Inhalt

Bei Mårbacka, Selma Lagerlöfs Geburtshaus, startete die Autorin die ausführliche Spurensuche: Mit der Geschichte des värmländischen Hofes beginnt die Familiengeschichte, in der die fließenden Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion vorgeführt werden, die Lagerlöf selbst in ihren autobiographischen Schriften Mårbacka (1922), Aus meinen Kindertagen (1930) und Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (1932) nicht so klar gezogen hat. Hier flicht Thoma hilfreich ein, welche Gegebenheiten Lagerlöf in Fiktion umwandelte und wie Lagerlöfs Leben und ihre literarischen Werke miteinander zusammenhängen. So ist die Großmutter aus der Weihnachtserzählung Die Heilige Nacht gleichzeitig Selmas eigene Großmutter, der sie mit dieser Erzählung ein Denkmal setzt.

Nimmt anfangs noch die Umwelt der kleinen Selma einen größeren Raum in Thomas Biografie ein, weichen diese Beschreibungen bald den ersten schriftstellerischen Auseinandersetzungen der angehenden Größe der Weltliteratur. So beschreibt Thoma, wie Selma sich durch ihr lebenslanges Hüftleiden und leichtes Hinken bereits früh in ihre Fantasiewelt zurückzieht, die von den Geschichten der Großmutter genährt wurde und sich bald in erster Lektüre und gegenseitigem Vorlesen in der Familie weiterentwickelte. Eines ihrer ersten Bücher ist ausschlaggebend für den Wunsch, Schriftstellerin zu werden: der Indianerroman Oceola von Thomas Mayne Reid. Mit diesem Wunsch gehen sofort praktische Versuche einher und hier beginnt Thoma ihre minutiöse Darlegung der Lagerlöfschen Niederschriften, die sie konsequent über die ganze Biografie einhält: Alles, was Lagerlöf je zu Papier gebracht hat, weckt Thomas Interesse und wird von ihr analysiert. Dies fängt mit Theaterstücken und Gelegenheitsgedichten an, führt zur der fieberhaften Begeisterung Lagerlöfs für Puppentheater, Balladen, Sonette und mündet schließlich im Interesse Lagerlöfs an Prosa.

Mit der Erarbeitung der Entstehungsgeschichten zu den Lagerlöfschen Meisterwerken gehen auch neue Erkenntnisse einher, die Thoma einbringen kann – beispielsweise während des Schaffungsprozesses von Gösta Berling: Nach der Entdeckung durch Eva Fryxell ist Selma Lagerlöf in der Lage, sich von ihrer Familie loszusagen und nach Stockholm zu gehen, um das Königliche Höhere Lehrerinnenseminar zu besuchen und als junge Lehrerin mit der Arbeit an ihrer Gösta Berling-Saga zu beginnen. Hier lässt Thoma ehemalige Schülerinnen der jungen Lagerlöf zu Wort kommen und löst den Mythos um eine Photographie aus dieser Zeit auf: Auf dieser ist Selma Lagerlöf mit kurzgeschorenem Haar zu sehen – eine Maßnahme, die zur Behandlung einer Erkrankung an typhus abdominalis nötig war, und nicht auf die frühe Emanzipation Lagerlöfs verweist.  

In dem Kapitel "Stilfragen" analysiert Thoma Lagerlöfs Erzählkunst, die in ihrer Lebendigkeit, Direktheit und Schlichtheit dazu verleitet, Lagerlöf zu einem "geschichtenerzählenden Großmuttchen" abzustempeln – dabei ist diese Erzählkunst endlosem Umschreiben der Manuskripte, "meisterlicher Kontrolle und harter Arbeit" (Thoma 2013, S. 104) zuzuschreiben. Weiterhin sind die von Lagerlöf selbst als Märchen betitelten Erzählungen "Repräsentanten der ursprünglichen volkstümlich-fantastischen Erwachsenenliteratur" (Thoma 2013, S. 115), jener Folklore, die noch nicht durch die Brüder Grimm für Kinder umgearbeitet wurde, um nicht zu sagen: zensiert wurde. Ihre Spätwerke sind als Dialogromane oder polyphone Romane zu werten: Der kommentierende Erzähler tritt zugunsten der Figuren zurück und überlässt ihnen in zahlreichen Dialogen das Wort und damit dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Thoma zeigt im Zuge der weiteren chronologischen Vorstellung der Werke Lagerlöfs ihre Entstehungsgeschichte und literarischen Einflüsse auf, analysiert diese literaturwissenschaftlich und bettet sie in die Literaturgeschichte ein, gleichzeitig wird die Lebenswelt Lagerlöfs in den historischen Kontext Schwedens eingebunden. Auch ihr früh einsetzender Einsatz für Frauenrechte an der Seite von Ellen Key wird ausführlich begleitet, sowie ihr Engagement während der beiden Weltkriege (auf Lagerlöfs Einwirken hin konnte Nelly Sachs in letzter Minute aus Deutschland fliehen). Zu guter Letzt erfahren wir von Selma Lagerlöfs Mitwirken an den ersten Filmadaptionen ihrer Werke: Aus der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Victor Sjöström entstanden fünf Filme (Das Märchen vom Moorhof 1917, Die Karin vom Ingmarshof 1920,  Die Ingmarssöhne 1919, Der Fuhrmann des Todes 1921 und Der Kaiser von Portugallien 1925).

Kritik

Mit Barbara Thomas Biografie hält das deutsche Publikum die zweite deutschsprachige Biografie zu Selma Lagerlöf in Händen – die erste stammt von Walter Berendsohn aus dem Jahr 1927. Thomas Biografie ist damit zwangsläufig eine umfassendere Studie, die insbesondere die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lagerlöfs Werken mit einbezieht, sich "nicht nur auf Briefe und Familiendokumente aus ihrem Nachlass stützt, sondern auch bislang unveröffentlichte Zeitzeugenaussagen auswertet" (Thoma 2013, S. 10). Diese Erkenntnis allein wird dem literarischen Porträt, das Thoma geschaffen hat, jedoch nicht gerecht: Barbara Thoma gelingt es, eine lebendige Selma Lagerlöf vor das innere Auge des Lesers zu zaubern und ihren literarischen Werdegang in einen dichten Literaturkontext zu stellen, der den Leser von den ersten Seiten an umrankt. Hier liegt keine trocken geschriebene Biografie vor, wie sie heute zuhauf erscheinen, sondern ein literarisches Werk, das den Meisterwerken Selma Lagerlöfs nur auf diese Weise gerecht werden kann. Die Biografie versteht sich außerdem als Versuch, die Rezeption der Lagerlöfschen Werke in Deutschland wieder aufleben zu lassen (war Selma Lagerlöf doch zu ihren Lebzeiten besonders vom deutschen Publikum hoch geschätzt), "findet sich doch der Romantiker in ihren Geschichten ebenso wieder wie der Sozialkritiker, der passive Beobachter des alltäglichen Lebens ebenso wie der analytische Leser, Jung und Alt, Mann wie Frau." (Thoma 2013, S. 8)

Thoma untersucht im Zuge ihrer Biografie die Einflüsse und Inspirationen, die Lagerlöf bei ihrem Schaffen beeinflusst haben, so z.B. die vermeintlichen Vorbilder des Gösta Berling, und verweist auf andere Schriftsteller, die zum besseren Verständnis von Lagerlöfs Werken beitragen. Damit liefert Thoma gleichzeitig einen literarischen Kontext zu Lagerlöf, der ihrem eigenen Bestreben nach einem ausgeloteten Verständnis von Lagerlöfs Werken entspricht. Lagerlöfs Stil sowie ihre Zugehörigkeit zu literarischen Strömungen werden eingehend untersucht und in Auseinandersetzung mit anderen Literaturwissenschaftlern diskutiert. Die tiefgründige Kenntnis der schwedischen Literaturgeschichte und durchgehende Positionierung der Werke Lagerlöfs in einem breiten historischen Kontext zeugen von dem enormen Forschungsaufwand.

Dies alles findet auf einer sehr anspruchsvollen und doch abwechslungsreichen sprachlichen Ebene statt, die die Lektüre der Biografie zu einem Vergnügen macht. Wie wunderbar unterhaltsam sich Thomas literarische Biografie liest, wird beispielsweise an ihrer schrittweisen Nachzeichnung der Entstehung des Gösta Berling deutlich: "Der Inhalt stand. Nun galt es, eine Form zu finden. Aber ach, die Suche gestaltete sich als arg zähes Unterfangen. Die Kavalierssaga als Romanzyklus? Warum nicht? Obwohl. Nein. Als Schauspiel? Gute Idee! Oder? Nein. Doch. Den Mitgliedern des Landskronaer Nähkränzchens, die als Testpublikum gespannt Göstas unsteter Metamorphose folgten, rauchten bald die Köpfe." (Thoma 2013, S. 73f) Schließlich hat Lagerlöf ihren Stil gefunden:

Vielleicht war es nur eine kleine schriftstellerische, spitzbübische Lockerungsübung, die sie eines Abends veranlasst, sich wenigstens ein paar Kapitel lang einer wunderlichen, rhythmischen Prosa hinzugeben. Mochte sie damit literaturhistorisch auch auf ein nahezu totes Pferd setzen – der Text bebte geradezu vor Lebendigkeit: Seufzende 'Achs' und leidenschaftliche 'Ohs', wohin man nur blickte, und die Ausrufezeichen standen auf dem Papier so dicht wie Bäume in Värmlands Wäldern! Und, ach!, wie war die Freude groß, als sie entdeckte, wie lebendig und zwanglos sich ihre Figuren in diesem überschäumenden Stil bewegen konnten, wie sie zum ersten Mal als vollblütige Charaktere auftraten, jagten, riefen, lachten und seufzten. (Thoma 2013, S. 79)

Ebenso spannend gestaltet sich beispielsweise die Entstehungsgeschichte von Jerusalem (angeregt durch einen Zeitungsartikel und Lagerlöfs anschließende Orientreise 1899) und Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1906), Selma Lagerlöfs einzigem Kinderbuch, das u.a. von Rudyard Kiplings Dschungelbüchern inspiriert wurde. In den kurz gehaltenen Kapiteln, die jeweils mit einem Zitat eingeleitet werden, wird das vorgegebene Thema nicht aus den Augen verloren und so findet sich der Leser auch sehr schnell in der Gliederung und den einzelnen Aspekten der Biografie zurecht.

Fazit

Barbara Thoma ist es gelungen, uns Selma Lagerlöf als Menschen und als Schriftstellerin nahe zu bringen und zusammen mit ihr das Schweden und den Literaturkontext ihrer Zeit. Dies alles in der Hoffnung, die Werke in Deutschland wieder zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Diskussion zu erheben. Gerade der fantastische Einschlag in den Werken Lagerlöfs müsste wieder für eine rege Wiederaufnahme beim heutigen Publikum sorgen. Diesem Ziel zuträglich ist diese sehr gut recherchierte und reflektierte Biografie allemal: Wenn man nach der Lektüre dieser Biografie kein Anhänger von Selma Lagerlöf wird, so doch ganz sicher von Barbara Thoma und ihrem literarischen, abwechslungsreichen Schreibstil.

Titel: Selma Lagerlöf. Von Wildgänsen und wilden Kavalieren
Autor/-in:
  • Name: Thoma, Barbara
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: Römerhof Verlag
ISBN-13: 978-3905894240
Seitenzahl: 352
Preis: 29,90 €
Thoma, Barbara: Selma Lagerlöf. Von Wildgänsen und wilden Kavalieren