Inhalt
Der Sammelband schließt an den viel beachteten und für die inklusive Literaturdidaktik durchaus als bahnbrechend zu betrachtenden von Daniela Frickel und Andre Kagelmann herausgegebenen Band Der inklusive Blick – die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma an und fußt auf einer im März 2017 gehaltenen Tagung der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung Köln (ALEKI). Die Beiträge nehmen bewusst einen literaturwissenschaftlichen Blickwinkel ein und fragen, so expliziert es das Herausgeberteam in der Einleitung, "nach ex/inklusiven thematischen-figuralen Konstellationen in historischer sowie aktueller Kinder- und Jugendliteratur sowie nach deren ästhetischen Darstellungsweisen." (S. 10) Zugleich, so heißt es weiter,
sollte eine Verknüpfung mit literaturdidaktischen Perspektiven erfolgen, denn verbunden mit der Konturierung der Inklusion als neuem literatur- bzw. deutschdidaktischem 'Paradigma‘' erneuert sich die (alte) Grundsatzfrage nach der Funktion der Kinder- und Jugendliteratur im schulischen Feld. (ebd.).
Zu Grunde gelegt wird ein weiter Begriff von Inklusion, der (in Anlehnung an Ziemen) auf die "Überwindung der sozialen Ungleichheit" (S. 9) und auf Teilhabe aller "an der Gesamtheit der gesellschaftlichen Felder" abzielt und der in den von Reich formulierten und viel rezipierten Standards der Inklusion aufgeht.
Kritik
An den Standards nach Reich orientieren sich alle Beiträge des Bandes mehr oder minder explizit. Da sie hier so zentral gesetzt werden, seien sie hier noch einmal genannt:
1. Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus stärken
2. Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus ausschließen
3. Diversität in den sozialen Lebensformen zulassen und Diskriminierungen in den sexuellen Orientierungen verhindern
4. Sozio-ökonomische Chancengleichheit erweitern
5. Chancengerechtigkeit von Menschen mit Behinderungen herstellen (Reich 2012, S. 54-90, hier: S. 34)
Verbindendens Element der Artikel ist zudem der Blick auf das literarische Lernen, das mit den ausgewählten Kinder- und Jugendmedien angebahnt werden soll, sie dienen also nicht als Vehikel für Leseförderung oder der Ausbildung von Lesekompetenz. Auch darauf verweisen die Herausgeberinnen und Herausgeber in der Einleitung und betonen darüber hinaus den besonderen Wert von ästhetisch komplexer Kinder- und Jugendliteratur im inklusiven Literaturunterricht mit dem Verweis auf den didaktischen Nutzen des ihr inhärenten "Sinnüberschusses" (Jahrhaus 2008, hier: S. 17) – ob diese Argumentation das oben angedeutete Theorie-Praxis-Dilemma zu lösen vermag oder ob es dieses gar verschärft, sei hier nur am Rande und vorsichtig angezweifelt. Denn die nachfolgenden Beiträge des Bandes überzeugen allesamt durch gute Struktur, eingängige Lesbarkeit und vor allem ansprechende und vielseitige Gegenstände.
Den Auftakt macht Gabriele von Glasenapp mit einem analytischen Beitrag, der zeigt, dass die Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Geschichte mehrheitlich stärker von Exklusion erzählte denn von Inklusion. Von Glasenapp konstatiert eindrücklich "eine gewisse Inkompatibilität zwischen den von Reich entwickelten Standards und jenen für Kinder- und Jugendliteratur in Anwendung gebrachten Normen" (S.34), zeigt aber mit Verweis auf Hannah Greens prominenten Text Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen, dass es auch historische Ausnahmen gibt, dessen inklusives Potenzial sich erst bei einer "Gegen den Strich-Lektüre" zeige.
Mit Ralph Olsens Überlegungen zum literarischen Nichtverstehen folgt einer der lesenswertesten Artikel des Bandes. Der Stellenwert des Nichtverstehens ist für die Literaturdidaktik indes nicht neu und wurde insbesondere von Michael Baum in die Diskussion eingebracht. Im Anschluss an ebendiesen Diskurs und an Schlegel und Adorno unterbreitet Olsen einen "didaktisch motivierten Lobgesang auf das Nichtverstehen literarischer Texte" (S. 50) gerade im inklusiven Literaturunterricht und wendet sich damit gegen eine rein auf das Verstehen zielende Kompetenzorientierung. Damit einher geht die Betonung von ästhetischen Erfahrungen im Literaturunterricht, die mit dem Einsatz vieler einfacher (und dies hier nicht im Sinne Lypps!) Texte der KJL nicht zu haben sei.
An diese eher grundlegend orientierten Artikel schließen sich viele Beiträge an, die verschiedene Kinder- und Jugendmedien in literaturwissenschaftlich- analytischer Perspektive und zuweilen auch mit literaturdidaktischem Fokus für den inklusiven Literaturunterricht aufbereiten: Markus Schwahl nimmt sich Finn-Ole Heinrichs Erzählband Gestern war auch schon ein Tag an, Johannes Mayer legt Inszenierungsanalysen des zeitgenössischen Theaters mit Blick auf Repräsentationen von Behinderung vor, Tobias Kurwinkel analysiert Figuren und Motivkonstellationen in den filmischen Adaptionen von Steinhöfels Rico und Oskar-Romanen. Spezifisch auf Geschlechtergerechtigkeit und deren Repräsentationen in der KJL gehen die Beiträge von Nadine Seidel und Jana Mikota ein und stellen queere Texte vor sowie Titel, die sich traditionellen heteronormativen Geschlechtsrollenkonzepten widersetzen, wie etwa Bacha Posh von Charlotte Erlih oder George von Alex Gino. Judith Leiß analysiert Eins von Sarah Crossan, Wiebke Dannecker Anders von Andreas Steinhöfel.
Hier ist vor allem die erfrischende Vielseitigkeit hervorzuheben, die dem Sammelband insgesamt zu einer spannenden Lektüre macht.
Das didaktische Potenzial populärkultureller Stoffe für den inklusiven Literaturunterricht veranschlagen die Aufsätze von Jan Boelmann und Lisa König (Wolkenvolk-Trilogie von Kai Meyer) sowie von Claudia Priebe (Warrior Cats). Iris Kruse und Sarah Terhorst verhandeln den Stellenwert resilienter Kinderfiguren in der Kinderliteratur und unterstreichen anhand umfangreicher Beispieltexte (u.a. Mio, mein Mio von Astrid Lindgren, Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt von Finn-Ole Heinrich, Djadi, Flüchtlingsjunge von Peter Härtling) welche beeindruckenden Figuren mit hohem Identifikationspotenzial für Kinder in krisenhaften Lebenssituationen die Kinderliteratur historisch und aktuell bereitstellt. Stefanie Granzow untermauert die vielfach beschworene besondere Eignung von Text-Bild-Verbünden resp. Comics für den inklusiven Literaturunterricht und leistet hier die wichtige Aufgabe einer genauen Analyse der konkreten Anforderungsniveaus, die Medienkombinationen wie Graphic Novels an die Rezipienten und Rezipientinnen stellen. Diese hier vorgelegte differenzierte Analyse ist insofern erfreulich, als sie über das einfache Postulat, die Bildebene sei sinnvoll für inklusive Lerngruppen, hinausgeht und damit ein Versäumnis beseitigt, das die inklusive Literaturdidaktik bislang hinterlassen hatte.
Heraus sticht der Beitrag von Maria Becker, die die in der (inklusiven) Praxis weit verbreiteten vereinfachten Lektüren auf den Prüfstand stellt. Er ist hervorzuheben, weil sein Gegenstand ins Herz der Praxis trifft und ebendas untersucht, was die eingangs zitierte Förderschulpädagogin als essentiell gekennzeichnet hatte. Becker stellt die Unterschiede zwischen einfacher und leichter Sprache heraus, bietet einen Überblick über die führenden Verlagsreihen und analysiert kritisch einzelne vereinfachte Versionen von kinderliterarischen Texten, wie z.B. Pauls Maars Sams. Erfreulich ist, dass sie nicht dabei stehen bleibt, vereinfachte Texte schlicht wegen ihres Mangels an literarästhetischer Komplexität zu "verteufeln", sondern durchaus in differenzierte Einzelanalysen geht, welche freilich die Problematiken von Lektüren in vereinfachter Sprache wieder offenlegen (müssen).
Zum Ende hin scheint den Aufsätzen ein wenig die Puste auszugehen, was für Tagungsbände ja durchaus typisch zu sein scheint. Umso mehr ist hervorzuheben, dass sich der den Sammelband abschließende Artikel einem Thema zuwendet, dass die Debatte um Inklusion in der Literaturdidaktik bisher sträflich vernachlässigt hat: Katarina Farkas und David Rott widmen sich der Hochbegabung und weisen diese als wesentliches Element der Inklusion aus, indem sie zwei hochbegabte Protagonisten der KJL vorstellen, Ricos Freund Oskar aus Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten sowie Flavia de Luce, Heldin aus Alan Bradleys Flavia de Luce und zeigen, wie sich diese gesellschaftlichen Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismen stellen.
Bedauerlich ist, dass in den Literaturverzeichnissen der Einzelbeiträge mancherorts Literaturangaben fehlen (Kliewer im Aufsatz von Mikota, Bittner im Text von Seidel).
Fazit
Die Lektüre lohnt sich! Wenngleich der Band sicher nicht die Bedürfnisse von Praktikerinnen und Praktikern befriedigt und keine Praxiskonzepte liefert bzw. das auch gar nicht will, bietet er doch vor allem eins: literaturwissenschaftlich fundierte Einzelanalysen, die das inklusive Potenzial sehr vielseitiger Kinder- und Jugendmedien differenziert herausarbeiten. Kurz: Er bietet eine erfreuliche Vielfalt an Texten und Medien an, bleibt aber die konkrete praktische Perspektivierung weitgehend schuldig.
- Name: Frickel, Daniela A.
- Name: Kagelmann, Andre
- Name: Seidler, Andreas
- Name: von Glasenapp, Gabriele