Zum Tag der Deutschen Einheit dominiert die Debatte um das Ost-West-Verhältnis auch 2023 die öffentlich-rechtlichen Medien. Die ARD- Reporterin Jessy Wellmer begibt sich in ihrer Reportage Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen auf Spurensuche nach dem ostdeutschen Blick auf den Westen, was Luis Klamroth im Anschluss in der Talkshow Hart aber fair diskutiert. Dirk Oschmann erklärt den Osten in seinem Bestseller zu einer „westdeutschen Erfindung“ und rechnet mit dem Westen ab, der sich seines Erachtens auch nach 30 Jahre nach dem Mauerfall noch als Norm definiere und die Ostdeutschen als Abweichler*innen markiere. Die hohen Zustimmungswerte, welche die AfD in den neuen Bundesländern erfährt, werden vielerorts ins Feld geführt, um die seit 1990 geführte Debatte um Ost-West-Differenzen immer neu zu befeuern. All das zeigt: Die Zeit des geteilten Deutschlands ist immer noch ein öffentlich wirksames Diskussionsthema, das neuen Zündstoff findet, wenn den ostdeutschen Bundesländern eine Nähe zu Russland zugeschrieben wird (auch hierzu hat Jessy Wellmer eine Reportage gedreht: Russland, Putin und wir Ostdeutsche).

An solchen breitenwirksam diskutierten Feldern beteiligt sich auch die Kinder- und Jugendliteratur. Die deutsch-deutsche Geschichte ist hier schon seit 1990 ein Thema. Dabei wandeln sich die zugrundeliegenden Geschichtsbilder und die Erzählweisen enorm; die Vielfalt ist beeindruckend.

Mit Blick auf die erzählte Zeit lassen sich die kinder- und jugendliterarischen Texte gliedern in:

  1. Herbst 89-Geschichten, in denen die Ereignisse im Herbst 1989 im Zentrum stehen (z.B. Fritzi war dabei von Hanna Schott, Mauerblümchen von Holly-Jane Rahlens, Wir sehen uns im Westen von Dorit Linke)
  2. DDR-Geschichten, in denen das Leben und der Alltag in der DDR vor der Wende fokussiert wird (z.B. Lilly unter den Linden von Anne C. Voorhoeve oder In einem Land vor unserer Zeit von Ina Raki, neu aufgelegt als Im Labyrinth der Lügen von Ute Krause)
  3. Jahrhundert-Geschichten, die einen großen historischen Bogen spannen und die Geschichte von den Weltkriegen über den Mauerbau bis zum Mauerfall rekonstruieren (z.B Die Lisa sowie Hundert Jahre und ein Sommer von Klaus Kordon, Grenzgänger von Alina Sax oder In einem alten Haus in Berlin von Kathrin Wolf und Isabel Kreitz [s. Abb. 1])
  4. Nachwende-Geschichten, die vorrangig das Leben in Ost und/oder West nach der Wiedervereinigung beleuchten (z.B. Ein Sommer, ein Anfang von Herbert Günther, Bye-Bye, Berlin von Petra Kasch, Scherbenhelden von Johannes Herwig)
  5. Flucht-Geschichten, welche die Flucht aus der DDR kurz vor dem Mauerfall ins Zentrum stellen und vom Leben in der DDR in Rückblenden erzählen (z.B. Jenseits der blauen Grenze von Dorit Linke und Tonspur von Olaf Hintze und Susanne Krones)

Der Beitrag zeichnet die historische Genese dieser vielfältigen Texte in Grundzügen nach.

Abb. 1: Cover zu In einem alten Haus in Berlin. Gerstenberg-VerlagAbb. 1: Cover zu In einem alten Haus in Berlin. Gerstenberg-Verlag

Wahnsinn! Die Mauer ist gefallen....

Die Kinder- und Jugendliteratur reagierte zügig auf den deutsch-deutschen Umbruch in den Jahren 1989/1990. Die allererste Publikation liegt mit dem Erzählband Wahnsinn! Geschichten vom Umbruch in der DDR (Abraham/ Gorschenek) vor, der 1990 von ostdeutschen Autor*innen publiziert wurde. Hier handelt es sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen Blick auf den Wendeherbst 1989 werfen, von den Herausgeber*innen als „literarische Dokumente“ bezeichnet, „wie sie nur diese Monate und Wochen (kurz nach dem Mauerfall, K.K.) hervorbringen konnten.“ Sie heben im Vorwort den dokumentarischen Charakter hervor, der den Kurzgeschichten innewohnt und schreiben: „Uns erschien es wichtig, diese besondere Zeit festzuhalten, und zwar so, wie sie in der DDR erlebt und empfunden wurde.“ (ebd.) Der Band kommt in diesem Sinne einer gewissen Chronistenpflicht nach, und ihm ist ebenso die Gewährung eines Einblicks in die psychosoziale Situation der DDR zuzusprechen: ein kinderliterarischer Seismograph des Umbruchs.

Als Autor*innen des Buches benennen die Herausgeber*innen als „namhafte Schriftsteller für Kinder und Jugendliche aus der DDR“ (ebd.). Bezeichnenderweise hat keiner der Autor*innen im wiedervereinigenden Deutschland an die hier benannte Popularität anknüpfen können. Der Band wird nicht mehr aufgelegt, ist nur noch antiquarisch erhältlich. Dabei gilt, was Susanne Müller-Martin 1990 in der taz schreibt: „Es wird wohl noch lange dauern, bis dieses Buch an Aktualität verloren hat“, (https://taz.de/!1742226/). Sie bezeichnet den Band treffend als „letztes DDR-Buch“.

Eine graue DDR und eine goldene BRD voller Cola und Bananen

Und das stimmt, denn was nun erstmal (ab 1991) folgt, sind zahlreiche Erzählungen für Kinder und Jugendliche, die sich in Stereotypen und Klischees verfangen, häufig von westdeutschen Autor*innen verfasst. Titel wie Alex - belogen (Elisabeth Zöller, 1991) oder Ich fühl mich so fifty fifty  (Karin König, 1991) zeichnen das Bild einer grauen DDR, die mit einer goldenen BRD voller Cola und Bananen kontrastiert ist, welche den Ostfiguren vor 1989 als unerreichbarer Sehnsuchtsort erscheint – und das gilt auch noch aktuell.

„Auf der Westseite lasen die Kinder Comics, trugen Jeans und aßen Pizza. Im Westfernsehen liefen die tollsten Zeichentrickserien“ (unpag.) so heißt es etwa im Bilderbuch Mit dem Ballon in die Freiheit (Fulton/Kuhlmann 2019). Und schon in der ersten Szene des Zeichentrickfilms Fritzi – Eine Wendewundergeschichte (Bruns/Kukula 2019) berichtet die Freundin der Protagonistin Sophie, nur im Westen gebe es echte Coca-Cola und Bananen, ihre Oma sage, dort sei alles besser. So avanciert der Mauerfall zum großartigen Befreiungsschlag, bei dem sich Ost und West in den Armen liegen, getreu dem Märchen-Motto: Ende gut, alles gut!

Für diese Art und Weise der einseitigen Darstellung hat der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel drei Stereotypen beschrieben: den Täter-Opfer-Topos, den Widerstandstopos und das Feindbild Lehrer/Eltern (vgl. Gansel 2010), denn es ist diese Figurengruppe, denen die Schuld am Unrechtsstaat DDR gegeben wird. Die DDR-Bürger*innen erscheinen als Opfer einer bösartigen Staatsmacht, gegen die sie tapfer in den Widerstand gingen.

Böse Väter und mutige Mütter

Blickt man genauer in die Texte, ist zu erkennen, dass man diese Stereotypen genderspezifisch zuspitzen und beim letzten vom Feindbild Väter /Lehrerinnen sprechen kann. Denn fast immer sind es die Väter, die bei der Stasi sind und sich dem DDR-Regime verpflichtet fühlen bzw. weibliche Lehrerinnenfiguren, während die Mütter eine offenere Haltung einnehmen, mit Ausreisewilligen sympathisieren und die Grenzöffnung begrüßen (vgl. Kumschlies 2022). An diesem negativen Vaterbild scheinen auch innovativere Kinderromane aus den letzten Jahren festzuhalten. Allerdings fällt die Darstellung der Väter zunehmend moderater aus, insofern als sie nicht mehr reine Hassfiguren repräsentieren, sondern sie durchaus liebevolle Seiten haben bzw. wie in Zorro Vela. Ein Märchen aus dem Kalten Krieg (Zähringer 2019) am Ende offenlegen, dass der Vater in der Vergangenheit auch Widerstand geleistet hat.

Insgesamt – so kann man sagen - konstruiert die Kinder- und Jugendliteratur zu Mauerfall und ‚Wende‘ eine dominant weibliche Perspektive. Sie zeichnet einen weiblich konnotierten Umbruch, der von den Frauen getragen wurde. Die Männer bleiben mehrheitlich frustriert und gebrochen zurück und trauern der DDR nach. Hier spiegelt sich die „entschiedene Abrechnung mit der Vätergeneration“, die Arne Born (2020) in seiner Literaturgeschichte der Deutschen Einheit für die frühen Texte der Allgemeinliteratur konstatiert, die dann aber mit Monika Maron (Animale triste) und Thomas Brussig (Helden wie wir) gebrochen wurde, indem auch die Mutterfiguren der Lächerlichkeit preisgegeben worden seien. Man denke hier auch an Klassiker wie Tellkamps Turm.

Und nun: der Alltag in der DDR

Die kinderliterarischen Neuerscheinungen der letzten zehn Jahre beziehen sich vielfach auf den Alltag in der DDR, wenden sich ab vom Fokus auf den Befreiungsschlag Mauerfall und Herbst 1989 hin zu einem differenzierten Blick auf das Alltagsleben in der DDR, so z.B. Judith Burger in ihrer Freundschaftsgeschichte Gertrude grenzenlos (2019, s. Abb. 2). Damit fügen sich die Texte ein in die aktuelle Debatte, die den Blick auf die DDR nicht mehr auf das Postulat „Unrechtsstaat“ verengen will, sondern auch solche Stimmen zu Wort kommen lässt wie jene des Fußballtrainers aus Jessy Wellmers eingangs erwähnter ARD-Reportage, der sagt: „Ich hatte eine schöne Kindheit in der DDR.“ Texte wie Burgers Gertrude grenzenlos verherrlichen nichts, sie verschieben nur den Fokus weg vom historischen Meisternarrativ Mauerfall hin zu gelebten Kindheiten in der DDR- mit allen ihren Höhen und Tiefen und reduzieren die DDR-Darstellung nicht allein auf das Diktaturgedächtnis.

Abb. 2: Cover von Judith Curgers Gertrude Grenzenlos. Gerstenberg-VerlagAbb. 2: Cover von Judith Curgers Gertrude Grenzenlos. Gerstenberg-Verlag

Neue Innovationen im Sachbilderbuch: Mauern und In einem alten Haus in Berlin

Aktuell gehen innovative Impulse vor allem vom Sachbilderbuch aus, von denen hier abschließend zwei Beispiele vorgestellt seien, die beide zur Textgruppe der oben sogenannten Jahrhundert-Geschichten gehören. Die DDR-Geschichte wird hier für die kindlichen Rezipient*innen in einen großen historischen Zusammenhang gestellt.

2022 legen Bogus Janiszewski und Max Skorwider mit Mauern (s. Abb. 3) ein Sachbuch vor, in dem sie auf jeder Doppelseite Mauern völlig unterschiedlichen Charakters in Geschichte und Gegenwart vorstellen. Es geht hier um Mauern „aus Stein, Stacheldraht und in den Köpfen“, so der Untertitel. Neben der Berliner Mauer, die zwei Doppelseiten belegt, steht hier zum Beispiel die Klagemauer, die amerikanische Grenzmauer, aber auch Wandmalerei und Barrikaden in Straßenschlachten. Informationskästen geben Auskunft über Ort, Material, Ausmaß, Entstehungszeit und Funktion der jeweiligen Mauer. Die Berliner Mauer steht hier in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schallmauer aus Musik, die Pink Floyd mit ihrem Song „The Wall“ errichtete. Bemerkenswert an dieser Darstellungsform, die auch mit einer gehörigen Portion Komik aufwartet, ist die Kontextverschiebung in Bezug auf den Fokus, den das Sachbilderbuch legt. Die deutsch-deutsche Geschichte steht hier in einem globalen Zusammenhang und sensibilisiert für menschlichen Mauerbau auf einer generellen Ebene: „Überall, wo es eine Mauer gibt, versuchen die Menschen, sie zu überwinden. Das ist schon seit Tausenden von Jahren so.“ Das ist noch heute so – und so war es von 1961 bis 1989 in Deutschland.

Abb. 3: Cover zu Mauern von Bogus Janiczweski und Max SkorwiderAbb. 3: Cover zu Mauern von Bogus Janiczweski und Max Skorwider

Einen großen historischen Zusammenhang nimmt auch, aber in ganz anderer Art und Weise in Narration und Aufbereitung, das großformatige Sachbilderbuch In einem alten Haus in Berlin. Ein Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte, das Kathrin Wolf (Text) und Isabel Kreitz (Bilder) 2023 in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Berlin vorgelegt haben. Hier können kindliche Rezipient*innen deutsche Geschichte von 1871 bis 2021 exemplarisch nachvollziehen. Die Leser*innen begleiten eine Berliner Familie „über fünf Generationen hinweg und erleben an ihrer Seite Kaiserzeit und Weltkriege, Mauerbau und Mauerfall“, so der Klappentext. Die Text-Bild-Korrespondenzen setzen auf einen unglaublichen Detailreichtum, der sich in Wimmelbildern von Isabel Kreitz entfaltet. Der Mauerfall ist als Fernseherlebnis im Wohnzimmer inszeniert und setzt nicht nur die eine Nacht vom 9. November 1989 zentral, wie es in den oben genannten frühen Texten oft der Fall war, sondern weitet den Blick auf den größeren zeitlichen Zusammenhang: Die Mauerspechte werden aktiv, Mama und Papa gehen an Silvester zum Konzert von David Hasselhoff an der Mauer. Persönliche Treffen mit West-Freund*innen der zentralen Buchfamilie finden erst zu Weihnachten 1989 statt und sind damit vorsichtig angebahnt. Sie fungieren nicht als dramatischer Showdown und rühren nicht zu Tränen. Diese beiden Beispiele zeigen, wie sich der Blick der Kinderliteratur auf die DDR ausdifferenziert. Die Geschichtsbilder, Erzählweisen und Darstellungsformen wandeln sich und eröffnen damit einen literarischen Möglichkeitsraum zwischen Fiktionalität und historischer Faktizität, der sowohl für literarisches als auch für historisches Lernen essentiell ist. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend im Sachbilderbuch und erzählendem Kinderroman sich auch auf die Jugendliteratur ausweitet. Denn es gibt immer noch viel zu erzählen über die deutsche Geschichte von Ost und West!

Literatur

Born, Arne: Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989-2000. Fremdheit zwischen Ost und West. Hannover: Werhahn Verlag, 2019.

Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Dettmar, Ute/ Oetken, Mareile (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-) Literatur und Medien. Heidelberg: Winter, 2010. S. 17–50.

Kumschlies, Kirsten: Vaterfiguren und Genderkonstrukte in der Kinder- und Jugendliteratur zu Mauerfall und Wende von 1991 bis heute. In: Willms, Weertje (Hrsg.): Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Synchrone und diachrone Perspektiven. Berlin: de Gruyter, 2022. S. 377-392.