Inhalt

Abweichend von der berühmten Vorlage wird die Geschichte aus der Perspektive der fünf Dienstmädchen Anne, Tillie, Clara, Flo und Effie erzählt. Diese stammen aus unterschiedlichen Haushalten und werden im Original zwar ebenfalls erwähnt. Doch agieren sie dort nur als Nebenfiguren. Die Angestellten zeichnen mit ihren scharfsinnigen Beobachtungen und süffisanten Kommentierungen ein sehr anschauliches Bild der vornehmen englischen Gesellschaft der Regency-Epoche nach. 

Im Fokus steht dabei die Familie Bennet, die aus der redseligen Mrs. Bennet, dem schweigsamen Mr. Bennet sowie den fünf heiratsfähigen, jedoch noch ledigen Mädchen besteht: der schönen und aparten Jane, der emanzipierten und sarkastischen Elisabeth, der Leseratte und Außenseiterin Mary, der sich im Hintergrund haltenden Kittie und der fünfzehnjährigen, äußerst frühreifen Lydia. 

Da in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts "Frauen [] weder Geld noch Besitz erben können" (McArthur 2019, S. 8), ist Mrs, Bennet sehr erpicht darauf, ihre Töchter schleunigst im sicheren Hafen der Ehe zu wissen. Die oftmals stattfindenden Stadtbälle der englischen High-Society erweisen sich dafür als ideale Verkupplungsbühne. Als in der Stadt das Gerücht herumgeht, dass der gutaussehende und noch unverheiratete Charles Bingley ein Anwesen in Meryton gekauft hat und auf dem Stadtball zugegen sein wird, wittert Mrs. Bennet ihre Chance. Zusammen mit ihren Töchtern wird sie am Abend den Ball in der Hoffnung aufsuchen, dass wenigstens eine ihrer Mädchen Mr. Bingley den Kopf verdrehen wird. Dort gilt es, bestimmte Verhaltenskodizes einzuhalten, wie Mrs. Bennet ihren Töchtern unmissverständlich zu verstehen gibt (vgl. Abb. 2).

Bühnenfoto 2 zu Stolz und Vorurteil Staatstheater Braunschweig komprimiertAbb. 2: Stolz und Vorurteil* (*oder so), Staatstheater Braunschweig. Mrs. Bennet (im Vordergrund, Saskia Petzold) lässt ihre fünf Töchter (v.l.n.r. Lydia (Juli Niemann, Kittie (Thari Kaan), Mary (Saskia Taeger), Elisabeth (Nina Wolf) und Jane (Nora Schulte)) „antreten“ und instruiert diese, wie sie sich auf dem Merytoner Stadtball zu verhalten haben, damit sie zügig einen reichen Ehepartner finden. Foto © Björn Hickman/stage pictures

Sie macht ihnen zudem deutlich, dass alle ledigen Frauen auf dem Ball als Konkurrenz aufzufassen sind. Als Elisabeth daraufhin entgegnet, dass sie ihre beste Freundin Charlotte nicht als eine solche begreift, entgegnet Mrs. Bennet ihrer Tochter: "Nicht heute Abend, Liz! Heute Abend ist sie deine direkte Konkurrenz. Die Lucas‘ sehen auf diese sehr offensichtliche Art gut aus. Leider Gottes wissen manche Männer …. (besieht sich ihre grundverschiedene Töchterschar) Nuancen nicht zu schätzen. Aber worauf auch immer dieser Bingely steht, wir müssen es herausfinden. […]" (McArthur 2019, S. 11). Dass seine Wahl nach kurzer Zeit auf die schöne Jane Bennet fällt, ist für jeden auf dem Ball offensichtlich: Zwischen Jane und Bingley funkt es augenblicklich. Als nun auch noch Bingleys bester Freund Fitzwilliam Darcy das Fest betritt, sind somit zwei reiche und vor allen Dingen heiratsfähige Junggesellen anwesend, auf die sich die ledigen Frauen stürzen. Doch während der charmante Bingley bei allen Anwesenden Anklang findet, hält sich die Begeisterung hinsichtlich des reichen Mister Darcys in Grenzen. Ein Dienstmädchen kommentiert sein Erscheinen und seine schnöselige Art folgendermaßen: "Mister Darcys Erscheinen hatte die Aufmerksamkeit des ganzen Saals auf sich gezogen. Er sah gut aus…er sah reich aus. Aber schon sehr bald, gab es keinen einzigen Gast, der nicht den Wunsch hegte, dieser Griesgram möge sich einfach verpissen." (McArthur 2019, S. 17). Dies liegt nicht nur in seiner schroffen Art begründet, sondern dass er sich im Gespräch mit Bingely despektierlich über alle anderen Gäste äußert und auch von der in seinen Augen wenig standesgemäßen Bennet-Familie nicht angetan ist. Mit seinen Vorurteilen schafft er es insbesondere Elisabeth zu verletzen. Diese ist jedoch schlagfertig und sprachlich ebenbürtig. Mit allen Mitteln wehrt sie sich auf verbaler Ebene gegen diese abschätzige Behandlung. Doch man ahnt bereits zu diesem Zeitpunkt, dass eine gewisse Anziehungskraft zwischen diesen beiden Kontrahenten besteht, die nach weiteren Stadtbällen, Intrigen und dem gegenseitigen Ablegen von verletzten Eitelkeiten und Vorurteilen in einer Liebesromanze (vgl. Abb. 3) samt Heiratsantrag mündet. 

 Bühnenfoto 3 zu Stolz und Vorurteil Staatstheater Braunschweig komprimiertAbb.3: Stolz und Vorurteil* (*oder so), Staatstheater Braunschweig: Zwischen Elisabeth Bennet (links im Vordergrund, Nina Wolf) und Mister Darcy (im Hintergrund im Porträt, Saskia Taeger) bahnt sich im Beisein von Dienstmächen Clara (rechts im Vordergrund, Nora Schulte) und Mrs. Gardiner (mittig im Vordergund, Saskia Petzold) allmählich eine Liebesromanze an. Foto © Björn Hickman/stage pictures

Doch bis dahin ist es noch ein langer, steiniger Weg, den das Publikum mit jede der fünf liebreizenden Bennet-Töchtern gehen dürfen – immer wieder unterbrochen von den Nervenzusammenbrüchen der egozentrischen Mutter. Die dabei jeweiligen schwankenden Gefühlslagen der Figuren wird hierbei beständig durch entsprechende Pop-Songs aus den 1980er und 1990er Jahren gekonnt untermauert. Diese sollen laut Anweisung im Dramentext als Karaoke und zumeist mit Playback eingespielt werden. In der Inszenierung des Staatstheaters Braunschweig hingegen wurden die von der Empfehlung abweichenden, teilweise auch aktuelleren Songs allesamt von den Schauspielerinnen mitreißend live dargeboten. Musikalisch wurden sie dabei von der Singer-Songwriterin Thari Kaan unterstützt. Interessant ist dabei auch die vorgenommene popkulturelle Referenz auf den inoffiziellen Soundtrack zu der Netflix-Erfolgsserie Bridgerton (2020-jetzt), die zur selben Handlungszeit spielt und ähnliche Themen wie Austen aufgreift. So singen nämlich Darcy und Elisabeth den über Instagram und Youtube verbreiteten Hit Burn for you (Barlow & Bear), als sie sich ihre Liebe eingestehen. Hieran wird auch die jugendliche Adressierung deutlich.

Kritik

Trotz der veränderten Erzählperspektive und der mit popkulturellen Einflüssen angereicherten Handlung kann McArthurs moderner Dramentext in großen Teilen als werkgetreu angesehen werden. Mit den Gefühlen hingegen, die Charlotte Lucas für ihre beste Freundin Elisabeth empfindet und die sie dem Publikum mit dem Song Everybody knows that i love you (The Devine Comedy) offenbart, kommt eine im Original nicht vorhandene Spielart von lesbischer Liebe hinzu. 

 Bühnenfoto 4 zu Stolz und Vorurteil Staatstheater Braunschweig komprimiertAbb. 4: Stolz und Vorurteil* (*oder so), Staatstheater Braunschweig: Auf dem Merytoner Stadtball versucht Charlotte (rechts im Bild, Julie Niemann) ihrer besten Freundin Elisabeth (links im Bild, Nina Wolf) ihre Liebe zu gestehen. Foto © Björn Hickman/stage picture

Mit der wiedergegebenen Innensicht Charlottes wird für heutige Rezipient:innen nachvollziehbar, dass Homosexualität zu der damaligen Zeit gesellschaftlich nicht akzeptiert wurde. Da Elisabeth Charlottes Zuneigung nicht bemerkt (vgl. Abb. 4) und daher auch nicht erwidert, entschließt sich die enttäuschte Freundin, den von Elisabeth abgelehnten kauzigen Priester Mister Collins zu heiraten. Das ist der einzige Ausweg, der sich ihr bietet, um für die Zukunft versorgt zu sein und innerhalb der Gesellschaft als vollwertiges Mitglied angesehen zu werden. Unglücklich verheiratet und völlig resigniert verändert sie sich so stark, dass Elisabeth sie bei einem Besuch kaum wiedererkennt. 

Neben gegenwärtigen gesellschaftskritischen Diskursen greift der Dramentext weitere aktuelle Themen, wie beispielsweise den Krieg, auf und stellt somit einmal mehr seine Zeitlosigkeit unter Beweis. Dass der Dramentext wesentlich temporeicher als Austens Roman empfunden wird und einer stärker feministisch orientierten Agenda folgt, liegt u.a. an den Anweisungen, dass die insgesamt 20 männlichen und weiblichen Figuren von fünf ausschließlich weiblichen Darstellern gespielt werden sollen. So übernimmt jede Schauspielerin im Schnitt vier Rollen, die in der Inszenierung nur mit einem rasanten Kostümwechsel und einem sich schnellen Einfinden in die teilweise überzeichneten Figuren zu bewerkstelligen ist. 

Fazit

Stolz und Vorurteil* (*oder so) ist ein überaus moderner und aufgrund der implementierten Songs peppiger Dramentext, der nahezu werkgetreu ist und sogar Austens humorvolle Sprache gekonnt wiederaufgreift. Er erreicht auf diese Weise sowohl Erwachsene, aber insbesondere auch ein jugendliches Publikum. In dem Text wird die damalige vorherrschende patriarchalisch geprägte Gesellschaft karikiert und das Konzept der romantischen Liebe auf frische Art präsentiert. Aufgrund des vorgeschlagenen Power-Frauen-Ensembles kann dieser als eine Hommage an die weibliche Selbstbestimmung aufgefasst werden. Zudem kann er als "aktuelle literarische Resonanz[] auf die gesellschaftliche Neuverhandlung von Liebe und Sexualität im Literaturunterricht" (Standke, 2021, S. 4) thematisiert werden, indem bislang jedoch hauptsächlich "Texte des literarischen Kanons mit deutlicher Verhaftung in historischen Liebessemantiken, die Jugendlichen fraglos interessante Alteritätserfahrungen ermöglichen, aber mit ihren Konzepten von Liebe, Geschlecht und Sexualität kaum mit der Lebenswelt der Heranwachsenden kompatibel sind" (ebd., S. 5). Also, liebe Lehrpersonen, Stolz und Vorurteil* (*oder so) hält diesbezüglich wertvolle Aspekte für die Behandlung im Literaturunterricht bereit. So können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise mit diesem Text zu moralischen Werturteilen und Reflexionen angeregt werden. Warum also nicht einmal im Rahmen des Wahlpflichtmoduls 4 des Niedersächsischen Kerncurriculums (Niedersächsisches Kerncurriculum für Deutsch, 2017, S. 33), in dem die Familie im Drama thematisiert wird zudem als mögliche Unterrichtsaspekte patriarchalische Familienstrukturen und Beziehungen und Kommunikation zwischen Geschlechtern behandelt werden sollen, diesen Dramentext besprechen und die Schülerschaft zu einem anschließenden Theaterbesuch motivieren. Es lohnt sich! 

Literatur

McArthur, Isobel: Stolz und Vorurteil* (*oder so), Deutsch von Silke Pfeiffer (engl. Pride and Prejudice*(* sort of), Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2019.

Standke, Jan: Liebesarten: In: Der Deutschunterricht 4 (2021), S. 2-7.

Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe. Deutsch. Hrsg. vom Niedersächsischen Kultusministerium, Hannover: Uni Druck 2017. 

Abbildungen

Abb. 1: Isobel McArthur, Foto: Mihaela Bodlovic

Abb. 2: Staatstheater Braunschweig Stolz und Vorurteil* (*oder so), Foto: Björn Hickman/stage picture

Abb. 3 Staatstheater Braunschweig Stolz und Vorurteil* (*oder so), Foto: Björn Hickmann/stage picture

Abb. 4: Staatstheater Braunschweig Stolz und Vorurteil* (*oder so), Foto: Björn Hickmann/stage picture

Titel: Stolz und Vorurteil (*oder so)
Autor/-in:
  • Name: McArthur, Isobel
Originaltitel: Pride and Prejudice
Übersetzung:
  • Name: Pfeiffer, Silke
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Rowohlt Theater Verlag
Altersempfehlung Redaktion: 15 Jahre
McArthur, Isobel: Stolz und Vorurteil* (*oder so)