Inhalt

Ein Band mit umfangreichen Informationen über Astrid Lindgrens weltberühmte Roman-Trilogie: Sowohl die Umstände der Entstehung, Übersetzung, Verfilmung und Vertonung werden hier referiert und dokumentiert als auch die internationale Verbreitung, die wissenschaftliche Kommentierung und die populärkulturelle Rezeption. Hinzu kommen sehr persönliche Eindrücke und Erinnerungen von Menschen, die mit Pippi Langstrumpf und ihrer Autorin Astrid Lindgren zu tun hatten.

Kritik

Das vielleicht Erstaunlichste an Pippi ist ihre Dynamik. Sie geht nicht, sie wirbelt, sie hüpft nicht, sie stürzt sich – und zwar gerne von Hausdächern, sie reitet nicht, sie galoppiert durch die Straßen der kleinen Stadt, dass sich die Bewohner ängstlich gegen die Hauswände drücken. Pippi ist ein Energiebündel und Bewegungswunder, sie beansprucht Raum und Aktion. Stillstand scheint es in ihrer Welt nicht zu geben. Ihr entfesselter Bewegungsdrang ist zweifellos als Angriff auf die zeitgenössische Kinderliteratur zu lesen, in der Kinder – und vor allem Mädchen – möglichst gesittet im häuslichen Umfeld spielen. Stürmische Ausritte, Klettertouren über Hausdächer und Stierkämpfe sind für Kinder in gebügelten Kleidchen undenkbar. (S. 51)

Die Diagnose von Angelika Nix bringt auf den Punkt, was Pippi Langstrumpf – sei es der Roman, sei es die Figur – ausmacht: Tempo, Andersartigkeit und permanente Angriffe auf die Konventionen. Welche Wirkung ein so klares Rezept hat, zeigt der Band, den der Oetinger Verlag zu Pippis 75. Geburtstag herausgegeben hat, in immer neuen Variationen. Dabei wird die unglaubliche Verbreitung ebenso illustriert wie die zumindest zu Beginn durchaus nicht selbstverständliche Erfolgsgeschichte – deutlich wird dabei auch die Provokation, die von Astrid Lindgrens Roman-Trilogie ausgeht.

Natürlich berichtet zunächst Lindgrens Tochter Karin Nyman, wie sie krank war und ihre Mutter bat: "Erzähl mir von Pippi Langstrumpf" (S. 13). Unter den abgedruckten Dokumenten ist aber auch der faksimilierte Brief an den Verlag Bonniers, den Astrid Lindgren dem Manuskript beilegt und in dem sie höflich bittet, "nicht das Jugendamt [zu] alarmieren" (S. 20). Daneben erzählt Der Räuber Assar Bubbla eine Entstehungsgeschichte der ganz anderen Art.

Dass die Veröffentlichung 1945 in Schweden und 1949 in Deutschland positive, aber durchaus auch verständnislose und negative Reaktionen ausgelöst hat, zeigt ein Blick in die Rezensionen. Das Berner Tageblatt beispielsweise befindet 1949 angesichts der deutschen Übersetzung, dass es "Jugendschriften" gibt, die "der Kinderseele besser zu entsprechen [scheinen] als ein an Herzlosigkeit grenzender, mehr grober als humorvoller Radikalismus, auch wenn dieser offenbar vielerorts Mode ist" (S. 94). In der FAZ hingegen heißt es 1950 geradezu prophetisch:

Da müssen die Schweden daherkommen und uns zeigen, wie man das köstlichste Kinderbuch der Welt macht! Sie haben uns mit dieser Pippi Langstrumpf die echteste, hinreißendste, fröhlichste Gestalt geschenkt, die wir in der Kinderliteratur kennen. Wir sagen Pippi Langstrumpf Unsterblichkeit und Weltruhm voraus. (S. 95)

Herrlich ist aber auch zu lesen, wie Friedrich Oetinger von seinem ersten Treffen mit Astrid Lindgren erzählt, während die Autorin später berichtet, er habe nicht wie ein erfolgreicher Verleger gewirkt: "Er war in der Tat recht dürftig gekleidet, aber während dieser ersten Nachkriegsjahre war es wohl in Deutschland nicht so leicht, elegant gekleidet zu sein" (S. 86). Darüber hinaus kommt die Tochter der Oetingers, Silke Weitendorf, zu Wort, die erste Leserin der deutschen Pippi Langstrumpf, die im Interview auf die Frage, ob man es ihr zu verdanken habe, dass das Buch im Verlag der Eltern erscheinen durfte, bescheiden antwortet:

Nein. Mein Vater Friedrich Oetinger war fest entschlossen, Pippi Langstrumpf in Deutschland zu verlegen […]. Meine kindliche Begeisterung hat ihn gefreut. Aber umstimmen hätte er sich von nichts und niemandem lassen (S. 97).

Per Svensson arbeitet die Verweise auf Superhelden-Comics heraus, aber ebenso kritische Anspielungen auf Hitler. Schließlich ist Pippi Langstrumpf in der Zeit des Zweiten Weltkriegs entstanden und "sowohl der starke Adolf als auch der laute, rüpelhafte Zirkusdirektor" (S. 31) tragen Hitlers Züge. In dem Beitrag Es begann mit einer Gute-Nacht-Geschichte referiert Lena Törnquist überdies die Angriffe des Pädagogen John Landquist, der 1946 bei Pippi "krankhafte Zwangsvorstellungen" (S. 17) diagnostiziert hat, außerdem klingt die Debatte der letzten Jahre an, die aus einer rassismuskritischen Perspektive auf den "Negerkönig" blickt, als welcher Pippis Vater im Roman bezeichnet wird. In neueren Ausgaben wurde entweder die Bezeichnung "Südseekönig" gewählt oder die ursprüngliche Benennung in einer Fußnote erläutert.

Mittlerweile ist Pippi Langstrumpf in 77 Sprachen übersetzt worden, und der Band zeigt, welche Probleme in den unterschiedlichen Ländern auftraten und dass Pippi mal Fifi, mal Bibi oder Lina heißt, es wird berichtet, ob Kinder in Südafrika Pippi Langstrumpf lesen und wie die Kinderbuchfigur eine estnische Nationalheldin wurde. Caroline Roeder dagegen skizziert den langen Weg des Druckgenehmigungsverfahrens, das 1974 endlich zum Erscheinen von Pippi Langstrumpf in der DDR führte, natürlich nicht ohne Eingriffe in den Text. "Sozialistische Position ist das natürlich nicht – aber eine durchaus zu würdigende humanistische" (S. 111), so wird aus dem Gutachten des Schriftstellers Gerhard Holtz-Baumert, dem Autor des Alfons Zitterbacke, zitiert.

Neben den Romanen sind die filmischen Adaptionen maßgeblich für den Erfolg verantwortlich, darüber wird ausführlich in Wort und Bild informiert. Man erfährt, warum sich Astrid Lindgren für die erste Verfilmung aus dem Jahr 1949 geschämt hat, welche Schwierigkeiten es mit dem Affen in der Adaption mit Inger Nilsson gab, wie das Pferd täglich neu zu seinen Punkten kam und warum der norwegische Forschungsreisende Thor Heyerdahl eine Statistenrolle spielt. Auch die Rede, die Pippi-Darstellerin Inger Nilsson bei der Trauerfeier für Astrid Lindgren hielt, findet sich abgedruckt.

Sehr pointiert untersucht der Beitrag von Lena Lind Palicki die Sprache Pippis und geht dabei vor allem auf den Bruch mit Sprachnormen und Gesprächsregeln ein. Anhand der Konversationsmaximen von Paul Grice zeigt Palicki, wie Pippi auf rhetorische Fragen ehrlich antwortet oder das Gesagte wörtlich nimmt, erörtert aber auch, inwiefern Astrid Lindgren für eine Zäsur in der schwedischen Sprache (mit)verantwortlich ist. Natürlich muss direkt im Anschluss die Frage gestellt werden, was eigentlich ein "Spunk" ist.

Außerdem kommen Frauen und Männer zu Wort, die mit Pippi Langstrumpf in den unterschiedlichsten Berufen zu tun hatten: Eva Mattes erzählt von dem Erlebnis, als Kind die Pippi-Filme zu synchronisieren, und Heike Makatsch berichtet von der "große[n] Ehre" (S. 135), das Hörbuch sprechen zu dürfen. Björn Ulvaeus, später Teil der schwedischen Band ABBA, überreicht Lindgren knieend eine Rose, nachdem eine Zeitschrift ihm den Wunsch erfüllt hat, die vielleicht bekannteste Schwedin zu treffen, und Harry Rowohlt gesteht, was er von der Lindgren-Übersetzerin Anna-Liese Kornitzky gelernt hat.

In dem aufwendig illustrierten und bebilderten Band finden sich natürlich Kinderbriefe – sowohl an Pippi selbst als auch an den "Ötinger Ferlag" (S. 126) –, außerdem Pippi-Briefmarken, Pippi-Tattoos und Street-Art: "Sei Pippi nicht Annika" (S. 228). Dabei darf jene Illustration nicht fehlen, die 2019 in den sozialen Netzwerken verbreitet wird und Pippi Langstrumpf als Schatten – und mögliches Vorbild – Greta Thunbergs zeigt (S. 221).

Immer wieder wird Pippis Funktion als feministische Ikone betont: "Das stärkste Mädchen der Welt ist gefährlich für die Freunde der Ordnung, weil es bei jenen, die auf Macht und Disziplin pochen, Gefühllosigkeit und Brutalität aufdeckt. Ihre Rebellion beinhaltet die Bedrohung der patriarchalischen Ordnung" (S. 222), schreibt Vivi Edström und Kirsten Boie gibt zu, Lindgrens Heldin sei "das erste emanzipierte Mädchen in [ihrem] Leben" (S. 139) gewesen. Michelle Obama schließlich sagt in einem Interview: "Pippi Langstrumpf war mein Mädchen" (S. 205).

Fazit

Ein wunderbares Buch für all jene, die im Laufe ihres Lebens mit Pippi Langstrumpf zu tun hatten, egal ob als lesende Kinder oder vorlesende Eltern, als Lektorin oder Lehrer, als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler. "Für Jugendliche und Erwachsene", so lautet die Altersempfehlung des Verlags. Der Band darf am Stück gelesen werden, kann aber auch als Coffee Table Book immer wieder zum Blättern und Hineinschauen einladen. Und er ist ein eindrückliches Zeugnis jener Botschaft, die Astrid Lindgren Zeit ihres Lebens wichtig war:

Wenn ich jemals beabsichtigt hätte, die Figur der Pippi zu etwas anderem als der Unterhaltung meiner jungen Leser dienen zu lassen, so wäre es dieses: ihnen zu zeigen, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen. Denn von allen schweren Aufgaben des Lebens scheint mir das die allerschwerste zu sein. (S. 60)

Titel: Pippi Langstrumpf. Heldin, Ikone, Freundin
Autor/-in:
  • Name: Lindgren, Astrid
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-7891-1345-1
Seitenzahl: 224
Preis: 30,00 €
Lindgren, Astrid et al.: Pippi Langstrumpf. Heldin, Ikone, Freundin