Liebe Frau Sandjon, zunächst gratuliere ich Ihnen herzlich zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2023. Dass die Literaturkritik von Ihrem Versroman begeistert ist, hat die Auszeichnung gezeigt. Wie aber reagieren Jugendliche auf Ihr Buch? Was erleben Sie bei Lesungen?
Chantal-Fleur Sandjon: Vielen Dank für die Glückwünsche, für mich ist es noch immer unfassbar… Das Spannende bei Lesungen ist für mich immer wieder, wie die Verse wirken, wenn sie im Raum klingen. Oft erzählen mir Jugendliche danach, dass sie Poesie bei der Lesung ganz anders kennengelernt haben, als es sonst meist im Schulunterricht der Fall ist. Und dass sie jetzt Lust auf Lyrik haben – was für mich natürlich die größte Freude ist.
Erweist sich die Versromanästhetik bei jugendlichen Leserinnen und Lesern als Hürde?
Chantal-Fleur Sandjon: Der Einstieg wird oft als Herausforderung beschrieben, aber nicht nur von jugendlichen Lesenden. Ich denke, das ist, weil es meist eine neue Leseerfahrung ist und dieses ungewohnte Lesen erst einmal reibt. Aber viele berichten mir, dass sie nach einigen Seiten in der Geschichte drin sind und oft sogar den Vers "vergessen".
Der Roman wurde bereits in literaturdidaktischen Seminaren besprochen und Studierende haben Auszüge aus Die Sonne, so strahlend und Schwarz im Deutschunterricht behandelt. Als Literaturdidaktikerin halte ich Ihren Text als überaus geeignet für den Deutschunterricht. Freut es Sie, wenn Ihr Roman in der Schule gelesen wird? Welche Wünsche hätten Sie für den Literaturunterricht?
Chantal-Fleur Sandjon: Auf jeden Fall freut mich das. Gerade auch, weil das bedeutet, dass Schwarze Erfahrungen nicht immer nur mit Bezug auf Rassismus verhandelt werden. Meine Wunsch wäre auf jeden Fall, dass ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Positionierungen in der jeweiligen Klasse besteht und damit auch dafür, dass der Text unterschiedlich gelesen werden kann und sich ggf. mit eigenen Erfahrungen verbindet. Gerade beim Thema häusliche Gewalt sollte im Unterricht auch davon ausgegangen werden, dass es Betroffene unter den Schüler*innen geben kann, ohne dass es anderen bewusst ist. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass neben der Auseinandersetzung mit der Form und dem Inhalt auch Raum für das Fühlen gemacht wird. Wie fühlen sich Gedichte an, wenn sie einem auf der Seite begegnen, aber auch, wenn sie gesprochen im Raum stehen?
Die Schule ist kein schöner Ort für Nova. Warum haben Sie Schule in Ihrem Roman so negativ dargestellt?
Chantal-Fleur Sandjon: Novas Erfahrungen sind Erfahrungen, die viele Jugendliche of Color machen. Als ich den Afrozensus, die bisher größte Befragung Schwarzer Menschen in Deutschland, lektoriert habe, ist mir leider wieder aufgefallen, wie wenig sich seit meiner Schulzeit verändert hat. Für diese Erfahrungen wollte ich Platz in meiner Geschichte schaffen.
Wir haben im Seminar über die Wildblumenmetaphorik gesprochen. Haben Sie solche Bildhaftigkeit bewusst vorab überlegt oder erst beim Schreiben entwickelt?
Chantal-Fleur Sandjon: Vor dem Schreiben habe ich mir wenig überlegt, ich bin keine Plotterin oder große Planerin, zumindest bis jetzt. Ich hatte erste Bilder im Kopf, einige Namen und dann habe ich einfach begonnen. Das meiste kommt beim Schreiben, auch die Symbolsprache, die dann später die Geschichte prägt. Im Überarbeiten entwickle ich diese dann noch stärker und nutze sie bewusst für die Erzählung.
In Romanen, die Interkulturalität thematisieren und von (Post)-Migration erzählen, liegt oft ein Glossar vor, das fremde Begriffe für eine breite Leserschaft erklärt. Sie verzichten auf die Erklärung von Wörtern wie "Big Chop" oder "Matapa mit Xima". Warum haben Sie sich gegen Worterläuterungen entschieden?
Chantal-Fleur Sandjon: Ein Glossar suggeriert ein "Wir" und die "Anderen", sprich es baut auf der Annahme auf, dass bestimmte Begriffe erklärt werden müssen, während andere selbstverständlich sind. Damit würde ich auch Annahmen über die Lesenden vornehmen, die ich nicht vornehmen möchte. "Big Chop" ist zum Beispiel ein Begriff, der vielen Schwarzen Frauen* vertraut ist. "Kartoffelbrei" würde ich ja auch nicht in ein Glossar aufnehmen, obwohl auch diesen Begriff vielleicht nicht alle Menschen kennen, die das Buch lesen.
Hatten Sie beim Schreiben des Buches eine bestimmte Zielgruppe vor Augen?
Chantal-Fleur Sandjon: Als ich im ersten Lockdown 2020 mit meiner Arbeit am Roman begonnen habe, war meine Absicht, etwas "für mich" zu schreiben, sprich etwas, das mich beim Schreiben nährt und bei dem ich nicht gleich darüber nachdenke, wen es über mich hinaus anspricht oder berührt. Das war insbesondere wichtig, weil ein Gedanke an Zielgruppen bedeutet hätte, an den Markt zu denken. Und dann hätte ich den Weißen Blick in mein Schreiben hineinlassen müssen, das wollte ich nicht.
Afrodeutsche Hauptfiguren sind in der Kinder- und Jugendliteratur sehr unterrepräsentiert. Die Schwarze Kinderbibliothek in Bremen konnte keinen zweiten deutschsprachigen Jugendroman ausfindig machen, der Schwarzes Empowerment aufzeigt. War Ihnen dieses Desiderat bewusst?
Chantal-Fleur Sandjon: Nicht in diesem Ausmaß. Mir hat es geholfen, auf Versromane aus diasporischer Perspektive in den USA und Großbritannien bauen zu können, sonst hätte mich das Unterfangen auch zu sehr eingeschüchtert. So hatte ich nicht das Gefühl, ich sei die Erste oder müsse mit diesem einen Werk unzählige, unterrepräsentierte Schwarze Erfahrungen aufgreifen. Zugleich war es mir wichtig, die Geschichte fest in Deutschland zu verankern, davon zu erzählen, was es heißt, hierzulande Schwarz zu sein.
Arbeiten Sie aktuell an einem neuen Roman? Verraten Sie uns etwas darüber?
Chantal-Fleur Sandjon: Dieses Jahr habe ich City of Trees beendet, der Roman wurde im Mai bei Thienemann veröffentlicht und ist eine afrodiasporische, spirituelle Betrachtung von Veränderung – um uns herum und in uns selbst. Derzeit beginne ich langsam mit der Arbeit an einer neuen Idee. Sie ist aus einer Kurzgeschichte von mir hervorgegangen, die mich davon überzeugt hat, dass sie mehr ist als das. Ich darf dabei wieder neue Verse finden – und obendrein eine neue Sprache.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Abbildungsnachweis
Porträtfoto von Chantal-Fleur Sandjon: © privat