Inhalt

Jeanette besucht eine weiterführende Schule. Ihr genaues Alter und ihre Klassenstufe werden im Stück nicht explizit angegeben, es scheint aber die Orientierungsstufe zu sein, möglicherweise sogar eine Klasse 7. Ihr Kosename "Netti" wird für Jeanette unglücklicherweise zum Programm: Nettis Klassenkameradin Gesine, genannt "Fever", mobilisiert eine Anti-Netti-Fraktion im Klassenchat, den sie "Alle außer das Einhorn" nennt. Fever zeigt sich auch außerhalb der virtuellen Welt ausgesprochen feindselig Netti gegenüber. Nettis Freund Julius ist auch keine Hilfe, da er als ehemaliges Mobbing-Opfer aus Angst vor einer neuerlichen Schmach zum Mitläufer wird. Nettis Klassenlehrerin fehlt ein Konzept gegen die hasserfüllte Eigendynamik in ihrer Klasse, Nettis Eltern zeigen sich zunächst ahnungslos und später ohne Zugriff auf die Ohnmacht ihres Kindes.

Fuchs EinhornAbb. 2: Inszenierung Bühnen Halle mit Nicoline Schubert. Foto: Anna Kolata

Die Mobbing-Spirale dreht sich immer weiter und eskaliert: Netti wird anlässlich eines Kostümfestes der Klasse von Julius dazu überredet, Fever heimlich auf der Schultoilette zu filmen, um sie dann vor allen bloßzustellen. Doch Fever scheint von dem Gegenschlag gewusst zu haben und dreht den Spieß vor Ort um. Geistesgegenwärtig entflieht Netti in Fevers Kostüm zum Kostümfest ihrer Klasse. Fever taucht kurze Zeit später in Nettis Einhorn-Kostüm auf und erfährt die gesamte Feindseligkeit sämtlicher Klassenkameraden, die glauben, dass Netti unter dem Kostüm steckt, und Fever deshalb drangsalieren. Netti wendet die Katastrophe schließlich ab, indem sie sich unter Fevers Kostüm zu erkennen gibt und erfährt dafür wenigstens von Julius finale Anerkennung. 

Kritik

Kirsten Fuchs’ Jugendtheaterstück bringt das Thema Mobbing äußerst anschaulich und realistisch zur Sprache. Cybermobbing und Mobbing in Präsenz treten in einer explosiven Mischung auf. Die gesamte Handlung umfasst dabei einen Zeitraum weniger Wochen und sorgt für eine atemlose Ereignisdichte. Nettis Zuhause, ihr Schulweg, die Schule selbst sowie der schonungslos diffamierende Klassenchat, der immer wieder unvermittelt als "Chor der Kommentare" auftritt, sind die Spielorte.

Die programmatisch gewählten Kosenamen "Netti" und "Fever" sind bezeichnend für die Beziehung zwischen Opfer Jeanette und Täterin Gesine. Kirsten Fuchs’ Figuren sind aber nicht eindimensional, sondern mehrdimensional angelegt. Gerade Fever lässt das Publikum durch ein Selbstbekenntnis über ihre Motive nicht im Unklaren:

FEVER

Wir sind umgezogen, weil ich übelst gemobbt wurde, dagegen ist alles, was ich mache, Kinderkacka. Echt. So richtig ausgeschlossen werden ist richtig, richtig mies. Da geht man voll kaputt drauf.
Meine Mutter hat mich da rausgehauen. Sich selbst hat sie auch rausgehauen. Sie wurde gemobbt, weil sie ne schlechte Mutter ist. Ist sie wirklich, kann ich nur so sagen. Jetzt gibt sie sich Mühe. Mal sehn, wie lange das dauert, bis die anderen das rausfinden. Im Moment läuft’s ganz gut. Ich bin ohohoben. Ich bin die Kingkongkönigin der Schule. Whaaaa! (Fuchs 2018, S. 25)

Fevers Monolog wirft Fragen auf. Warum quält jemand andere, der selbst einmal ausgegrenzt wurde? Welche Möglichkeiten bieten sich, solche Konflikte nachhaltig und gewaltfrei aufzulösen?

Nettis Freund Julius entwickelt sich zum Mitläufer, obwohl oder gerade weil er auch selbst "gehänselt" (O-Ton Julius) wurde. Er ist nach wie vor gefangen in seiner ehemaligen Opferrolle, eine Aufarbeitung fehlt: "Ich bin viel gehänselt worden in der Schule, früher. Jetzt nicht mehr. Meine Mutter hat der Mutter von Fever einen Job gegeben. Die putzt für uns. Darf aber keiner wissen. Krass, oder?" (Fuchs 2018, Szene 2, S. 22) Julius trägt Züge eines aus der persönlichen Not heraus funktionierenden Opportunisten. Seine Anerkennung für Netti am Ende des Stückes könnte diesen Eindruck bestätigen.

Auch der Busfahrer hält einen Monolog. Seine Wahrnehmung konzentriert sich auf das, was unmittelbar ins Auge sticht. Er agiert als ahnungsloser bis naiver Wegbegleiter, der keine Vorstellung vom aggressiven Cybermobbing seiner nach außen hin apathischen Insassen hat.

BUSFAHRER
Ich habe das Gefühl, dass diese Generation sehr, sehr brav ist. Die sind fast nie laut im Bus. Da wird nicht geschubst und geprügelt. Die sind ja auch ständig mit ihren Geräten beschäftigt. Das finde ich auch nicht so gut, na ja, was soll man machen? Die benutzen auch nicht so schlimme Wörter. Wenn man zu denen sagt: "Hohohoho, hört mal auf", dann hören die auf.

Zu denen will man fast sagen: "Mensch, nun seid doch mal ein bisschen laut. Seid doch mal frech." (Fuchs 2018, Szene 2, S. 31-32).

Damit reiht er sich fatalerweise in eine Reihe von Menschen in Nettis Umfeld ein, die eigentlich als Problemlöser fungieren müssten. Einige definieren sich wie der Busfahrer auch über größtes Verantwortungsbewusstsein im Hinblick auf zwar nicht unwichtige, aber für Nettis Situation  gerade nicht akute Themenbereiche. Nettis Eltern zum Beispiel pendeln aus Sicht ihrer Tochter zwischen Helikopteranflügen und verantwortungslosem Handeln.

NETTI
Und ich so, dann fast eine Rede gehalten: Als ich laufen gelernt habe, da habt ihr jede Tischkante mit so einem Gummipömpel beklebt, und ich hab mich nie gestoßen. Und wenn ich irgendwo hochklettern wollte, habt ihr gesagt, dass ich runterfallen könnte. Darum sollte ich lieber nicht hochklettern.

MUTTER
Ist doch auch richtig so.

VATER
… unterbrach dich deine Mutter

NETTI
Und ich so, voll weiter die Rede gehalten: Aber dann bin ich im Kindergarten mal voll an eine Tischkante gelaufen, und das hat so weh getan, und ich hab total geheult. Und Mama so:

VATER
… hat dich wieder unterbrochen

 MUTTER
Weil wir nicht da waren, und die Gruppenstärke im Kindergarten war viel zu groß. Wir hätten dich nicht in den Kindergarten geben sollen. Ach, Mensch … (Fuchs 2018, Szene 5, S. 64-65)

Insbesondere die vordergründig entlarvenden Monologe und Gespräche aus der Retrospektive laden zu vielen weiterführenden Fragen und Überlegungen ein. Hier zeigt sich die Brillanz in der Anlage des Jugendtheaterstücks. Was auf den ersten Blick plakativ bis zupackend wirkt und das Publikum teilweise fassungslos zurücklässt, offenbart sich bei genauerem Hinsehen gerade deshalb als besonders denk- und diskussionswürdig. Die Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen ist hierbei ein großer Vorzug für die Ausleuchtung der Haltungen einzelner Figuren.

 Fuchs Einhorn2Abb. 3: Bühnen Halle Ensemble. Foto: Anna Kolata

Alle außer das Einhorn lädt auch dazu ein, weitere Themen wie Handysucht im Besonderen oder Mediennutzung im Allgemeinen zu vertiefen. Nettis Lehrerin echauffiert sich darüber, dass sich das Leben ihrer Schüler nahezu ausnahmslos am Handy abspielt: "Wenn ich sehe, was sie im Internet machen … da sind immer mindestens drei Fenster auf. Das ist wie Stoßlüften. Mir fliegen da alle Gedanken weg." (Fuchs 2018, Szene 3, S. 40) Im Laufe des Stücks kommentieren auch Liedtexte - vornehmlich als Rap umzusetzen - das Geschehen. Dadurch haben Lernende die Möglichkeit, möglicherweise mit Hilfe von Beats und Melodien Textelemente zu gestalten und damit besser zu durchdringen.

Fazit

Insgesamt steckt enormes Potenzial in Kirsten Fuchs’ Jugendtheaterstück. Die Multiperspektivität, die mehrdimensionalen Charaktere, die Verbindung aus asynchronen und synchronen dramatischen Elementen und die spannende Handlung sorgen für eine große Kohärenz innerhalb des Theaterstückes. Insbesondere das Aufeinandertreffen von Nettis Kindlichkeit und Naivität mit Fevers Brutalität und Unnachgiebigkeit überzeugt. Es bedient eine lange Zeit im Stück das Klischee von Opfer und Täter in Reinform und könnte das Publikum sogar dahingehend provozieren, unverschämt zu fragen, ob Netti sich nicht geradezu in ihrer Opferrolle gefunden hat. Daraus kann sie aber am Ende entfliehen, auch wenn eher wenig überlegte Handlungen wie die spontane Flucht mit Fevers Kostüm letztendlich für eine glückliche Fügung sorgen. Auch Fever möchte man durch ihren selbstreflexiven Monolog fast schon Verständnis entgegenbringen, was diese im Stück durchgehend angelegte Ambivalenz unterstützt. Für das Schauspiel und die Regie ist diese Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit als Hauptmerkmal und Triebfeder wahrscheinlich die größte Herausforderung.

Ganz im Geiste des Grips-Theaters Berlin ist das Stück eine provokante Aufforderung für mehr Zivilcourage und Solidarität. Die gerade im Klassenchat ungefiltert geposteten, unzähligen Schimpfwörter sind nicht weit hergeholt, sondern bilden realitätsnah die Sprachverrohung unter Kindern und Jugendlichen ab, welche soziale Medien als Schutzraum für Demütigungen und Ausgrenzungen aller Art nutzen. Die Ohnmacht und Überforderung der Erwachsenen lässt die Jugend allein mit ihren Problemen. Kirsten Fuchs leuchtet diese Tristesse dramatisch bis unterhaltsam, so plakativ wie möglich und so provokant wie notwendig aus.  

Damit eignet sich das Stück gerade auch für den Deutschunterricht in den Klassen 5-7. Nahezu sämtliche Spielarten szenischer Interpretation im Unterricht sind zwar möglich, das gesprochene Wort überzeugt allerdings in so hohem Maße, dass allein das Spielen und Darstellen einzelner Sequenzen durch Sprech- und Spielgestaltung anspruchsvoll genug ist, um anschließend Anlass für Deutung und Reflexion zu bieten. Die eindringlichen Dialoge und Monologe können übrigens als spielerische Türöffner für manche anschließende Klassenratstunde zu den genannten Themenbereichen aufgegriffen werden.

Literatur

Fuchs, Kirsten: Alle außer das Einhorn. Rowohlt E-Book, Hamburg 2018.

Abb. 1: Foto Paul Bokowski

Abb. 2: Foto: Anna Kolata

Abb. 3: Foto: Anna Kolata

Titel: Alle außer das Einhorn
Autor/-in:
  • Name: Fuchs, Kirsten
Uraufführung: 17.05.2017 Grips Theater, Berlin
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: Rowohlt E-Book
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Fuchs, Kirsten: Alle außer das Einhorn