Explikat
Der Begriff der Erzählsituationen beschreibt nach Christoph Bode "Konzepte, die aufgrund bestimmter Erfahrungen und Daten abstrahierend gebildet wurden – mit dem Ziel, sie als analytische Instrumente wiederum auf Erzähltexte anzuwenden." (Bode 2011, S. 141)
Die auktoriale Erzählinstanz tritt als eigenständige und durch Kommentare deutlich erkennbare Gestalt auf, der sowohl räumlich, zeitlich, als auch logisch keine Grenzen gesetzt sind.
Christoph Bode bezeichnet die auktoriale Erzählinstanz leicht polemisch, aber treffend als "Gottvater unter den Erzählinstanzen" (ebd. S. 149). Hinter diesem Urteil verbirgt sich die Tatsache, dass den Möglichkeiten der auktorialen Erzählinstanz keinerlei Grenzen gesetzt sind – oder erneut mit Bode: "Die auktoriale Erzählsituation erlaubt alles. Wirklich alles. Punkt." (ebd. S. 150) Für die auktoriale Erzählsituaton gilt damit, dass es innerhalb dieser möglich ist, aus einer Außenperspektive heraus alles zu erzählen und darzustellen. Dieses "alles" umfasst sowohl das Außen- und Innenleben der Figuren, zudem ermöglicht kann der auktoriale Erzähler in der zeitlichen Ordnung vorgreifen, zeitgleich erzählen oder in die Vergangenheit zurückblicken (vgl. ebd. S. 150). Gleichzeitig bedeutet dieses Vermögen nicht, dass der auktoriale Erzähler all sein Wissen und seine erzählerischen Möglichkeiten immer und allzeit preisgeben oder nutzen muss, vielmehr gilt an dieser Stelle: "Der auktoriale Erzähler muss etwas verschweigen können dürfen – das ist nicht nur eine Spielregel, sondern gerade eine Grundvoraussetzung solcher Erzähltexte." (ebd. S. 168)
So kann der auktoriale Erzähler in Peter Brocks Ich bin die Nele beispielsweise den inneren Monolog von Vera Zacharias wiedergeben:
Kann sein, daß [sic] ich mir das mit der Hilfe nicht richtig überlegt hab. Doch so weit kann es nicht gehn, daß [sic] ich mich dafür auch noch entschuldige. (Brock 1975, S. 223)
Er kann zudem dem Lesenden Neles Traumgedanken mitteilen: "Wen wundert es da, daß [sic] sich in Neles Traum die junge Stadt Starenau, von der Vater schon soviel erzählt hatte […]" (ebd. S. 11).
Gleichzeitig kann er sich beim Gespräch der Möbelfahrer aber auf die Außensicht beschränken (vgl. ebd. S. 10).
Das Schweigen des auktorialen Erzählers ist damit ein klares Indiz seiner Allmächtigkeit. Er entscheidet, was der Lesende erfährt, er selektiert, wählt aus, rafft zusammen, dehnt und kommentiert. Eine auktoriale Erzählsituation ist somit immer geprägt durch deutlich wahrnehmbare Spuren einer erzählerischen Vermittlungsinstanz (vgl. Vogt 2006, S. 59). So reflektiert die erzählende Stimme in Ich bin die Nele das Geschehen für den Lesenden und fasst Szenen abschließend zusammen: "Seit diesem Abend trug sie sich also mit Heiratsabsichten, die Nele." (Brock 1975, S. 122). Sie kommentiert: "Paul hockte (oder konnte man sagen, er saß?) zwischen dem Fahrer Windling und dessen Beifahrer Bollniak im Möbelwagen." (ebd. S. 10) Und sie zeigt durch Andeutungen an die Zukunft, dass sie sowohl Nele, als auch der Geschichte und dem Lesenden gegenüber durch ein besonders Wissen privilegiert ist: "Aber ganz so leicht war nicht jedes Spiel zu gewinnen. Das würde Nele, die Gutwettermacherin, schon noch erfahren." (ebd. S. 142)
Auch wenn über diese Kommentare und Eingriffe die erzählende Stimme deutlich markiert auftritt, bedeutet dies laut Jochen Vogt nicht, dass der auktoriale Erzähler personifiziert wird:
[…] als Person sichtbar, innerhalb oder auch außerhalb der erzählten Geschichte, wird dieser Erzähler nie. Wir hören stets nur seine Stimme […]. (Vogt 2006, S. 59)
Für Christoph Bode scheint dieses Urteil nicht ganz so eindeutig auszufallen, so fügt er an:
Das gibt es häufiger: einen auktorialen, der einerseits durch die Art und Weise seines Erzählens, seine Wortwahl, seine Kommentierung usw. als Person, als Mensch mit angebbaren Konturen und Zügen vorstellbar ist und der doch andererseits nichts oder kaum etwas von seinen auktorialen Privilegien aufgegeben hat: ein zur Person ausstaffierter auktorialer Erzähler, eine 'Ganz-Mensch'-Inkarnation einer übermenschlichen Idee eigentlich ein Unding. (Bode 2011, S. 175)
Und auch Martínez und Scheffel sind in ihrer Beschreibung des Stanzelschen Modells zumindest in der Wortwahl nicht eindeutig oder tendieren eher zugunsten einer personifizierten Erzählinstanz. So betonen sie die "die Anwesenheit einer Erzählfigur" (Martínez und Scheffel 2012, S. 96).
Eine endgültige Entscheidung für oder gegen einen personifizierten auktorialen Erzähler zu treffen – so unlogisch eine solche auf den ersten Blick auch zu sein scheint – ist nicht Ziel dieses Eintrags. Zu beachten ist jedoch der Nachsatz, den Martínez und Scheffel einfügen. So vermerken sie in Rückbezug auf Stanzel als zentrales Kriterium "die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren." (ebd.) Dies verweist darauf, dass der auktoriale Erzähler nicht zur erzählten Welt der Figuren gehören darf, sondern eher an der Schwelle zwischen erzählter fiktiver Welt und der Welt der Autoren und Autorinnen steht. Wenn Martínez und Scheffel etwas verwirrend dennoch von Erzählerfigur sprechen, spricht dies eher dafür, dass es sich um eine Figur handelt, die ebenso wie die anderen Figuren fiktiv und erdacht ist, aber dennoch von der Welt der intradiegetischen Figuren abgegrenzt ist. Allerdings wird selbst diese definitorische Grenzziehung nicht immer eingehalten. So gibt sich der auktoriale Erzähler in der Binnenhandlung von Emil und die Detektive klar über Erzählerkommentare und apostrophische Hinwendungen an den Lesenden zu erkennen:
Könnt ihr es begreifen und werdet ihr nicht lachen, wenn ich euch jetzt erzähle, daß [sic] Emil ein Musterknabe war? Seht, er hatte seine Mutter sehr lieb. Und er hätte sich zu Tode geschämt, wenn er faul gewesen wäre, während sie arbeitete, rechnete und wieder arbeitete. (Kästner 1991, S. 34)
Gleichzeitig inszeniert sich dieser Erzähler jedoch über die vorgeschobene und metaleptische Rahmenhandlung fiktiv als Autor: "Euch kann ich's ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet. Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen." (ebd. S. 5) Zudem taucht ein Namensvetter des Autoren und als Autoren inszenierten Erzählers in der Binnengeschichte und damit in der intradiegetischen Welt der Figuren auf (vgl. ebd. S. 140). Diese Brüche zeigen nicht nur, wie unterschiedlich inszeniert auktoriale Erzählinstanzen auftreten können, sondern vielmehr auch, dass eine auktoriale Instanz sich nicht hinter einen grammatischen Geschlecht verbergen muss, sondern durchaus 'Ich' sagen kann und darf (vgl. Bode 2011, S. 149). Ihr dieses Recht zuzugestehen, scheint im Hinblick auf die bereits zitierte Allmacht folgerichtig (ebd. S. 150). So offenbart sich der auktoriale Erzähler in Ich bin die Nele in seinem Kommentar, dass er nun die – allerdings wahre (vgl. Brock 1975, S. 5) – Geschichte von Nele erzählen will, nicht nur als ein 'Ich', sondern auch als ein 'Ich', welches durchaus Platz benötigt:
Mach mal 'ne Lücke, Moritz, daß [sic] ich näher rücken kann. Danke, so geht's. Jetzt brauch ich bloß noch anzufangen mit meiner Geschichte von der Nele. […] Hm. So geht's also nicht. Dann soll erst mal die Nele selber zu Wort kommen. Und zwar in einem Hausaufsatz. (Brock 1975, S. 5)
Die Ich-Erzählsituation ist gekennzeichnet durch eine erzählende Figur, die selbst Teil der erzählten Welt ist und somit erzählt, was sie selbst erlebt, erfahren, gehört oder beobachtet hat.
Als wesentliches und primäres Unterscheidungskriterium zu anderen Erzählsituationen dient im Fall der Ich-Erzählsituation die Tatsache, dass die erzählende Instanz, die im Fall der Ich-Erzählsituation eine tatsächliche Figur ist, Teil der erzählten Welt ist und die Seinsbereiche von Erzähler und Figuren demzufolge identisch sind (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 96). Es ist nicht jedoch nicht allein die Verwendung des 'Ich', die diese Identität markiert. Zwar hält Bode diese Verwendung zunächst als deutliches Signal fest (vgl. Bode 2011, S. 148), allerdings führt er in Bezug auf den auktorialen Erzähler an, dass auch dieser sich als 'Ich' bezeichnen kann (vgl. ebd. S. 149). Als tatsächlich kennzeichnendes Kriterium dient eher die Tatsache, dass der fiktive Erzähler, das 'Ich', "als leibhaftige (wenn auch nur in eigenen Äußerungen fassbare) und zumeist im Titel oder Text namentlich ausgewiesene Person auf[tritt]" (Vogt 2006, S. 68).
Eine solche Figur liegt bspw. – und im Titel klar benannt – in den Geschichten um Alfons Zitterbacke vor, in denen Alfons Zitterbacke selbst als Ich-Erzähler agiert. Alfons erzählt somit als Erzähler und als Hauptfigur seine eigenen Erlebnisse und Geschehnisse. Er ist somit quasi doppelt vorhanden, indem er zum einen als erzählendes und auch als erlebendes Ich auftritt (vgl. Bode 2011, S. 153). So er erzählt in Retrospektive von seinen Erlebnissen mit Schlange und dem Streuselkuchen, schief gelaufenen Aprilscherzen und dem Ärger mit seinem Namen (vgl. Holtz-Baumert 1958, S. 8). Zwischen Erzählen und Erleben liegt demzufolge eine deutliche zeitliche und damit verbundene emotionale Distanz (vgl. Bode 2011, S. 153). Dieses Spiel mit erlebendem und erzählendem Ich wird in Alfons Zitterbackes Fall noch gesteigert, indem nicht einfach ein doppeltes Ich auftritt, sondern nahezu ein dreifaches, welches zur Etablierung der Autorenfiktion – dass es nämlich Alfons selbst ist, der seine Geschichten aufgeschrieben hat – beiträgt. Eingeführt wird diese Fiktion über eine Rahmengeschichte, in der Alfons Zitterbacke als Autor etabliert wird und sich apostrophisch an den kindlichen Lesenden wendet:
Guten Tag! Ich heiße Alfons Zitterbacke und bin so alt wie ihr. Und nun werdet ihr fragen, wie ich dazu gekommen bin, ein Buch zu schreiben; dabei sind meine Aufsätze gar nicht so gut. Aber das kam so: Eines Tages ging ich zum Kinderbuchverlag. (Holtz-Baumert 1958, S. 5)
Schon in dieser Fiktion und Rahmengeschichte spaltet sich Alfons in ein erzählendes und ein erlebendes Ich auf – er erzählt, wie es dazu kam, dass er seine eigenen Geschichten aufschreibt und gleichzeitig erzählt auch sein erlebendes Ich wiederum – jedoch stark gerafft und zusammengefasst:
"Gut", sagte ich; ich kam mir richtig vor wie Robinson in seiner Höhle. Und nun erzählte ich was. Zuerst die Abenteuer mit meinem Wellensittich und wie ich immer wegen meinem Namen Ärger habe. (ebd. S. 8)
Es sind die an dieser Stelle gerafften Geschichten, welche die einzelnen Kapitel ausmachen, die Alfons Zitterbackes erlebendes Ich schließlich im Kinderbuchverlag aufschreibt: "So, nun sitze ich hier im Kinderbuchverlag und schreibe vor Langeweile alles, was ich eben erzählt habe." (ebd. S. 9) Die einzelnen Kapitel werden somit als Binnengeschichten – auch typographisch – markiert. In diesen wiederum findet erneut eine Aufspaltung in erlebendes und erzählendes Ich statt. So etabliert sich das erzählende Ich zu Beginn von Was ich mit Makkaroni und Tomaten erlebte über das Spiel mit Vorausdeutungen und Kommentaren:
Ich werde in Leben wohl nie wieder Makkaroni mit Tomaten essen. Wenn ich an Makkaroni und Tomaten denke, denke ich an eine schlimme Sache. Das war so. Wir machten mit der Pioniergruppe eine Wochenendfahrt. (Holtz-Baumert 1962, S. 35)
Im Anschluss daran wird zu den Geschehnissen übergeleitet, in denen das erlebende Ich deutlich präsent ist:
Wir rannten zur Tür hinaus. Ich weiß nicht, wer es war, aber irgendeiner hatte eine Tomate herausgefischt und warf sie nach uns. Sie flog Bruno genau in den Hals. Das schadete ihm gar nichts […] Von Makkaroni und Tomaten will ich nie wieder etwas hören. Und mein Magen knurrt, daß [sic] es sich anhört, als hätte ich einen Löwen im Bauch. (ebd. S. 43)
Gerade der Gebrauch des Präsens, der an dieser Stelle das erlebende Ich hervorhebt, markiert darüber auch Unmittelbarkeit und Authentizität, die für die Ich-Erzählsituation von Bedeutung ist (vgl. Vogt 2006, S. 69). Dieser Anspruch auf Authentizität ist für Bode einer der Gründe, warum das erzählende Ich nicht alle Informationen, die es selbst besitzt und gegenüber dem erlebenden Ich voraushat, sofort preisgibt:
So würde das massive Einbringen des Mehr-Wissens des erzählenden Ich dem Authentizitätsanspruch der Ich-Erzählung diametral entgegenstehen, also nicht einfach nur stören, im Sinne einer dauernden Einmischung, sondern genau das zerstören, was doch die Situation des damals erlebenden Ich gerade ausmachte: nämlich dieses alles nicht zu wissen, noch nicht gewusst haben können. (Bode 2011, S. 154)
Allerdings ist es auch diese Unmittelbarkeit und Authentizität, die zum einen bedeutet, dass es die Ich-Erzählsituation ermöglicht, die Innenperspektive der Erzählerfigur (scheinbar) unmittelbar wiederzugeben (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 96). Zum anderen geht damit jedoch auch eine Reduzierung auf eben diese Perspektive einher (vgl. ebd.). Über Empfindungen oder die Innenperspektive von anderen Figuren, auf welche der auktoriale Erzähler Zugriff hat, kann die erzählende Figur im Fall der Ich-Erzählsituation nur spekulieren (vgl. Vogt 2006, S. 69). So glaubt Alfons Zitterbacke als erlebendes Ich, dass sein Freund Bruno ihn die Nacht zuvor hereingelegt hat und interpretiert sein Verhalten am nächsten Morgen diesbezüglich: "Am nächsten Morgen traf mich Bruno an der Ecke. 'Morgen', sagte er scheinheilig, 'toller Tag heute.' Ich schwieg und verachtete ihn." (Holtz-Baumert 1962, S. 123)
Eine Steigerung der genannten Unmittelbarkeit, die durch eine verringerte Distanz zwischen Erleben und Erzählen hervorgerufen wird, findet sich im Brief- und Tagebuchroman, der eine Sonderform der Ich-Erzählsituation darstellt (vgl. Bode 2011, S. 158). Allerdings weist Bode zumindest ersterem keinen großen Stellenwert mehr zu:
Doch je weniger in der Realität ausführliche Briefe geschrieben werden, desto unrealistischer wirken Briefromane natürlich – eine aussterbende Art. Vielleicht könnten e-Mail-Romane einmal an ihre Stelle treten – ein reizvoller Gedanke. (ebd. S. 156)
Bode ist mit diesem reizvollen Gedanken nicht allein: In zahlreichen zeitgenössischen kinder- und jugendliterarischen Romanen tauchen einmontierte E-Mails auf. So zum Beispiel in Marie-Aude Murails Blutsverdacht:
Sehr rasch tippte er: Vor ein paar Jahren habe ich erfahren, dass du die Zwillingsschwester von Eve-Marie geheiratet hast, die am Ende der Reihe steht. Habt ihr Kinder? Bist du Arzt geworden, wie du es wolltest, oder Pfarrer wie dein Vater :-)? Und er unterschrieb: Guy Dampierre. (Murail 2014, S. 25)
Auch Peter Härtling weist seine Erzählung Hallo Opa – Liebe Mirjam schon im Untertitel dezidiert als einen E-Mail-Roman aus: Eine Geschichte in E-Mails.
Während der Briefroman zudem für Bode durch die Möglichkeit der geschriebenen Lüge oder Täuschung immer auch auf sich selbst und seinen eigenen fingierten oder fiktiven Zustand referiere (vgl. Bode 2011, S. 158), weist er dem Tagebuchroman diese Möglichkeit nicht zu, denn "bewusst belügt sich selbst wohl niemand (unbewusst schon häufiger), die Lüge ist immer adressatengerichtet." (ebd.)
Mit Tom Riddles Tagebuch wird dieser Impetus auf die Wahrhaftigkeit des (eigenen) Tagebuchs scheinbar zunächst ad absurdum geführt, denn immerhin konfrontiert ihn Harry Potter in Harry Potter und die Kammer des Schreckens mit den Lügen, die Riddles Tagebuch in Bezug auf die erste Öffnung der titelgebenden Kammer des Schreckens enthält:
"Hagrid ist mein Freund", sagte Harry, und seine Stimme zitterte jetzt. "Und du hast ihn reingelegt oder? Ich dachte, du hättest einen Fehler gemacht, aber […]" (Rowling 1999, S. 323).
Die Ursache dahinter zeigt aber, dass nicht etwa Bodes Argumentation ausgehebelt wird, sondern vielmehr unterstützt wird. Der Grund für die Lüge im Tagebuch ist nämlich, dass es mit einem – wenn auch nicht bewusst gewählten – Adressaten im Kopf geschrieben wurde:
"Ich wusste, es würde zu gefährlich sein, die Kammer noch einmal zu öffnen, während ich in der Schule war. Aber all die langen Jahre sollten nicht umsonst gewesen sein. Ich beschloss, ein Tagebuch zu hinterlassen und mein sechzehn Jahre altes Selbst in den Seiten aufzubewahren, so dass ich mit ein wenig Glück eines Tages jemand anderen auf meine Spur bringen konnte, um Salazar Slytherins edles Werk zu vollenden." (ebd. S. 324)
Magisch aufgeladen findet sich anhand Riddles Tagebuch auch der Beleg für Bodes etwas überbordend formulierte Tagebuchfunktion wieder: "Das (inkorporierte) Tagebuch fungiert häufig als letztes Residuum eines Ich, das unter dem Druck der Außenwelt zu zerbrechen droht, als letzter Ort der Selbst-Verständigung, der Bewahrung von Identität und Individualität." (Bode 2011, S. 159)
Tatsächlich nutzt Tom Riddle sein Tagebuch nicht nur als Gebrauchsanweisung für die Kammer des Schreckens, sondern funktionalisiert es auch in einen Horkrux um, der ihm das Überleben seiner Seele sichern soll:
Nun es hat funktioniert, wie ein Horkrux funktionieren soll – mit anderen Worten, das Bruchstück der Seele, das in seinem Inneren verborgen war, wurde sicher aufbewahrt und erfüllte zweifellos seine Aufgabe, den Tod seines Besitzers zu verhindern. (Rowling 2005, S. 452)
Etwas weniger existentiell ist der Wunsch, sich selbst zu bewahren, auch in Ricos wiederaufgenommenen Tagebuchschreiben in Andreas Steinhöffels Rico, Oskar und der Diebstahlstein nachlesbar:
Aber seitdem musste ich nichts mehr aufschreiben. Bis heute ist nämlich alles gut gelaufen. […]
Also, alles bestens.
Bis auf heute.
Bis auf das Gelb.
Deshalb fange ich vorsichtshalber jetzt einfach mal dieses neue Tagebuch an. (Steinhöffel 2011, Pos. 243-268)
Die personale Erzählsituation ist gekennzeichnet durch eine Erzählinstanz, die sich nicht durch Kommentare an den Lesenden wendet und bei diesem den Eindruck entstehen lässt, dass er sich selbst innerhalb der erzählten Welt befände oder diese über eine Figur betrachte, die jedoch nicht selbst erzählt (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 94).
Die Figur, in der sich der Lesende bei einer personalen Erzählsituation scheinbar befindet, ist jedoch selbst kein Erzähler,
noch wird, so jedenfalls Stanzel, das, was sie denkt, fühlt, wahrnimmt, von einem anderen erzählt – sie ist vielmehr eine Reflektorfigur, in deren Bewusstsein wir die Welt gespiegelt sehen, zu der wir aber doch nie direkten Zugang haben […] (Bode 2011, S. 151)
Für die personale Erzählsituation kann also – auch in Abgrenzung zu den anderen beiden Erzählsituationen – festgehalten werden, dass es sich bei dieser weder um einen irgendwie in figuralen Termini fassbaren Erzähler handelt, noch dass die Seinsbereiche von Erzähler und Figuren identisch sind (Martínez und Scheffel 2012, S. 96). Grammatikalisch ist die personale Erzählsituation dabei an ein 'Er' oder 'Sie' in Abhängigkeit zum Geschlecht der Reflektorfigur gebunden.
Wiedergegeben wird im Rahmen einer personalen Erzählsituation primär äußeres Geschehen, was ebenfalls nicht zur Etablierung eines fiktiven Erzählers beiträgt (vgl. Vogt 2006, S. 51). Die Einschränkung auf die Außensicht auf andere Personen öffnet laut Vogt
die innere Wahrnehmung der Perspektivfigur für Gedanken, Gefühle, besonders Erinnerungen. Deshalb überwiegt häufig die innere Handlung gegenüber der äußeren Realität, die ihrerseits nur durch die subjektive Wahrnehmung der Perspektivfigur vermittelt wird. (ebd. S. 55)
(Der Begriff 'Perspektivfigur' kann in diesem Fall synonym mit 'Reflektorfigur' verstanden werden.)
In Janne Tellers Lollipops liegt ein solches personales Erzählen vor. Der Lesende erfährt primär, was sich im Kopf des Jungen abspielt, ohne dass dieser sich der Gedanken zwangsläufig selbst bewusst sein muss oder versteht, was um ihn herum passiert:
Später, nachdem viele Menschen mit verschiedenen Gesichtern auf ihn eingeredet hatten, mit verschiedenen Stimmen und in verschiedenen Räumen, nachdem seine Mutter geweint hatte und wieder sehr länge erkältet gewesen war, bis sie nicht so oft zu Besuch kam, nachdem er mehrere Tage nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte, außer wenn zwei Männer ihn festhielten, um ihn umzuziehen oder mit ihm zur Toilette zu gehen, nachdem er viele verschiedene Tabletten in vielen verschiedenen Farben und Formen geschluckt hatte, saß der Junge wieder still auf einem Stuhl und schaute hinaus. (Teller 2013, S. 124)
Auch wenn über die personale Erzählsituation die Innenansicht des Jungen geschildert werden kann, bleibt ihm und den Lesenden die Innensicht des kleinen Mädchens versperrt, über ihre Gedanken kann nur gemutmaßt werden:
Das kleine Mädchen saß auf der Bank und sah aus, als ob ihr langweilig wäre, aber als sie den Jungen und die Lollis sah, sprang sie jubelnd auf. (ebd. S. 123)
Um auch in der personalen Erzählsituation die Innensicht verschiedener Figuren abbilden zu können und das Erzählen weniger monoton zu gestalten, lässt sich über die personale Multiperspektive der Blickwinkel zwischen verschiedenen Figuren wechseln (vgl. Vogt 2006, S. 56).
So springt in Rainbow Rowells Eleanor & Park der Blickwinkel permanent zwischen Eleanor und Park und der Lesende kann die unterschiedlichen Geschehnisse aus Sicht der beiden Figuren scheinbar unmittelbar miterleben:
Park
Sie las seine Comics mit. Am Anfang, dachte Park, er bilde sich das nur ein. Irgendwie hatte er ständig das Gefühl, dass sie ihn beobachtete, aber wenn er sie anschaute, hielt sie den Kopf gesenkt. (Rowell 2015, S. 40)
Eleanors Innensicht hört sich auf dieselbe Situation etwas anders an:
Eleanor
Dieser blöde kleine Asiate wusste genau, dass sie seine Comics mitlas. Manchmal schaute er sie sogar an bevor er die Seite umblätterte, als wäre er furchtbar höflich. (ebd. S. 45)
Bibliografie
Primärliteratur
- Brock, Peter: Ich bin die Nele. Berlin: Der Kinderbuchverlag, 1975.
- Härtling, Peter: Hallo Opa – Liebe Mirjam. Eine Geschichte in E-Mails. Weinheim/Basel: Beltz, 2013.
- Holtz-Baumert, Gerhard: Alfons Zitterbacke. Geschichten eines Pechvogels. Berlin: Der Kinderbuchverlag, 1958.
- Holtz-Baumert, Gerhard: Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger. Berlin: Der Kinderbuchverlag, 1962.
- Kästner, Erich: Emil und die Detektive. Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 1991.
- Murail, Marie-Aude: Blutsverdacht. Frankfurt am Main: Fischer, 2014.
- Rowell, Rainbow: Eleanor und Park. München: Hanser Verlag, 2015.
- Rowling, J. K.: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Hamburg: Carlsen, 1999.
- Rowling, J. K.: Harry Potter und der Halblutprinz. Hamburg: Carlsen, 2005.
- Steinhöffel, Andreas: Rico, Oskar und das Herzgebreche. Hamburg: Carlsen, 2011.
- Teller, Janne: Lollipops. In: Dies.: Alles worum es geht. München: Hanser Verlag, 2013.
Sekundärliteratur
- Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage. Tübingen; Basel: Francke, 2011.
- Genette, Gérard: Die Erzählung. 3 durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2010.
- Martínez, Matías und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und aktualisierte Auflage. München: Beck, 2012.
- Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 9. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, 2006.