Will man die Bedeutung des Jugendstücks Das Herz eines Boxers[1] herausstellen, so belegen die Zahlen der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins den Erfolg am Theater: Seitdem das Theaterstück 1996 im Berliner Grips-Theater uraufgeführt wurde, haben es mehr als 300.000 Zuschauerinnen und Zuschauer gesehen (vgl. Christensen 2021, S. 497-505); und das sind nur die offiziellen Zahlen, freie Theatergruppen oder Schulaufführungen werden in der Werkstatistik nicht erfasst. Auch im Ausland findet Das Herz eines Boxers großen Zuspruch, es wurde laut Auskunft des Verlags Hartmann & Stauffacher in zahlreiche Sprachen übersetzt und nicht nur in Europa, sondern auch in Brasilien, Russland und Japan inszeniert. Zum Erfolg trägt auch bei, dass Lutz Hübner für sein Generationenstück 1998 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet wurde. Darüber hinaus ist das Theaterstück von zahlreichen Verlagen publiziert worden, eine weitere Ausgabe des Reclam-Verlages erscheint in der Reihe Theater der Gegenwart (Hübner 2023). Zudem zählt Das Herz eines Boxers zu den wenigen Stücken des Gegenwartstheaters, die in den Schulkanon aufgenommen wurden: Das Drama ist in Auszügen in Schulbüchern abgedruckt (exemplarisch P.A.U.L. D. 2014, S. 192-215), als Schulausgabe erschienen (vgl. Hübner 2009, Hübner 2015) und es gibt fachdidaktische Publikationen und Unterrichtshandreichungen (vgl. u.a. Gora 2015, Rogge 2000, Schößler 2017, S. 238f., Steiner 2008), die das didaktische Potential des Dramas im Deutschunterricht ausloten. Das Bemerkenswerte an Das Herz eines Boxers ist aber nicht nur der kommerzielle Theatererfolg und der Einzug in die Literaturdidaktik. Als Besonderheit erweist sich zudem, dass das Stück, obwohl es für die Jugendbühne geschrieben wurde, auch im Schauspiel und in Abendvorstellungen aufgeführt wird und somit auch erwachsene Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht. Es scheint somit eine Mehrfachadressierung [VERLINKUNG] in Text, Buchmarkt und Diskurs vorzuliegen, die Rezipientinnen und Rezipienten unterschiedlicher Generationen anspricht. Somit soll im Folgenden die Bedeutung des Stücks für das Theater der Generationen herausgestellt werden.

Inhalt und Form

In Das Herz eines Boxers treten nur zwei Figuren auf, nämlich ein ehemaliger Boxer namens Leo, der gegen seinen Willen in der geschlossenen Abteilung eines Altenheims untergebracht wurde, und der scheinbar straffällig gewordene Jugendliche Jojo, der Sozialstunden im Seniorenheim ableisten muss. Es liegt insofern eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung vor, als dass die Handlung ausschließlich in Leos Altenheimzimmer spielt, wenige Tage umfasst und die Handlung im Sinne des Spannungsbogens nach Freytag sehr geschlossen ist (vgl. Christensen 2021, S. 96-99). Das Stück ist in insgesamt sieben Szenen gegliedert.

Als Jojo in der ersten Szene das Zimmer Leos betritt, präsentiert er sich als unhöflicher, kalter Jugendlicher, der sich über den alten Mann lustig macht. Doch bereits in der zweiten Szene gibt Jojo sich verletzlich und es wird offenbar, dass er selbst gar keine Straftat begangen hat, sondern für einen anderen die Schuld auf sich genommen hat. Leo und Jojo freunden sich an, denn spätestens als Jojo erfährt, dass Leo ein ehemals berühmter Boxer war, vertraut er ihm, erkennt ihn als Mentor an und kann sich so entwickeln. Doch auch Leo profitiert von Jojo, indem er neuen Lebensmut schöpft und sich helfen lässt. So endet das Drama glücklich: Während Leo dank Jojos Hilfe aus dem Altenheim flieht, gelingt es Jojo, das Herz eines Mädchens zu erobern.

Crossover – Diskurs und Markt

Dass Das Herz eines Boxers ausschließlich in einem Altenheimzimmer spielt, kann bereits als ein Hinweis darauf angesehen werden, dass das Theaterstück nicht nur Jugendliche, sondern thematisch auch Erwachsene anspricht. Nach Hoffmann liegt bei Literatur, die mehrere Generationen in die Rezeption inkludiert, ein "Spannungsfeld von Diskurs, Markt und Text" (Hoffmann 2018, S. 52) vor, was auch für Das Herz eines Boxers gilt. Dass das Drama auch Erwachsene lesen, zeigen die Publikationen bei unterschiedlichen Verlagen. Bereits 1997, ein Jahr nach der Uraufführung am Berliner Grips-Theater, erschien das Theaterstück in dem Band Blickwechsel. Fünf Stücke für ein Theater der Generationen (vgl. Hübner 1997). Alle in diesem Sammelband publizierten Dramen beinhalteten ein Zusammentreffen der Großeltern- mit der Enkelgeneration. Der altersübergreifende Charakter der Stücke, die zwischen den Generationen vermitteln sollen, wird bereits im Untertitel des Sammelbandes deutlich. Die Publikation richtet sich intentional aber nicht an Jugendliche, sondern vor allem an Interessierte aus dem Bereich Theater. Das gleiche gilt auch für den Sammelband Lutz Hübner. Vier Theaterstücke (Hübner 2005). Erst 2009, 13 Jahre nach der Uraufführung, wird Das Herz eines Boxers durch die Verlagsstrategie zum ersten Mal als Jugendstück vermarktet, nämlich als ‚Schullektüre’. Das Drama wird aktuell in zwei Schulausgaben herausgegeben, konkret in der Reihe „Texte und Materialien“ beim Klett-Verlag (Hübner 2009) sowie beim Schulbuchverlag Buchner (Hübner 2015). Diese Publikationsstrategie trägt zur Festigung von Das Herz eines Boxers im Schulkanon bei und unterstreicht die Zuordnung zur Jugendliteratur. Die Veröffentlichungen des Dramas zeigen also die Mehrfachadressierung auf, indem je nach Ausgabe entweder Erwachsene oder Jugendliche angesprochen werden.

Den unterschiedlichen Adressatenkreis spiegelt ebenso der Untertitel wider, denn der Autor weist in der ersten Publikation Das Herz eines Boxers nicht als Jugendtheaterstück aus. Obwohl es sich um eine Auftragsarbeit des Berliner Grips-Theaters handelte, untertitelte Lutz Hübner das Stück zunächst nur mit "Drama", was in dem Sammelband Blickwechsel noch so zu lesen ist (vgl. Hübner 1997, S. 121). In späteren Publikationen wird es dann als "Ein Jugendtheaterstück" (Klett-Verlag) bzw. "Jugendstück" (Theater der Zeit) untertitelt. Die Gattungsbezeichnung problematisiert auch der Autor selbst:

Als das Wort ‚Drama’ das erste Mal in einem Programmheft auftauchte, war ich etwas irritiert, dann merkte ich, dass ich das selbst gedankenlos aufs Deckblatt geschrieben hatte. ‚Jugendstück’ trifft es natürlich besser, auch wenn das Stück immer wieder auch im Abendspielplan, also für Erwachsene, angesetzt wird. Inzwischen nenne ich meine Stücke ‚Schauspiele’, da kann man eigentlich nichts falsch machen. (Fangauf 2009, S. 60f.)

Obwohl Lutz Hübner bewusst ein Stück für das Jugendtheater geschrieben hat, nimmt er somit keine eindeutige Zuordnung zur Jugenddramatik vor, was dessen All-Age-Charakter unterstreicht. Das zeigt auch der Ort der Aufführungen selbst: Am Theater wird das Drama seit Erscheinen regelmäßig gespielt, und zwar sowohl am Abend als auch bei Schulvorführungen am Vormittag. Im Bereich Markt und Diskurs zeigt sich somit bereits der generationsübergreifende Charakter von Das Herz eines Boxers.

Mehrfachadressierung und Doppelsinnigkeit im Dramentext

Generationsübergreifende Medien beinhalten eine Mehrfachadressierung an kindliche respektive jugendliche Rezipientinnen und Rezipienten und an Erwachsene im Text, während der Begriff der Doppelsinnigkeit auf zwei Botschaften, beispielsweise durch Intertextualität oder tiefenpsychologische Elemente, verweist. Solche Texte müssen also eine zweite, vorwiegend von Erwachsenen verstandene Lesart ermöglichen, für die ein kulturelles Allgemeinwissen erforderlich ist (vgl. Schilcher 2012, S. 23f.). In Bezug auf den dramatischen Text liegt in Das Herz eines Boxers sowohl eine Mehrfachadressierung als auch eine Doppelsinnigkeit vor, wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen.

In Das Herz eines Boxers treten nur zwei Figuren auf, nämlich der "etwa sechszehn Jahre" alte Jojo und Leo, ein "Mann Ende sechzig" (S. 12). Allein die Figurenkonstellation weist das Drama der All-Age-Literatur zu, denn hier treffen zwei Generationen (die Enkel- und Großvätergeneration) aufeinander, die außerhalb von familiären Bindungen kaum Berührungspunkte haben. Somit ist das Aufeinandertreffen von Jojo und Leo nicht freiwillig: Weil Jojo im Altenheim seine Strafstunden für einen Mofaklau verrichten muss, eine Straftat, die er für den Anführer seiner Clique auf sich genommen hat, lernt er den Altenheimbewohner Leo kennen, dessen Zimmer er streichen soll. Auch Leo ist nicht freiwillig im Altenheim: Er hat einen unmenschlich agierenden Pfleger mit einem Boxhieb niedergeschlagen und sitzt nun in der geschlossenen Abteilung der Pflegeeinrichtung. Dieses unfreiwillige Aufeinandertreffen der beiden Figuren stützt die These Immelmanns "Zwischen Großeltern und Enkeln gibt es so gut wie keinen natürlichen Kontakt mehr, wie das früher oft der Fall oder die Regel war." (Immelmann 1997, S. 7).

Mit dem Thema der alternden Gesellschaft wird ein besonders für Erwachsene relevantes Thema aufgegriffen. Doch vor allem die Darstellung von Jojo und Leo, die kaum unterschiedlicher sein könnten und doch als zwischen den Generationen vermittelnde und verbindende Instanzen auftreten, erklärt den Erfolg des Dramas bei Erwachsenen und Jugendlichen. Hübner stellt die Figuren zunächst als "Anti-Helden" dar, die es aber schaffen, durch gegenseitige Unterstützung ihre Aggressionen abzubauen (vgl. Fischer-Fels 1998, S. 71, Ceiss 2001, S. 73f.). Gerade weil die Dialoge der beiden Figuren auf Stereotypen und Klischees beruhen, können Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen von dem Stück profitieren, denn jede Generation kann der anderen den Spiegel vorhalten. Zudem bewirkt die Komik der Dialoge Authentizität (vgl. Giesecke 2008, S. 21). Beispiele für stereotype Vorstellungen des anderen zeigt bereits der Beginn des Dramas. Die Regieanweisung der 1. Szene ist als Spiel im Spiel anzusehen:

Leo kommt herein, auf dem Tisch liegen ein frisches Handtuch und eine kleine Schale mit Tabletten. Leo hängt das Handtuch um, schüttet sich die Tabletten in die Hand, geht zum Fenster, öffnet es, sieht sich um, dann schmeißt er die Tabletten in hohem Bogen nach draußen, er schließt das Fenster. Er markiert ein paar Boxschläge, ein Geräusch von draußen ist zu hören, Leo setzt sich schnell in den Sessel, zieht sich eine Decke über die Füße, rückt den Sessel Richtung Fenster, sieht nach draußen. Die Tür geht auf, Jojo kommt herein, er hat Folie, einen Eimer weiße Wandfarbe und Pinsel dabei. (S. 13)

Leo spielt die Rolle eines alten Mannes, denn sobald Jojo sein Zimmer betritt, präsentiert er sich als senil, alt und schwach, obwohl er zuvor als gesunder, sportlicher Mann agierte. Leo inszeniert sich als jemand, der kürzlich einen Schlaganfall erlitten hat. Diese Maskerade offenbart er Jojo zu Beginn der 2. Szene: "Ich hatte vor zwei Wochen einen Schlaganfall, seitdem kann ich nicht mehr sprechen. Ich bin völlig hilflos, keiner weiß, wie viel ich überhaupt noch mitkriege, der arme alte Mann." (S. 18). Doch wie bereits angedeutet, präsentiert sich auch Jojo zu Beginn nicht als der verunsicherte junge Mann, der er ist. Mit flotten Sprüchen mimt er zunächst den straffälligen, aggressiven Jugendlichen, dem der Rest der Welt egal ist und der keinerlei Rücksicht auf den alten Mann nimmt.

Leo dreht sich um, sieht Jojo an. Was glotzt du denn so? Der erste Besuch seit dem Krieg, was? Glaub bloß nicht, dass ich das hier aus Nächstenliebe mache. Seh ich so aus wie jemand, der ein Herz für Senioren hat? Eben. (S. 13)

Obwohl Jojo hier vorgibt, keine Empathie für alte Menschen zu hegen, wird im Verlauf des Dramas deutlich, dass er sehr wohl ein mitfühlender und wertschätzender Mensch ist. "Beide Figuren verstecken sich hinter den Rollen, die sie spielen." (Fischer 2002, S. 399) Dass Leos Rolle als seniler Alter in der 1. Szene funktioniert, erkennt der Rezipient auch daran, dass Jojo Leo von seiner Straftat erzählt: "Ich krieg keinen Pfennig für den Job, also seh ich auch nicht ein, dass ich mir hier den Buckel krumm schufte, das sind Strafstunden, höchstrichterliche Anordnung." (S. 14) Jojo geht davon aus, dass Leo ihn nicht versteht, da der alte Mann sich als senil darstellt. Der Rezipient bzw. die Rezipientin hat aber aufgrund des die 1. Szene einleitenden Nebentextes bzw. Bühnengeschehens einen Wissensvorsprung vor der Figur Jojo, was als wichtige Funktion von Nebentexten gilt (vgl. Tonger-Erk 2018, S. 442). Das evoziert Spannung und unterstützt den unterhaltsamen Charakter des Theaterstücks, denn der Rezipient möchte erfahren, wie Leo mit Jojos Unverschämtheiten umgeht. Da Leo nicht auf seine vermeintlich coolen Sprüche und Drohungen reagiert, redet sich Jojo immer mehr in Rage und wird aggressiv:

Ich hol jetzt mal die Leiter rein, nur damit du nicht erschrickst und plötzlich gar nichts mehr sagst, wäre doch schade um die schöne Plauderei, was? Was starrst du mich denn so an? Ich hab kapiert, dass du ganz prima `ne alte Echse nachmachen kannst, ich bin echt beeindruckt. Also, lass mich in Ruhe und guck aus’m Fenster. Oh Mann, hier macht man was mit, ätzend. Weißt du, ich hab das nicht so gern, das macht mich nervös. Ich fang nachher noch an, deinen Lehnstuhl weiß zu streichen, und das wäre doch echt irgendwie voll übel, wo du dich jetzt so schön an das Kackbraun gewöhnt hast, oder? Dreh ab, hab ich gesagt! Leo sieht aus dem Fenster hinaus. Na geht doch. (S. 14)

Dass Jojo den alten Leo immer wieder in aggressiver Weise darauf hinweist, ihn nicht anzustarren, zeigt, wie unangenehm ihm Leos Sprachlosigkeit zunehmend ist. Der Redefluss erweist sich also als ein Zeichen seiner Unsicherheit, da Leo nicht auf ihn reagiert. Am Schluss der 1. Szene wehrt sich Leo. Weiter den tattrigen, senilen Mann spielend, kippt er Jojo Farbe über die Füße (S. 16).  Durch dieses Spiel im Spiel Leos erkennen die Rezipienten, dass sich Jojos stereotype Vorstellungen alten Menschen gegenüber als erkennbar falsch erweisen. Die junge Generation soll der alten Respekt entgegenbringen. Indem im Verlauf des Stücks offenbar wird, dass auch Jojo eine Rolle spielt, kann auch dieser Figur mit Verständnis begegnet werden. Dass Jojo kein krimineller Jugendlicher ist, wird bereits in der 2. Szene deutlich: Jojo offenbart, dass er die Straftat für jemand anderen auf sich genommen hat, und Leo erkennt, dass der Junge damit einem Mädchen imponieren wollte (S. 17). Im Verlauf der Handlung zeigt sich, dass Jojo Mädchen gegenüber schüchtern und unsicher ist und eigentlich ein gutes Herz hat (vgl. Schößler 2017, S. 239). Das zeigt sich beispielsweise daran, dass er Leo am Ende des Dramas bedingungslos hilft. Fortan bieten beide Figuren Möglichkeiten der Einfühlung und Identifikation – unabhängig vom Alter der Rezipienten und Rezipientinnen.

Zudem können beide Generationen voneinander lernen: Jojo entwickelt sich dank Leos Mentorschaft, reift an seinen Problemen, indem er sich von der Clique und auch von Gewalt abwendet, weswegen das Drama auch Merkmale der Adoleszenzliteratur aufzeigt. Jojos Ich-Findung gelingt. Aber auch Leo profitiert von dem Jungen: Er schöpft neuen Lebensmut und am Ende gelingt es ihm dank einer Charlies-Tante-Nummer, aus dem Altenheim zu fliehen. Die dann folgende Travestie, bei der sowohl Jojo als auch Leo in Frauenkleidung auftreten, reizt dazu, befreit zu lachen: Während Leo die Flucht gelingt, freut sich Jojo auf das anstehende Treffen mit seinem Mädchen – das Drama endet glücklich.

Zu dem humorvollen Charakter des Stückes passt auch, dass eine Hierarchie des Wissens vorliegt, die Komik evoziert: Im folgenden Dialog berichtet Jojo davon, dass Leos Tipp, seinem Schwarm jeden Tag eine Rose vor die Tür zu legen, zum Erfolg geführt hat.

Jojo:    Tatsache ist, er [gemeint ist Leos Fluchtplan, A.C.] hat nicht funktioniert. Dafür aber der andere, aber total.

Leo:     Was meinst du?

Jojo:    Die Rosennummer. Gestern bin ich hin, mit dem Zettel: Zwanzig Uhr McDonald’s.

Leo:     Wer ist McDonald’s?

Jojo:    Das ist kein Kollege von dir. (S. 33)

Später fordert Leo Jojo dazu auf, das Mädchen zum Essen einzuladen, und zwar mit seinem Geld: "Nimm den Rest und geh mit dem Mädchen bei dem Schotten essen. " (S. 35) Leo hält McDonald’s aufgrund des Namens für einen schottischen Restaurantbesitzer und scheint die Fast-Food-Kette nicht zu kennen, was ihn als alten Mann charakterisiert. Den Markennamen McDonald’s mit schottischen und irischen Herkunftsnamen in Verbindung zu bringen, birgt aber einer gewissen Logik, so dass Leos Fehler Komik erzeugt. Während sich Jugendliche vor allem darüber amüsieren, dass Leo die Fast-Food-Kette nicht kennt, evozieren Leos Schottlandassoziationen für Erwachsene ein Lachen. Eine solche Form des Komischen lässt sich nach Hoffmann als doppelsinnig bezeichnen (vgl. Hoffmann 2018, S. 329).

Auch das Boxmotiv zeigt Mehrfachadressierung und Doppelsinnigkeit, und zwar sowohl in Bezug auf den Titel als auch in Bezug auf die Handlung. Zum einen ist das Thema Boxen als eine Hommage an eine alte Sportart anzusehen. Kultur- oder vielmehr sporterfahrene Rezipientinnen und Rezipienten werden in der Figur Leos Anspielungen auf Max Schmeling erkennen, der das aus dem Jahr 1930 stammende Lied Das Herz eines Boxers gesungen hat. Auch sonst schimmert die Biografie Schmelings durch die Figur Leo, denn Leo war wie der reale Boxer Schmeling im Krieg und auch Schmeling steht in dem Ruf, ein Boxer gewesen zu sein, der eigentlich gar nicht im Ring kämpfen wollte und es – nach dem Krieg – vor allem aus finanziellen Gründen tat (vgl. Hübner 2015, S. 72f., Rogge 2000, S. 47).[2] Der Schmeling-Bezug erweist sich somit als Merkmal von Doppelsinnigkeit und spricht auch erwachsene Kenntnisstände an. Zum anderen steht Boxen aber auch dafür, innerhalb von Konventionen für eigene Ziele zu kämpfen. Zudem ist das Boxmotiv Teil eines ästhetischen Konzeptes, denn das sieben Szenen umfassende Drama gleicht sieben Boxrunden. Das bestätigt auch der Autor: "Genau, die Idee war, dass die Geschichte abläuft wie ein Boxkampf, in jeder Szene führt einer der beiden, aber unmerklich entwickelt sich aus dem Kampf gegeneinander ein gemeinsamer Kampf, um die eigenen Ziele zu erreichen." (Fangauf 2009, S. 60)

Boxen wird auch genutzt, um Jojo zu erziehen. So fordert Jojo Leo begeistert auf, ihm zu zeigen, wie man boxt, worauf Leo nur ablehnend begegnet: "Du willst ein Held sein, es ist besser, wenn du es nicht weißt." (S. 24) Erst als Jojo verstanden hat, dass Gewalt keine Lösung ist, bringt er ihm Boxen bei (vgl. Christensen 2021, S. 316f.). Leo erklärt den Boxsport mit folgendem Vergleich: "Das ist wie im richtigen Leben, du musst immer in Bewegung sein, und irgendwo ist eine Lücke, da kommst du rein." (S. 29) In der letzten Szene verabschiedet sich Jojo von dem alten Boxer mit den Worten: "Du warst eine gute Lektion." (S. 37) Somit nutzt auch Jojo die Boxmetapher, um zu zeigen, dass er sich dank Leo weiterentwickelt hat. Das Drama endet wie folgt:

Leo geht, Jojo stellt sich ans Fenster.

JOJO: Bittebittebitte.

Jojo stößt einen Jubelschrei aus, dann zieht er sich die roten Boxhandschuhe an, macht ein paar Schläge in die Luft.

JOJO: Okay, Freunde [sic!] hier kommt der rote Jojo, was kostet die Welt.

Ab, Musik. Black. (S. 38)

Der Dramenschluss zeigt, dass Jojo durch Leo gereift ist und ihm nun nacheifern will. Indem er die Rolle des ‚roten Boxers’, als der ja ursprünglich Leo galt (vgl. S. 21f.), übernimmt, zeigt er eine positive Veränderung auf und signalisiert, dass er fortan Leos Ratschläge beherzigen möchte und sich ihm verbunden fühlt. Somit bietet das Leitmotiv des Boxens nicht nur unterschiedlichen Rezipienten und Rezipientinnen Anknüpfungsmöglichkeiten, sondern es bildet auch das Miteinander der Generationen ab. 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. Drama. In: Blickwechsel. Fünf Stücke für ein Theater der Generationen. Hrsg. von Henning Fangauf. Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1997. S. 121-149.

Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. Jugendstück. In: Lutz Hübner: Vier Theaterstücke. Berlin: Theater der Zeit, 2005. S. 11-38.

Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. Ein Jugendtheaterstück. Hrsg. von Klaus-Ulrich Pech, Rainer Siegle. Stuttgart: Klett. 2009.

Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. In: Buchners Schulbibliothek der Moderne, 2. Aufl. Bamberg: Buchner. 2015.

Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. Stuttgart: Reclam. 2023.

P.A.U.L. D. Persönliches Arbeits- und Lesebuch Deutsch für die Jahrgangsstufe 8. Hrsg. von Frank Radke. Paderborn: Westermann. 2014.

Sekundärliteratur

Ceiss, Carl: Al Gusto. Lutz Hübner. In: Stück-Werk 3. Neue deutschsprachige Dramatik. Arbeitsbuch. Hrsg. von Christel Weiler, Harald Müller. Berlin: Theater der Zeit, 2001. S. 73-76.

Christensen, Anke: Jugenddramen von Lutz Hübner und Sarah Nemitz – ‚Form follows function‘. Berlin: Peter Lang. 2021.

Fangauf, Henning: Ein Interview mit Lutz Hübner. In: Lutz Hübner: Das Herz eines Boxers. Ein Jugendtheaterstück. Hrsg. von Klaus-Ulrich Pech, Rainer Siegle. Stuttgart: Klett, 2009. S. 59-62.

Fischer, Gerhard: GRIPS. Geschichte eines populären Theaters (1966-2000). München: Iudicium, 2002.

Fischer-Fels, Stefan: "Im Hagelschlag stehen und sagen: Ich bin doch auch noch wer!" Lutz Hübner. In: Stück-Werk 2. Deutschsprachige Autoren des Kinder- und Jugendtheaters. Arbeitsbuch. Berlin: Theater der Zeit, 1998. S. 69-73.

Giesecke, Elisa: Wirklichkeitsspuren. Die 26. Bayerischen Theatertage setzen auf Kinder- und Jugendtheater. In: Die Deutsche Bühne. H. 7 (2008). S. 20f.

Gora, Stephan (Bearb.): Lutz Hübner: Das Herz eines Boxers. Buchners Lektürebegleiter Deutsch. Arbeitsheft 10. Bamberg: Buchner, 2015.

Hoffmann, Lena: Crossover. Mehrfachadressierung in Text, Markt und Diskurs. Zürich: Chronos, 2018.

Immelmann, Georg: Vorwort. In: Blickwechsel. Fünf Stücke für ein Theater der Generationen. Hrsg. von Henning Fangauf. Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1997. S. 7.

Rogge, Ina: Das Jugenddrama Das Herz eines Boxers von Lutz Hübner. Aspekte einer Gattungseinführung in der Jahrgangsstufe 8. In: Literatur im Unterricht 1 (2000). S. 37-48.

Schilcher, Anita: Was sind „Klassiker“ der internationalen Kinder- und Jugendliteratur? Aspekte des Klassikerbegriffs. In: „Klassiker“ der internationalen Jugendliteratur. Kulturelle und epochenspezifische Diskurse aus Sicht der Fachdisziplinen. Hrsg. von ders., Claudia Maria Pecher. Baltmannsweiler: Schneider, 2012. S. 1-28.

Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. 2., akt. und überarb. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler, 2017.

Steiner, Anne: Lutz Hübner: Das Herz eines Boxers. Anregungen für den Dramenunterricht der Mittelstufe. In: Deutschmagazin 3 (2008). S. 31-36.

Tonger-Erk, Lily: Das Drama als intermedialer Text. Eine systematische Skizze zur Funktion des Nebentextes. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48. H. 3 (2018). S. 421-444.


Fußnoten

[1] Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers. Jugendstück. In: Lutz Hübner: Vier Theaterstücke. Berlin: Theater der Zeit, 2005. S. 11-38. Belege dieses Primärtextes werden im Folgenden in Klammern eingefügt.

[2] Interessanterweise hat der Autor selbst eine andere Boxerbiografie als tatsächliche Vorlage genommen, wie er der Verfasserin mitteilte.


Informationen zum Autor findet man auf der folgenden Verlagsseite:

https://www.hsverlag.com/autoren/detail/a44