Inhalt
Vogel ist tot stellt die Geschichte einer Gruppe bunter und gänzlich unterschiedlicher Vögel dar, die einen der Ihren tot in der tristen graugrünen Landschaft auffinden. Die große Anzahl unterschiedlicher und kräftiger Farben und Muster der collagierten Vögel spiegelt die zahlreichen Emotionen und Reaktionen der Tierfiguren auf den Fund des Verstorbenen wider. Auf den Ausruf „Vogel ist tot“ zu Beginn des Buches folgen Rückfragen anderer Vögel, die nicht wahrhaben wollen, dass der Vogel, der „gestern noch gelebt“ hat, nun tot sei. Auf den ersten Seiten treten stetig weitere Vögel ins Bild, die schlicht, aber gefühlvoll ihre Gedanken kundtun. Die gräuliche und kaum ausgestaltete Landschaft unterstreicht dabei zum einen die Tristesse, die durch den Tod des Gefährten folgt, betont im Kontrast jedoch auch die farbenfrohen Vögel. Die intensiven Farben lenken den Fokus der Rezipient*innen auf die Vögel und deren Gefühle, die durch die künstlerische Gestaltung verbildlicht werden.
Wie verschieden diese Emotionen sind, verdeutlichen jedoch nicht nur die künstlerische Darstellung der tierischen Figuren, sondern auch die Gespräche, welche die Vögel führen. Diese sind kurzgehalten, direkt und bestehen teilweise nur aus ein oder zwei Wörtern. Die Unverblümtheit, in der sich über den Toten und den Tod ausgetauscht wird, wirkt auf ältere Leser*innen vereinzelt irritierend und komisch: „Auf dem Rücken + Füße in der Luft = tot“. Im Buch sind alle Gefühle und Meinungen erlaubt, auch die des Vogels, der den Verstorbenen „bescheuert“ fand. Es gibt Vögel, die weinen und Vögel, die streiten. Beidem wird Raum gegeben. Neben den Aussagen über ihre Empfindungen stellen die Vögel Fragen und handeln miteinander aus, wie sie verfahren wollen: Wie können sie sicher sein, dass der Vogel tot ist? Soll auf der Beerdigung gesungen werden? Darf auch fröhlich gezwitschert werden? Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet und lassen Raum für weitere Gedanken. Dabei tun die Vögel, was ihnen im Trauerfall jeweils hilft. Konventionen und Rituale für den Umgang mit einem Todesfall, wie alle menschlichen Kulturen sie pflegen, kennen sie nicht. Die fehlenden Antworten und die Leere, die entsteht, werden durch den leeren Hintergrund versinnbildlicht.
Kritik
Tod und Trauer werden heute in der westlich-christlichen Welt in der Regel als unangenehme Tabu-Themen behandelt, über die nur selten und mit gedämpfter Stimme gesprochen wird. Sterblichkeit gilt in der Leistungsgesellschaft als Makel, den niemand loswird und der nicht mit einer „Alles ist möglich“-Haltung vereinbar ist. Diese Tendenz veranschaulichen vermeintlich kindgerechte und religiös-verwurzelte Metaphern wie ‚Deine Oma ist jetzt im Himmel‘ oder ‚Sie ist in der letzten Nacht eingeschlafen‘. In den letzten Jahrzehnten hat der Tod jedoch den (Kinder-)Buchmarkt erobert und ist zu einem Thema geworden, das in einer sogenannten „Zeit der Verluste“ (Daniel Schreiber 2023) literarisch und gesellschaftlich auf Interesse stößt. Aktuelle kinder- und jugendliterarische Publikationen zum Thema inszenieren den Tod für Heranwachsende neu: Karen Köhlers Kinderroman Himmelwärts (2024) gestaltet die Antwortlosigkeit auf viele Fragen zum Sterben und dem, was ‚danach‘ passiert, das Bilderbuch Tschüss Uroma (2023) von Josephine Apraku und Anna Meidert, welches die Überführung und Beerdigung eines Leichnams erklärt, Katharina von der Gathens und Anke Kuhls Sachbilderbuch Radieschen von unten (2024), das Tabus aufbricht oder auch Céline Sciammas zielgruppenoffener Film Petite Maman (2021), der Trauer als Teil des Erwachsenwerdens normalisiert und in den Lauf des Lebens einbettet. Tiny Fisschers und Herma Starrevelds Vogel ist tot hebt sich jedoch durch die besondere künstlerische Gestaltung, den Fokus auf einen Austausch und eine Poesie, die durch ihre Einfachheit besticht, von anderen Veröffentlichungen ab.
Der Text besteht aus kurzen und nicht immer vollständigen Sätzen der Vögel. Diese können zirkulär, in Teilen jedoch auch durcheinander gelesen werden und überlassen den Lesenden das Legen eines Schwerpunkts auf eine Aussage über den Tod, seine Folgen und mögliche Umgangsweisen. Kleinere Lettern verdeutlichen dabei eine ruhig getätigte Aussage, größere hingegen laute Ausrufe. Durch die nicht zusammenhängenden und diversen Sichtweisen und Standpunkte bietet das Buch sich für ein (dialogisches) Vorlesegespräch über den Tod von und die Trauer um verstorbene Mitmenschen oder Haustiere an. Kinder können an eigene Erfahrungen anknüpfen und ihre eigenen Emotionen in den Empfindungen der bunten Vögel wiederfinden. Besonders für diesen Zweck sind die zahlreichen Ideen der Tiere ideal, da Kinder häufig zu unterschiedlichen Zeitpunkten ganz verschiedene Gefühle zu einem Trauerfall haben können: Mal überwiegt die Trauer, mal die Wut, mal spüren sie trotz des Ablebens einer Person nur Freude. Der ästhetisch reduzierteText bietet niedrigschwellige Gesprächsanlässe, ohne vorzuschreiben, welche Emotionen gesellschaftlich akzeptiert sind und lässt Berührungsängste mit der Thematik aus. Das Fehlen von Metaphern, die Kinder verwirren oder verängstigen könnten, unterstützt ein offenes Gespräch zwischen Vorleser*in und Zuhörer*in über das Sterben. Bei der Beerdigung des Vogels wird deutlich, dass eigene Meinungen zu Trauerritualen gestattet sind: „[…] Vogel war immer fröhlich. Ich bin sicher, er würde gern tralala auf seiner Beerdigung hören“. Dass alle Emotionen, welche die Vögel und Kinder in einem Trauerfall durchleben können, eine Daseinsberechtigung haben, unterstreichen die intensiven Farben, die im Bilderbuch einen Eigenwert aufweisen und es ästhetisch spannend machen. Sie bilden einen Kontrast zur üblichen gesellschaftlichen Verhandlung verstorbener Menschen, die möglichst leise, unauffällig und privat stattfindet.
Eine Besonderheit von Vogel ist tot ist des Weiteren die fehlende Spezifik der Erzählung. Richten sich andere Kinderbücher, die das Sterben und den Tod enttabuisieren sowie normalisieren sollen, meist an Kinder aus bestimmten Kulturkreisen und sind in konkrete Kontexte gebettet, lässt Vogel ist tot alles offen. Es gibt keine Religion, keinen kulturellen oder geographischen Kontext, welche die Fragen und Antworten der tierischen Figuren beeinflussen oder vorherbestimmen. Für das hochgradig spirituelle Thema Tod ist es eine Seltenheit, keine übernatürlichen Zuschreibungen zu erfahren. Die Übertragbarkeit der Erzählung wird durch die Namenslosigkeit des Verstorbenen, der nur ‚Vogel‘ genannt wird, zusätzlich unterstrichen. Die weitgehend wertfreie Gestaltung des Bilderbuchs trägt zudem zu einem Austausch unter Kindern unterschiedlicher kultureller Hintergründe über das Thema bei, indem alle Positionen und Ansichten gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Eine der wenigen, bekannten Anschauungen, auf welche die Vögel sich einigen können, wird auf der letzten Seite des Buches festgehalten: „[…] er ist immer noch in unseren Herzen. Für immer und ewig“.
Fazit
Tiny Fisschers und Herma Starrevelds zurückhaltend-poetisches sowie ungewöhnlich und farbenfroh illustriertes Buch ist für jede Altersklasse eine Bereicherung. Es regt Kinder ab circa vier Jahren ebenso wie erwachsene Vorleser*innen zum Nachdenken über Tod, Trauer und die dazugehörenden Rituale an. Gleichzeitig vermag es, behutsam Gespräche zu initiieren, in denen ein niedrigschwelliger Austausch über die mit dem Tod verbunden Gefühle stattfinden kann.
Literatur
Apraku, Josephine; Meidert, Anna (2023): Tschüss Uroma. Kassel (bli bla blub UG).
Gathen, Katharina von; Kuhl, Anke (2024): Radieschen von unten. Leipzig (Klett).
Köhler, Karin (2024): Himmelwärts. München (Hanser).
Schreiber, Daniel (2023): Die Zeit der Verluste. Berlin (Hanser).
Sciamma, Céline (2021) Petite Maman. Frankreich (Pyramide Distribution).
- Name: Tiny Fisscher
- Name: Nicola T Stuart
- Name: Herma Starreveld
