Explikat
Eingesetzt werden Verfremdungseffekte, um beim Zuschauenden die Illusion der dramatischen Fiktion zu durchbrechen:
Ausgangspunkt ist die Einsicht, daß [sic] die Vortäuschung von Wirklichkeit (als ob) durch die Illusionierung einer Ästhetik des Industriezeitalters unangemessen ist, zumal der Faschismus mit seiner 'Ästhetisierung der Politik' (W. Benjamin) alle traditionellen Mittel der Einfühlung zur Verführung der Massen einsetzt. (Knopf 2004a, S. 284).
Der Zuschauer soll durch die Verfremdungseffekte demnach in eine entspannte, beobachtende und gleichsam kritische Haltung versetzt werden, um mögliche Konsequenzen für das eigene Verhalten außerhalb der Welt des Theaters ziehen zu können (vgl. Knopf 2004b, S. 286).
Unabhängig von dieser funktionalen Ausrichtung der Verfremdungseffekte unterscheidet Jan Knopf als Effekte bspw. das Nichtaufgehen eines Darstellers in seiner Rolle (vgl. ebd.) wie im Falle des Hanswurst in Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater, der auf die Konzeption und Geschichte seiner eigenen Figur eingeht:
Hanswurst: Leider nur ein Deutscher. Meine Landsleute wurden um eine gewisse Zeit so klug, daß [sic] sie allen Spaß bei Strafe verboten; wo man mich nur gewahr ward, gab man mir unausstehliche Ekelnamen, als: gemein, pöbelhaft, niederträchtig, ja mein guter ehrlicher Name Hanswurst ward zu einem Schimpfworte herabgewürdigt. O edle Seele, die Tränen stehn [sic] dir in den Augen, und du knurrst vor Schmerz, oder macht es der Geruch des Bratens, der dir in die Nase zieht? Ja, lieber Empfindsamer, wer sich damals nur unterstand, über mich zu lachen, der wurde ebenso verfolgt, wie ich, und so mußt [sic] ich denn wohl in die Verbannung wandern. (Tieck 1978)
Zum anderen benennt Knopf, "dass [...] die Trennung Bühne/Publikum durch Einführung einer halbhohen Gardine, die die Zuschauer z. B. an Umbauten beteiligt, und durch direkte Ansprachen sowohl während des Geschehens als auch durch Prolog und/oder Epilog durchbrochen wird (Niederlegung der 4. Wand)" (Knopf 2004b, S. 286) einen solchen praktischen Verfremdungseffekt darstellt, der bspw. das Stück Unter dem Tisch kennzeichnet. Dort verwandeln sich die Darstellenden bspw. erst vor den Augen des Publikums in die Figuren des Stückes:
Sie sind dabei, sich zu schminken: Sie verwandeln eines ihrer Augen in ein buntes Südseefisch-Auge. […] Unsere "Eltern" wissen aus Erfahrung, daß [sic] Eineinhalb-bis Dreieinhalbjährige Angst vor zu viel Neuem haben können, was zu unkontrolliertem Tränen vergießen führen könnte, die die Freude am Fest verderben würde. Also verwandeln sich die "Eltern" vor den Augen der Kinder. (Desfosses 2000, S. 17)
Zudem verschmelzen im Stück über die Interaktion des kindlichen Publikums mit den Schauspielern und der Bühne die Ebenen von Bühnen- und Zuschauerraum. Die Grenze bzw. die vierte Wand zwischen Bühne und Publikum wird somit wiederholt durchbrochen:
Jeder sucht sich einen Platz, die Kinder "klettern in die Aufführung hinein", über kleine Leitern, die zu ihren Bänken führen. Alle sitzen; wundern sie sich nicht, wenn einige Kinder unter dem starken Eindruck lieber auf dem Schoß eines Erwachsenen sitzen möchten, während andere mutigere kurz davor sind, auf den Tisch zu klettern und wieder andere reglos stehen bleiben, um alles erst einmal mit den Augen zu erkunden. (ebd. S. 21)
Bibliografie
Primärliteratur
- Desfosses, Agnès: Unter dem Tisch. Ein Stück für 50 Gäste. In: Spielplatz. Sieben Theaterstücke für die Allerkleinsten. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2000.
- Tieck, Ludwig: Der gestiefelte Kater. 1978. http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-gestiefelte-kater-5470/1 (30.09.2016).
Sekundärliteratur
- Knopf, Jan: Verfremdung. In: Nünning, Ansgar: Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2004a. S. 284.
- Knopf, Jan: Verfremdungseffekt. In: Nünning, Ansgar: Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2004b. S. 285-286.