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Dem Personenverzeichnis nach betreten „mindestens drei schauspieler*innen“ (im Drama sind es die Figuren A, B und C) die Theaterbühne, um ihr Stück über Mut aufzuführen. Sie sagen euphorisch allerlei Mutmachsprüche auf, bis A ein unheimliches Geräusch unter der Zuschauertribüne zu hören glaubt. In diesem Moment zeigt sich, dass sich Weisheiten wie „mut heisst es trotzdem tun“ (Haenni 2022, S. 8), wenn es drauf ankommt, gar nicht so leicht umsetzen lassen.
Da jedoch alle Figuren voreinander nicht das Gesicht verlieren wollen, mischt sich der für die Figuren nicht hörbare, weil bloß im Drama realisierte Kommentartext ein und fragt, ob denn „wirklich?“ (Haenni 2022, S. 9) alle so mutig seien wie vorgegeben. Je mehr sich die Figuren in ihre Angst hineinsteigern, desto größer wird auch das Objekt der Furcht: Aus einer Kröte wird zum Ende der Angstspirale ein/e „persondastierdervirusmitmesser“ (Haenni 2022, S. 12).
Unter den drei Figuren entbrennt ein Streit, in dem jede die andere bezichtigt, der größte „schisshase“ (Haenni 2022, S. 14) zu sein. B und C verbrüdern sich und schließen A aus ihrer „mutgruppe“ (Haenni 2022, S. 14) aus. Während A sich im Anschluss ins Backstage zurückzieht, stellen B und C gemeinsam auf der Bühne fest, dass der Körper in Angstzuständen Warnsignale aussendet, die allerdings in den meisten Alltagssituationen übertrieben stark sind. Doch auch sie zerstreiten sich über die Frage, wer A ausgegrenzt hat, sodass C auch B hinter die Bühne vertreibt und nun ganz allein von der Angst übermannt wird; B und A hingegen beschließen unter Aufbringung allen Mutes nachzusehen, was die Geräusche unter der Tribüne verursacht. In diesem Moment rennt C wieder auf die Bühne und erschreckt B und A zu Tode, weil sie ihn für das noch immer unbestimmte Objekt ihrer Angst halten. Es zeigt sich, dass die Figuren durch ihr eigenes Handeln die vermeintliche Gefahrensituation erst haben entstehen lassen.
Während der wiederhergestellten Dreisamkeit stellt sich heraus, dass die Schauspielerfiguren vor allem Lampenfieber hatten. Erst das Eingestehen ihrer Angst vor den anderen führt dazu, dass sie ihr Mutstück fortsetzen können und in einer langen Auflistung alle möglichen Ängste konkret benennen:
ich hab angst alleine zu sein
ich hab angst dass ich nicht geliebt werde
dass ich nicht dazugehöre ausgelacht ausgeschlossen werde
ich hab angst dass ich nicht verstanden werde dass ich mich nicht ausdrücken kann
nicht die richtigen worte finde im richtigen moment das falsche mache oder den
moment verpasse wos drauf angekommen wäre
ich hab angst dass ich nicht ready bin nicht allzeit bereit
ich hab angst vor diesem sportkram akrobatik leichtathletik all das
ich hab angst nicht schön genug zu sein sexy genug intelligent genug schnell genug
flexibel genug erfolgreich genug fit genug
nicht gut genug ausgebildet
nicht reich genug
dass ich den falschen body hab
die falschen klamotten
die falschen haare
die falsche körperform
die falsche sexualität
die falsche hautfarbe
den falschen pass
ich hab angst vor nazis
vor dem klimawandel
vor weiteren pandemien
vor der zukunft ganz allgemein
davor dass alles immer noch unberechenbarer wird immer noch ungerechter unfairer
alles noch mehr kaputt geht (Haenni 2022, S. 46)
In der letzten Szene des Dramas stellt sich allerdings heraus, dass die Figuren sich das Geräusch unter der Tribüne nicht eingebildet haben, ihre Angst also nicht unbegründet war. Die Verwirrung ist jedoch groß, dass ausgerechnet ein weißer, süßer Hase, der im Theater ja eigentlich nichts verloren hat, Verursacher des Geräusches war.
Mit dieser Inhaltsrekapitulation ist aber nur eine Handlungsebene des Dramas erfasst. Neben einem Kommentartext, in dem eine Stimme die Bühnenhandlung kritisch begleitet („die person, die gedisst wird, geht ab. das reicht jetzt. aber was jetzt? ich mein, da sitzen jugendliche äh leute!!“ (Haenni 2022, S. 14)), sind in die Szenenreihenfolge nämlich auf einer zweiten Ebene Prosablöcke in anderer Schriftart eingefügt. In ihnen wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der Angst vor weißen Hasen hat. Weil ihn seine Angst so lähmt, geht er nicht mehr aus dem Haus. Zum Geburtstag bekommt er von seiner Freundin, der er nichts von seiner Angst gesagt hat, als Zeichen ihrer Liebe ausgerechnet einen weißen Hasen geschenkt. Die Angst überwältigt ihn so sehr, dass er sich in seinem Haus vor dem Hasen verschanzt. Doch er sieht ein, dass er sich der Angst stellen muss. Der Mann erkennt, dass sich der Hase in gleicher Weise vor ihm ängstigt. Er sieht dem Hasen direkt ins Gesicht, bis die Angst verschwunden ist.
Auch wenn sich die Figuren am Ende über den weißen Hasen auf der Theaterbühne wundern: Er schafft die Verbindung zwischen dem metadramatischen Spiel und der über die Prosablöcke erzählten Geschichte.
Abb. 2: Junges Theater Heidelberg angst oder hase mit Johanna Dähler, Simon Labhart und Maren Kraus. Foto: Susanne Reichardt
Kritik
In ihrer Laudatio für den Jugendtheaterpreis 2024 würdigt die Jury angst oder hase als einen „klugen, vielschichtigen, faszinierenden, humorvollen, poetischen, spielerischen, dynamischen, mit Metatheatralik und Absurdität so geschickt umgehenden und extrem politischen, aber keinesfalls didaktischen, zutiefst menschlichen, großartigen, ja, genialen Text“ (jungespublikum.de). Auch wenn sich in dieser Begründung Formbeschreibungen und Wertung vermischen und unklar bleibt, wie das ‚extrem Politische‘ ganz konkret eingelöst wird, sind in ihr doch zentrale Merkmale des Dramas benannt.
angst und hase weist die typischen Merkmale der narrativierenden Dramatik (vgl. Hansen 2021) auf und bringt diese für die Kinder- und Jugenddramatik zur Anwendung. Über die Prosablöcke, die die erzählenden Verfahren des Epischen Theaters überbieten, wird es möglich, mehrere Handlungs- und Wirklichkeitsebenen in das Drama einzubauen. Zugleich weist der Kommentartext (zur Terminologie vgl. Hansen 2021, S. 255-277) über die spielbeschreibende Funktion hinaus, indem das Bühnengeschehen von dieser Reflexionsebene zum einen kommentiert wird, zum anderen potentielle Reaktionen des Publikums mit in den Text eingeschrieben sind: „es wäre auch gut, wenn die zuschauer*innen an dieser stelle ein bisschen angst kriegen, weil die beiden das so superernst durchziehen jetzt hier“ (Haenni 2022, S. 49). Die Formen der Narrativierung erhöhen die Komplexität und lassen das Drama zugleich als literarischen Text erscheinen, dessen Bedeutungspotentiale durch eine Inszenierung nur unvollständig erfasst werden können. Eine Regie muss deshalb kreative Lösungen entwickeln, wie sich Kommentartext und Prosablöcke vermitteln lassen.
Ebenso wird typisch für die narrativierende Dramatik ein phantastischer Theaterraum behauptet, dessen Gesetzmäßigkeiten nicht mit denen der Alltagsrealität korrespondieren: „der ganze raum vibriert. also wirklich jetzt. […] was ist hier nur los in diesem theater??“ (Haenni 2022, S. 38). Vor diesem Hintergrund stehen die drei Figuren allegorisch auch für die verschiedenen Stimmen, die im Inneren auf einen ängstlichen Menschen einreden. Denn im Moment der Panik summt „alles so mehrspurig i[m] Kopf herum“ (Haenni 2022, S. 44). Das graue Sofa im Backstage repräsentiert unter gleicher Perspektive zugleich „das sofa in dir“, auf das permanent eine Kamera gerichtet ist: Die Kamera „durchleuchtet die dunklen ecken, beobachtet jede regung, jede falte, jede ritze, jeden tropfen […] nein. auf gar keinen fall. nicht! hinsetzen! Schön in bewegung bleiben, immer schön in bewegung bleiben, fit, fit, fit, und keine. angst. (Haenni 2022, S. 6).
Fazit
Die metadramatische Verschmelzung von Figur und Schauspielerpersönlichkeit erzeugt im Moment der Aufführung eine Nähe zwischen Darsteller*innen und Publikum: Die Benennung aller Ängste eröffnet das Potential, dass sich das jugendliche Publikum an der Fortsetzung der Angstliste beteiligt. Das Drama legt hier nicht nur eine gedankliche, sondern die tatsächliche Interaktion mit dem Publikum nahe: Denn „alle, aber wirklich alle“ (Haenni 2022, S. 45) sollen bei der Auflistung der Ängste mitmachen.
Denn, so kann man die Botschaft des Dramas zusammenfassen, jeder Mensch hat Angst und versucht mit unterschiedlichen Strategien über diese hinwegzutäuschen:
[…] schau sie dir doch mal an alle stecken sich in dieselben „supercoolen“ klamotten rein nur damit sie nicht auffallen damit sie dazugehören und sehen dann alle gleich aus machen sich aber lustig über die die sich trauen so zu sein wie sie wirklich lust haben zu sein und ich sags dir nur aus angst alles nur aus angst keine*r von denen würde dir erzählen dass sie ihre bhs mit watte füllen dass sie sich irgendwelche eiweissshakes reinziehen damit ihre muskeln schneller wachsen dass sie jeden abend nur salate knabbern damit ihr bauch nach innen statt nach aussen zeigt dass sie nicht wissen wie sie erfolgreich und glücklich werden wie alle anderen die so erfolgreich und glücklich aussehen auf ihren instagramaccounts dass sie nachts weinen weil sie sich eben überhaupt nicht erfolgreich und glücklich fühlen wie auf ihrem instazeug weil sie angst vor der zukunft haben davor zu versagen und dabei auch noch permanent von so horrornachrichten zubombardiert werden […]. (Haenni 2022, S. 28)
Die Liste kann als Appell verstanden werden, seine Angst vor sich und den anderen einzugestehen. Denn auch die Schauspieler*innen sind erst in der Lage ihr Stück zu Ende zu bringen, nachdem sie ihr Lampenfieber verbalisiert haben. Die Benennung ist demnach der erste Schritt, um sich seiner Angst zu stellen. Diese so einfach zu begreifende, aber so schwer umzusetzende Einsicht adresseiert nicht nur ein jugendliches Theaterpublikum; der Jury des Jugendtheaterpreises ist demnach zuzustimmen, wenn sie angst oder hase als ein ‚zutiefst menschliches‘ Drama lobt.
Literatur
Haenni, Julia: angst oder hase. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main 2022.
Hansen, Simon: Nach der Postdramatik. Narrativierendes Text-Theater bei Wolfram Lotz und Roland Schimmelpfennig. Bielefeld: transcript 2021.
Ohne Verfasser: Deutscher Kindertheaterpreis 2024 und Deutscher Jugendtheaterpreis 2024. In: https://jungespublikum.de/award-issue/test-ausschreibungsverfahren-deutscher-kindertheaterpreis-und-deutscher-jugendtheaterpreis-2024/
Abbildungen
Abb1. Julia Haenni. Foto Mali Lazell
Abb2. Junges Theater Heidelberg angst oder hase, Foto: Susanne Reichardt
