Wenn du dich jetzt nicht wehrst, zerquetschen sie dich, und dann hast du das Level nicht geschafft -" (Schimmelpfennig 2015, S. 43). Da er in diesem Moment aber als Biene befürchten muss, von einem Schuh zerdrückt zu werden, wird offensichtlich, wie schwer sich für ihn die leicht gegebenen Ratschläge in konkreten Situationen befolgen lassen.
Fazit
Die Biene im Kopf erzählt von der tagtäglichen Odyssee eines Kindes, das ganz auf sich allein gestellt ist. Anders als im Computerspiel ist das ‚Alltagsabenteuer‘ des Jungen nicht mit Zerstreuung oder Spaß verbunden, da selbst die regelmäßige Mahlzeit zu einer nahezu unlösbaren ‚Quest‘ wird: "Level sechs. Die folgenden Schritte musst du in der richtigen Reihenfolge ausführen, […] [s]onst stirbst du" (Schimmelpfennig 2015, S. 63).
Die drei Schauspieler schreiben dem Jungen sein Verhalten über die ungewöhnliche Du-Ansprache gewissermaßen vor und lassen ihn so wie ferngesteuert wirken, da er im Angesicht der täglichen Herausforderungen auch nicht frei und unbeschwert agieren kann. Die Ansprache und der Verzicht auf direkte Realitätsreferenzen machen die Geschichte des Jungen exemplarisch zur Geschichte unzähliger Schlüsselkinder, die in ihrem Alltag auf sich allein gestellt sind. Es wird kein Ausweg oder Lehrsatz für die in der Tat unmöglich leicht zu lösende Situation formuliert. Am Ende bleibt nur die gutgemeinte Aufmunterung der Bienenkönigin, dass jedes Kind besonders sei. In ihr liegt die implizite Botschaft, dass die Umstände zwar so sind, wie sie sind, und der Junge ihnen ohne eigene Schuld ausgeliefert ist. Trotzdem gibt es einen Teil von ihm, der nur ihm gehört und von niemanden angetastet werden kann. Nette Worte zwar, aber sicher auch kein Happy End, weil Worte allein eben noch keine Veränderung der Umstände bewirken. Es bleibt offen, ob sich der namenlose Junge tatsächlich in eine Biene verwandeln kann – die jungen Menschen im Publikum haben hingegen ganz sicher nicht das Glück, in gefährlichen Situationen einfach die eigene Gestalt ändern zu können.
Die Biene im Kopf war 2018 für den Deutschen Kindertheaterpreis nominiert – 2022 ist es zudem als illustriertes Jugendbuch in Prosaform erschienen: Als Erzählung ist die Erzählweise ähnlich, und auch die Geschichte wurde für den Gattungswechsel kaum verändert.
Literatur
Schimmelpfennig, Roland: Die Biene im Kopf. Ein Theaterstück für Kinder ab 8 Jahren. Frankfurt am Main: S. Fischer Theater und Medien Verlag 2015.
Schimmelpfennig, Roland: Die Biene im Kopf. In: Spielplatz 30, Fünf Debüts fürs Kindertheater von Marc Becker, Sigrid Behrens, Finn-Ole Heinrich, Nora Mansmann und Roland Schimmelpfennig, herausgegeben von Henning Fangauf und Thomas Maagh. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2017.
Hansen, Simon: Nach der Postdramatik. Narrativierendes Text-Theater bei Wolfram Lotz und Roland Schimmelpfennig. Bielefeld: transcript 2021.
Abbildungen
Abb. 1 Roland Schimmelpfennig. Foto: privat
Abb. 2 Consol Theater Gelsenkirchen Die Biene im Kopf, Foto: Pedro Malinowski
- Name: Schimmelpfennig, Roland