von Anna Zamolska

"Ich will niemals groß werden", sagte Thomas entschieden.
"Ich auch nicht", sagte Annika.
"Nein, darum muss man sich wirklich nicht reißen", sagte Pippi. "Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern."
"Kommunalsteuern heißt das", sagte Annika.
"Ja, es bleibt jedenfalls der gleiche Unsinn", sagte Pippi. […]
"Und spielen können sie auch nicht", sagte Annika. "Uch, dass man unbedingt groß werden muss!"
"Wer hat gesagt, dass man es werden muss?", fragte Pippi. "Wenn ich mich nicht irre, habe ich hier irgendwo ein paar Pillen."
"Was für Pillen?", fragte Thomas.
"[...] Krummeluspillen. Ich hab sie vor langer Zeit in Rio von einem Indianerhäuptling gekriegt, als ich gerade mal sagte, dass mir nicht so viel daran läge, groß zu werden."
"Und diese Pillen sollen helfen?", fragte Annika zweifelnd.
"Natürlich", versicherte Pippi. "Aber man muss sie im Dunkeln nehmen, und dazu muss man sagen:
Liebe kleine Krummelus,
niemals will ich werden gruß."


Die berüchtigten Krummeluspillen schlucken Pippi, Annika und Thomas im letzten Kapitel der Pippi-Trilogie. Anscheinend war in den Pillen noch genug Kraft, denn Pippis Wunsch ist in Erfüllung gegangen: Als jüngere Schwester von Peter Pan hat sie einen dauerhaften Platz in den Kinderzimmern und Herzen ihrer Bewohner. Pippi Långstrump, in Schweden erstmals am 26. November 1945 veröffentlicht, ist Astrid Lindgrens in die meisten Sprachen übersetztes und am meisten verkauftes Buch – damit ist Pippi die weltweit erfolgreichste Figur, der die Lindgrensche Phantasie Leben verliehen hat (erfunden hat Pippi ja bekanntermaßen Lindgrens Tochter Karin). Nicht umsonst steht auf dem Marktplatz von Vimmerby eine Hoppetosse mit Pippi im Mastkorb, während von den anderen Figuren in Vimmerby keine Spur zu entdecken ist (so verhielt es sich zumindest 2010).

Marktplatz von Vimmerby. Foto: Anna Zamolska

Pippi Langstrumpf hat jedoch viele Geschwister: Man kann sie ebenfalls als Schwester von Alice im Wunderland von Lewis Carroll bezeichnen, denn in der ursprünglichen Fassung von Pippi Långstrump sang und deklamierte Pippi viele Nonsensreime, die auf bekannte Lieder und Kinderreime anspielten. "Astrid Lindgren hat ihrer Tochter Karin Alice im Wunderland ungefähr zur gleichen Zeit vorgelesen und erzählt, als Pippi in diesem Kinderzimmer auftauchte." (Lundqvist 2007, S. 143) Die Nonsensreime kann man heute in der Ur-Pippi nachlesen, der 2007 erschienenen Übersetzung des Original-Manuskripts, das Lindgren 1944 an den Bonnier-Verlag geschickt und zurückerhalten hatte. Aber auch die Endfassung schließt sich mit Pippis eigener Logik und ihren Lügengeschichten an die Nonsensliteratur an.  Pippis geringelter Strumpf mag auch eine Anspielung auf die gestreiften Strümpfe von Alice sein.

Pippis andere ältere Schwester ist zweifellos die ebenfalls rothaarige Anne auf Green Gables von Lucy Maud Montgomery, die zu Lindgrens Lieblingslektüren in ihrer Kindheit zählte. In der Ur-Pippi spielte Lindgren in einer Passage auf Annes Verhältnis zu ihrer Haarfarbe an, die letztendlich in Pippi Langstrumpf nicht mehr auftaucht: Geblieben ist Pippis allgemeine Zufriedenheit mit ihrer Haarfarbe und ihren Sommersprossen. Anne sollte Lindgren jedoch bei vielen ihrer Werke inspirieren: So wie Anne auf dem Dachfirst des Küchendachs entlangspazierte, sollten viele der Lindgrenschen Helden auf Dächern herumturnen (wie auch Astrid Lindgren selbst in ihrer Kindheit). Und so ähnlich wie Anne betet ("I remain, Yours respectfully, Anne Shirley"), gestaltet dann auch Michel sein Gebet: "Bittet freundlich Michel Svensson – Katthult – Lönneberga".

Pippi, das Kinderbuch des Jahrhunderts und Meilenstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, wurde von der dänischen Künstlerin Ingrid Vang Nyman (1916-1959) illustriert. Ihre Bilder waren ihrer Zeit weit voraus und werden heute als kongeniale Illustrationen zu Pippi Langstrumpf gewertet, doch damals war ihr "eigenwilliger Stil für das damalige Publikum sehr gewöhnungsbedürftig" (Bialek/ Weyershausen 2004, S. 456). Astrid Lindgren gefiel die Nymansche Pippi sehr, so dass sie bis zu ihrem Tod darauf bestand, die Originalillustrationen in der schwedischen Ausgabe beizubehalten, anders als bei den Bullerbü-Büchern und der Geschichtensammlung Sammelaugust und andere Kinder (schwed. Kajsa kavat), die auch zunächst von Vang Nyman illustriert wurden – diese gestaltete Ilon Wikland später neu. (vgl. Bialek/ Weyershausen 2004, S. 456f.) Ingrid Vang Nyman zeichnete Pippis Abenteuer auch als Bildergeschichten, die in der schwedischen Kinderzeitschrift Klumpe-Dumpe abgedruckt wurden (auch zu diesen Bildergeschichten schrieb Lindgren den Text selbst).

(Im Schloss Kalmar in Kalmar in Småland, Schweden kann man vom 28. März bis 1. November 2015 eine Ausstellung von Vang Nymans Bildern zu Pippi und weiteren Werken besuchen (vgl. http://kalmarslott.se/deutch/ausstellungen/saisonausstellungen/pippi-und-mehr/).

Pippi-Ausgaben in Deutschland

"Cäcilie Heinig, die jüdische Frau des nach Schweden emigrierten Schriftstellers und Oetinger-Freundes Kurt Heinig, übernahm die Übersetzung. Der Hamburger Graphiker Walter Scharnweber (1910-1975) entwarf in Kenntnis der Illustrationen von Ingrid Vang Nyman zur schwedischen Originalfassung ein etwas gefälligeres, für Deutschland allerdings noch genügend irritierendes 'Pippi'-Bild." (Dankert 2013, S. 121)

Da Friedrich Oetinger die Originalillustrationen zu Pippi nicht gefielen, bat er seinen Freund und erfolgreichen Künstler Walter Scharnweber, der sein Atelier gleich neben dem Verlagsgebäude des Oetinger Verlags hatte, Pippi zu illustrieren. So schuf Scharnweber "eines der bekanntesten Buchcover der Nachkriegszeit" (Bialek/Weyershausen 2004, S. 410). Pippi Langstrumpf kam 1949 heraus, Pippi geht an Bord 1950 und Pippi in Taka-Tuka-Land 1951. Die Titelbilder zur ersten Ausgabe der Kalle Blomquist-Trilogie stammen ebenfalls von Scharnweber.

1967 brachte Oetinger eine Gesamtausgabe heraus, die Rolf Rettich (1929-2009) illustrierte und bis zur großen Jubiläumsedition der Lindgrenschen Werke zum 100. Geburtstag Astrid Lindgrens das Bild der deutschen Leser von Pippi prägte. Außerdem illustrierte er 1981 die Kurzgeschichte Pippi plündert den Weihnachtsbaum (schwed. Pippi Långstrump har julgransplundring, 1979).

Seit 2004 bestimmt Katrin Engelking (*1970) das Pippi-Bild: In diesem Jahr illustrierte sie das Bilderbuch Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten (eine zufällig wiederentdeckte Weihnachtsgeschichte, die 1947 in Schweden auf einem Bastelbogen mit Pippi-Langstrumpf-Figuren veröffentlicht wurde), seit 2007 ist sie für die Illustration der Pippi-Trilogie zuständig.

Zum 70. Jubiläum von Pippi Långstrump hat der Oetinger Verlag eine Retroausgabe der Pippi-Trilogie herausgebracht: Sie gleicht der schwedischen Ausgabe, die das Cover der schwedischen Erstausgabe leicht modernisiert hat. Damit liegen die drei Pippi-Bände erstmalig in Deutschland mit ihren Originalillustrationen vor. Gänzlich unbekannt ist Ingrid Vang Nyman in Deutschland jedoch nicht, beim Oetinger Verlag sind bislang drei Pippi-Bilderbücher mit Illustrationen aus ihrer Feder erschienen: 1961 Kennst du Pippi Langstrumpf?, 2001 Pippi im Park und 2005 Pippi fährt nach Taka-Tuka-Land. Interessant sind die Publikationsgeschichten dieser drei Kurzgeschichten, eine von ihnen wurde zufällig wiedergefunden.

Kennst du Pippi Langstrumpf? schrieb Lindgren für kleinere Kinder, die vor allem an den großen, bunten Vang Nyman-Bildern Spaß haben – hier werden Pippi und ihre Freunde vorgestellt. Das Bilderbuch erschien 1947 in Schweden unter dem Titel Känner du Pippi Långstrump? und 1961 bei Oetinger in der Übersetzung von Margot Franke. Pippi im Park (Pippi Långstrump i Humlegården) schrieb Lindgren 1949 für ein Fest zum Schwedischen Kindertag – danach lag der Text bis 1999 im Archiv der Königlich-Schwedischen Bibliothek, als er wiederentdeckt und in kolorierter Fassung in Schweden herauskam. In Deutschland erschien er 2001 in der Übersetzung von Angelika Kutsch. Pippi Långstrump på Kurrekurreduttön wurde 2004 in Schweden veröffentlicht: Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman hat Episoden aus dem dritten Pippi-Band zu den Bildern ausgewählt. 2005 folgte die deutsche Version unter dem Titel Pippi fährt nach Taka-Tuka-Land.

Außerdem erscheint zum Jubiläum ein weiteres Pippi-Werk bei Oetinger mit dem interessanten Titel: Pippi Langstrumpf – der Comic. Es handelt sich um die Gesamtausgabe der Bildergeschichten von Ingrid Vang Nyman, die in den 50er Jahren in der schwedischen Kinderzeitschrift Klumpe-Dumpe (die schwedische Übersetzung von Nursery-Rhymes-Figur Humpty-Dumpty) abgedruckt wurden. In Deutschland erschienen die Bildergeschichten in den 70er Jahren in sechs Bänden (1970 Pippi zieht ein, 1970 Pippi regelt alles, 1971 Pippi ist die Stärkste, 1971 Pippi gibt ein Fest, 1972 Pippi fährt zur See, 1972 Pippi will nicht groß werden) und liegen nun erstmals in einer Gesamtausgabe vor. 

Die Faszination der Pippi Langstrumpf

Die ungebrochene Beliebtheit von Pippi Langstrumpf beim kindlichen Publikum hat Scharen von Literaturwissenschaftlern die drei kleinen Pippi-Bücher ergründen lassen: "Über kein Kinderbuch ist so viel geschrieben worden wie über die 'Pippi Langstrumpf'-Trilogie." (Dankert 2013, S. 115) Astrid Lindgren selbst nannte vor allem einen Grund in einem Interview zum 40. Geburtstag der Erstpublikation: Die Kinder fänden es herrlich, "daß es eine Pippi gibt, die sich alles erlauben kann, lustig und frei ist. Wenn Pippi übrigens jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, daß man Macht haben kann und sie nicht mißbraucht, und das ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt." (Oetinger Lesebuch 1987/88, S. 179)

Pippi tut noch viel mehr, ähnlich wie die Bullerbü-Kinder wirkt sie wie ein Zaubertrank, der dem Kind alle Angst nimmt. Zu diesem einleuchtenden Schluss kommt Monika Osberghaus: "Wenn aber die Kinder auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten von dieser Pippi tief beeindruckt werden, dann deswegen, weil sie ein Lebenselixier verabreicht. Von ihr zu lesen bedeutet, Angst vor der Einsamkeit in den Griff zu bekommen. Denn das ist eine Erkenntnis, zu der jedes Kind einmal kommt, und meistens früher, als die Erwachsenen denken: Wir müssen letztlich alle ohne Eltern zurechtkommen. Der schlimme Gedanke 'Ich bin ganz allein auf der Welt' gehört zum Kindsein dazu. Es ist eigentlich eine Katastrophe. Aber Pippi Langstrumpf, die einsame, drastische, exzentrische Pippi, hilft wenigstens, die Sache mit Humor zu nehmen." (Osberghaus 2007, S. 31)

Bei aller Fröhlichkeit und Goldherzigkeit Pippis darf auch nicht übersehen werden, dass sie trotz ihrer Stärke oft einsam und wehmütig ist, wenn sie weint. Sie weint, als sie einen kleinen, toten Vogel findet und sie weint auf der Taka-Tuka-Insel, als Thomas um ein Haar von einem Hai gefressen wird. Und als Pippi im zweiten Band davonsegeln soll, blickt sie die weinende Annika an: "Wie komisch ihre Augen aussehen, dachte Thomas. Genauso hatte seine Mutter ausgesehen, als Thomas einmal sehr, sehr krank gewesen war." Pippi, die den Kindern auf der ganzen Welt beibringt, wie man spielt und das Leben auskostet, diese beschützende und warmherzige Freundin erinnert an ihre Schöpferin. In Pippi spiegelt sich Astrid Lindgren vielleicht am deutlichsten, und gerade in ihren einsamen Momenten. So hat es auch Sara Schwardt empfunden, als sie in ihrem letzten Brief an Astrid Lindgren die allerletzte Szene der Pippi-Trilogie aufgreift: Pippi sitzt abends allein vor einer Kerze. Und Sara schreibt, dass sie zu Lindgren hineingeht und sich zu ihr vor diese Kerze setzt.

Eine sehr eingängige Darstellung davon, wie Pippi beim Vorlesen wirkt, ist Kirsten Boie gelungen [diese Lese-Erfahrung hat sich übrigens in meiner Familie haargenau wiederholt, AZ]: Kirsten Boie war sechs Jahre, als sie Scharlach bekam, und sie erinnert sich gut an diese Zeit, "[v]or allem aber erinnere ich mich an die Abende, an denen, als es mir allmählich wieder besser ging, mein Vater meiner Mutter und mir vorlas und dabei eine Lesebekanntschaft stiftete, die in den folgenden Jahren ziemlich wichtig werden sollte. Wir hatten nicht viel Geld, und Bücher waren eher ein Luxus; aber nun war ich ja zum Glück wirklich schlimm krank gewesen und befand mich zum noch größeren Glück auf dem Weg der Besserung, und darum wurde mir 'Pippi Langstrumpf' vorgelesen, Abend für Abend, und meine erschöpfte Mutter saß daneben und lachte und lachte so, wie ich sie sonst kaum hatte lachen sehen. Als mein Vater das Kapitel vorlas, in dem Pippi bei Familie Settergren zum Kaffeekränzchen eingeladen ist, wobei sie sich mit den anwesenden Damen elegant über Vorzüge und Nachteile von Hausmädchen unterhält, reichlich Informationen über Malin, das Mädchen ihrer Großmutter, beisteuert und noch, nachdem sie sich verabschiedet hat, zurückruft: 'Sie hat niemals unter den Betten gefegt!', schüttelte es meine Mutter geradezu. Die Lachtränen liefen ihr über das Gesicht, und auch, wenn ich gerade diese Passage nun eigentlich nicht so besonders komisch finden konnte, gewann ich doch den Eindruck, daß dieses Buch, das mir aus ganz anderen Gründen gefiel – weil Pippi so stark war nämlich und weil sie genau die beiden Tiere besaß, die ich auch am liebsten besessen hätte – etwas ziemlich Gutes sein mußte." (Boie 1996, S. 68f.)

Am 24. Mai 2015 sendete ARTE um 22:15 zum 70. Jubiläum von Pippi eine TV-Dokumentation zu Astrid Lindgren. Das Video ist bis zum 31. Mai 2015 in der Mediathek "arte+7" abrufbar.

Quellen

  • Bialek, Manuela und Weyershausen, Karsten: Das Astrid Lindgren Lexikon. Alles über die beliebteste Kinderbuchautorin der Welt. Berlin: Scharzkopf & Schwarzkopf, 2004.
  • Boie, Kirsten: „Sie hat niemals unter den Betten gefegt!“ Ein Glückwunsch von Kirsten Boie. In: Oetinger Lesebuch. Jubiläumsausgabe zum 50jährigen Bestehen des Verlages 1996. Hamburg: Oetinger, 1996. S. 68-70.
  • Lundqvist, Ulla: Kommentar. In: Ur-Pippi. Kommentiert von Ulla Lundqvist. Hamburg: Oetinger, 2007. S. 117-168
  • Oetinger Lesebuch. Almanach 1987/88. Hamburg: Oetinger, 1987.
  • Osberghaus, Monika: Pippi verabreicht ein Lebenselixier. Warum „Pippi Langstrumpf“ zu den 50 besten Kinderbüchern gehört. In: Astrid Lindgren. Lesebuch zum 100. Geburtstag. Hamburg: Oetinger, 2007. S. 29-31.