Inhalt
Krankheiten geraten seit einigen Jahren in den Fokus der Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur. Längst ist der Terminus der Sick Lit zu einem geflügelten Wort in der KJL-Forschung geworden. Gerade in den letzten Jahren ist das Thema sehr aktuell: Die Herausgeberin des vorliegenden Sammelbandes hat selbst eine Monographie (Schäfer 2016/1) und einen Sammelband zu diesem Thema veröffentlicht (Schäfer 2016/2). Auch ansonsten ist das Thema im Forschungsdiskurs präsent: Der Arbeitskreis für Kinder- und Jugendliteratur widmete sich der Sick Lit im Jahre 2017 und Wrobel und Standke gaben im Jahre 2019 den Sammelband Krankheit erzählen heraus, in dem zahlreiche Interpretationen und Didaktisierungen von kinder- und jugendliterarischen Texten mit dem Thema der Krankheit angestellt wurden. Es liegt in diesen Bänden allerdings eine Fokussierung auf das Phänomen der Krankheit allgemein in der KJL vor. So ist es nachvollziehbar, dass Iris Schäfer in diesem Sammelband das Thema der psychischen Krankheiten in kinder- und jugendliterarischen Medien in den Blick nimmt. In der Chronologie beginnend bei Döblins Die Tänzerin und der Leib über Unica Zürns Dunkler Frühling, Pausewangs Reise im August, Neil Gaimans Coraline oder Dowds Sieben Minuten nach Mitternacht bis hin zu Janne Tellers Nichts. Was im Leben wichtig ist oder Verfilmungen von Carolls Alice oder Nils Mohls Es war einmal Indianerland, um einige Beispiele herauszugreifen, ist eine breite Palette an Texten vertreten, in denen komplexe Figurenpsychologisierungen, Traumaverarbeitungen oder Traumwelten analysiert werden.
Kritik
Die Herausgeberin eröffnet den Sammelband mit den folgenden Worten: "Literaturwissenschaftliche Analysen aus psychoanalytischer und bzw. oder tiefenpsychologischer Perspektive sind innerhalb der deutschsprachigen Kinder-/Jugendliteratur und -medienforschung zu Unrecht unterrepräsentiert." (S. 11). Insofern sei es ihr Anliegen, in diesem Band mehrere Beiträge zu versammeln, die, "das kinder- und jugendliterarische Methodenarsenal mittels innovativer Zugänge erweitern und bereichern" (S. 9).
Bei dieser sehr ambitionierten Zielsetzung einer "transdisziplinären Erweiterung" (S. 11) des KJL-Forschungsinstrumentariums überrascht der Blick auf die Liste der Beiträgerinnen und Beiträger. Im Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger finden sich nämlich neue, unverbrauchte Namen. Iris Schäfer erklärt, es handele sich um eine Zusammenstellung von 20 herausragenden studentischen Leistungen, die sie im Laufe der Jahre gesammelt habe. Von Seminararbeiten über Bachelor- bis hin zu Masterabschlussarbeiten liegt somit eine breite Palette studentischer Aufsätze vor. Nach der Sichtung ist unumwunden hervorzuheben, dass die Beiträge in der Tat auf einem einwandfreien Niveau angefertigt wurden und in Hinblick auf die Sorgfalt der Recherche bestechen. So werden die jeweiligen tiefenpsychologischen Theorien sehr aufmerksam, allerdings teilweise schon etwas zu ausführlich, dargestellt und im Anschluss für die jeweils sehr sorgfältig sekundärliterarisch abgesicherten Texterarbeitungen nutzbar gemacht. Die Perspektiven auf die tiefenpsychologischen Deutungen von jugendliterarischen Texten und Medien bieten damit klar eine Bereicherung des Blicks auf die Texte, indem nun auch die implizite Psychologie, die in den Texten angelegt ist, klar ausbuchstabiert wird.
Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil sind Arbeiten versammelt, die "Neue Ansätze der Freud’schen Analyse" vorstellen und psychoanalytische Lesarten kinder- und jugendliterarischer Medien vorführen, im zweiten Teil werden "linguistische, psychoanalytische und filmwissenschaftliche Perspektiven" auf "Sag- und Unsagbares im wachen und traumhaften Erleben" entworfen, der dritte Teil widmet sich "historischen und vergleichenden Analysen psychischer Dynamiken und ihrer Effekte aus transdisziplinärer Perspektive" und der letzte Teil hat "Spiegelungen und Doppelgängerfiguren und ihre Bedeutung für die Individuation" zum Thema.
Aufgrund der Fülle an Beiträgen kann im Folgenden nur eine exemplarische Auseinandersetzung mit einigen Aufsätzen erfolgen. Der erste Teil enthält sorgfältig angestellte Analysen literarischer Texte von Alfred Döblin bis zu Janne Teller. Die Beiträge stellen ihrerseits konsequent Freud’sche Literaturanalysen an und deuten die Texte damit auf ihren tiefenpsychologischen Gehalt hin aus. Anna Adler bezieht sich z.B. auf Döblins Die Tänzerin und der Leib und arbeitet überzeugend heraus, mit welchen Inszenierungspraktiken und Andeutungen die Abspaltung von Geist und Körper als tiefenstrukturelle Traumaverarbeitung lesbar wird. Spannend zu lesen sind auch Mona Baumanns Ausführungen zu Gaimanns Coraline, auch wenn in diesem Beitrag redaktionell zu monieren ist, dass Freud nicht aus den gesammelten Werken, sondern aus einer Internetsammlung zitiert wird (vgl. S. 74). Störend gerade bei einer tiefenpsychologisch orientierten Analyse wirkt, dass die Verfasserin wiederholt eine Autorintentionalität annimmt und Gaiman eine bewusste Erzeugung bestimmter Stimmungen zuschreibt, ohne dabei zu reflektieren, dass nicht alles in einem literarischen Text definitiv der Intention eines Autors zuzuschreiben ist (vgl. S. 78). Wirklich fortschrittliche Ergebnisse erzielt Rachel Lupo in ihrem Beitrag über Sieben Minuten nach Mitternacht und Coraline, allerdings gleitet sie immer wieder ins Spekulative ab, wenn sie die Größe eines Lesers annimmt, auf den der Text bestimmte von ihr gesetzte Effekte habe. Irritierend sind auch diverse Selbstzitate aus einer offensichtlich unveröffentlichten Hausarbeit. Derartige Fußnoten hätten in der redaktionellen Überarbeitung herausgenommen werden müssen. Spannend aufbereitet und nachvollziehbar dargestellt stellen sich die Perspektiven in Rieke Neuperts Beitrag zur Gruppendynamik in Janne Tellers Nichts dar, in dem eine interessante Reinterpretation der Machtstrukturen und Figurenverhältnisse durch die Annahme halluzinatorischer Einflüsse erfolgt. Fraglich bleibt nur, ob die relevanten Erkenntnisse wirklich die volle Dimension der in dem Beitrag aufgerufenen tiefenpsychologischen Theorie benötigt hätten.
Ein ähnliches Bild bieten auch die Beiträge in der zweiten Sektion, in der es um Unsagbares und die Trennung von Traum und Wachzustand geht. Allerdings ist die Zuordnung der Beiträge hier nicht zu 100% überzeugend. So thematisiert Vaiana Dyballa sehr schlüssig und materialreich den Stummfilm Blancanieves, doch stellt sich die Frage, warum diese Auseinandersetzung mit den Spiegelmotiven nicht eher in der vierten Sektion verortet wurde, wo der Beitrag gut in ein Gespräch mit Noaks Aufsatz über die Spiegelmetaphorik in Hans Christian Andersens Die Schneekönigin hätte gelangen können. Eine sehr überzeugende Interpretation von Nonsense-Literatur sowie den medialen Umsetzungen und deren Deutung im Kontext der unbewussten Traumtransformationen legt Maren Feller in Bezug auf Carrols Alice-Romane und Burtons filmische Adaption vor. Auch die weiteren Beiträge bieten überzeugende Perspektiven auf Traumdarstellungen und Tabuisierungen. Als sehr anschlussfähig hervorzuheben ist Lisa Winters Beitrag über "Traumdarstellungen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust", der sogar noch Desiderate wie genderspezifische Unterschiede in Bezug auf Traumdarstellungen herausstellt (vgl. S. 257). So bezieht sie sich beispielsweise auf die psychologisch bewahrende Funktion des Schlafs und die Tagesreste in Träumen in Gudrun Pausewangs Reise im August oder auf die Traumwelten in Aharon Appelfelds Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Auch Carolin Schreibers Textarbeit besticht durch Eigenständigkeit und interessante Perspektiven auf Janne Tellers Nichts und Elsäßers Für Niemand, wobei es eine interessante und gelungen komponierte Übertragung der inhaltlichen Erarbeitung des Unsagbaren in den Texten auf die rezeptionsbezogene Betrachtung von Tabuisierung in der Rezeption gibt. Ermüdend ist nur, dass hier erneut Tellers Nichts in den Blick genommen wird, ohne dass eine redaktionelle Positionierung in der Nähe der Auseinandersetzung mit dem Nichts-Beitrag in der ersten Sektion erfolgt. Ähnlich stellt es sich im gesamten Sammelband mit der immer wieder auftretenden Beschäftigung mit Coraline dar, die sich durch die Sektionen zieht. Hier wird die redaktionelle Herausforderung deutlich, die darin besteht, so eine bunte Mischung studentischer Hausarbeiten, die über die Jahre entstanden sind, in eine redaktionelle Dramaturgie zu bringen.
Auch die Beiträge in der dritten Sektion haben zweifelsohne fundierte Erarbeitungen zur Grundlage und nehmen ihre Gegenstände seriös und nachvollziehbar in den Blick. Dass hier aber wirklich transdisziplinäre Umbrüche angebahnt werden, lässt sich nicht vollends bestätigen. Adriana Acquaviti beispielsweise zeigt ein erfreulich textplausibilisierendes Vorgehen, wenn sie Schützsacks Und auch so bitterkalt ausdeutet, doch scheint hier letztlich formal eine diskursivierende Textanalyse vorzuliegen. Es ist auch auf der formalen Ebene nicht radikal neu, in der im Text verhandelten Anorexie Foucaults Gefängnismetaphorik zu lesen. Das Ergebnis ist spannend, aber die Methodologie nicht revolutionär. Das soll die seriösen Ergebnisse nicht schmälern, nur den Anspruch einer Methodenrevision etwas abmildern.
Freya Brasses transdisziplinärer Ansatz liegt in einer Übertragung der literarischen Beobachtungen auf die erzieherische Wirkung von Literatur. Sie schließt ihren Beitrag mit den Worten: "Der Wechsel zwischen den Welten, wie er bei Alice und Coraline beschrieben wird, kann den Blick aus neuen Perspektiven schulen und somit zu einem erhöhten Reifegrad beitragen" (S. 370). Für diese pädagogisch-didaktische Perspektivierung fehlen allerdings Bezugnahmen auf Überlegungen zum Probehandeln und zu Perspektivübernahmen im Sinne Spinners (vgl. Spinner 2006) oder auch auf die Überlegungen zum Zusammenhang von Identitätsausbildung und Literatur (vgl. Frederking 2013). Dadurch, dass diese Vorüberlegungen nicht berücksichtig werden, kommt der erzieherische Effekt arg postuliert daher. Auch Lena-Marie John von Zydowitz ruft didaktische Positionen auf, verfolgt diese aber nicht konsequent genug und bleibt daher am Ende bei einer reichhaltigen Vorstellung von Ideen, die zum Teil etwas zu stark thetisch orientiert sind. Immer wieder scheint die Verfasserin auch aus der Didaktik Gütekriterien für die Literatur über Suizide anzulegen (vgl. S. 380), wobei die von ihr aufgerufenen didaktischen Positionen etwa von Katrin Manz weniger ästhetische Bewertungen als eher Textauswahlkriterien für den Unterricht darstellen.
Teil 4 stellt Spiegelungen und Doppelgängerfiguren vor. Ob die psychoanalytische Lesart wirklich, wie Meggan Noack behauptet, ein tieferes Verständnis für die Figuren ermöglicht als andere Interpretationsverfahren, mag bezweifelt werden, zumal gar nicht klar ist, wieso von der Tiefenpsychologie und der damit einhergehenden Veruneinheitlichung der kognitiven Prozesse ausgehend nun als Ziel gerade gesetzt wird, eine Eindeutigkeit (zumindest impliziert der Terminus Verständnis das Bemühen um Eindeutigkeit) in die Textauslegung zu bringen. Lara Buschs Auseinandersetzung mit der Verfilmung zu Es war einmal Indianerland sticht ein wenig aus den vorigen Beiträgen heraus, weil hier raumtheoretische Annahmen und Interpretationsverfahren auf die mediale Darstellung übertragen werden. Dieser insgesamt ansprechende Beitrag greift in seiner Ergebnisformulierung zu weit aus, wenn schließlich nicht mehr eine Einzelfilmanalyse im Mittelpunkt steht, sondern immer wieder Ergebnisse postuliert werden, die angestellte Beobachtungen zum "Strukturprinzip in zeitgenössischer Jugendliteratur bzw. -filmen" (S. 430) machen und die Abweichungen zu Nils Mohls Romanvorlage nicht als medientransformative Interpretation erklärt, sondern auf die semiotischen Potenziale der jeweiligen medialen Erscheinungsformen hin ausdeutet.
Fazit
Es ist ein faszinierendes Konzept, im Rahmen eines Sammelbandes ausschließlich exzellente studentische Arbeiten zu versammeln. Die Sorgfalt, mit denen die Studierenden bibliographieren und ihre Erkenntnisse theoretisch fundieren, ist sehr hoch. Dadurch bietet sich der Band ideal für Interessierte an, die sich in die tiefenpsychologisch orientierte Literaturwissenschaft einlesen und möglichst viele einschlägige Quellen kennenlernen wollen. Dass zum Teil kleinere Unsicherheiten in Bezug auf den Theorie-Praxis-Transfer bestehen und die theoretischen Reflexionen etwas Überhand nehmen, schmälert diesen Vorteil nicht.
Die Beiträge bieten nachvollziehbare, seriöse und sekundärliterarisch abgesicherte Erkenntnisse zu spannenden literarischen Texten und Filmen. Die Auswahl der analysierten Texte und Filme ist allerdings nicht ganz repräsentativ. Fraglich ist etwa, wie Döblins Die Tänzerin und der Leib in einen Sammelband zur Kinder- und Jugendliteratur passt. Wünschenswert wäre eine größere Bandbreite an Texten. So wird z.B. in drei Beiträgen Coraline zum Gegenstand gemacht, auch Janne Tellers Nichts ist breit vertreten, was am Ende ein Ungleichgewicht zu anderen Texten herstellt, die psychische Krankheiten präsentieren. Vielleicht entsteht dieser Eindruck des Ungleichgewichts aber auch dadurch, dass die Beiträge im Band in unterschiedlichen Sektionen verstreut sind.
Alles in allem liegt ein Band mit beeindruckend präzisen Analysen vor, der definitiv gute Impulse für die Auseinandersetzung mit den behandelten Texten bietet. Der innovative große Wurf einer Methodenrevision, der im Vorwort angekündigt wurde, bleibt allerdings aus. Die Formulierung dieser Zielsetzung wirkt doch etwas zu hoch gegriffen und hätte etwas bescheidener ausfallen dürfen. Zwar werden die tiefenpsychologischen Analysen nachvollziehbar vorgeführt und legitimiert, doch gehen die neuen Erkenntnisse teilweise nicht so weit, dass wirklich ein finaler Impuls für eine Neuorientierung gegeben ist.
Letztlich ist festzuhalten, dass die Beiträge allesamt ein beeindruckendes Niveau, eine ungewöhnliche Sorgfalt und einen sehr guten theoretischen Vorbau aufweisen, wobei nicht immer klar ist, ob dieser Vorbau in seiner vollen Dimension nötig ist. Dennoch bleibt es dabei, dass interessante, tiefgreifende Interpretationen von Texten auch in Teilen ein neues Licht auf einige der Texte werfen und damit tatsächlich zum konsequenteren Einsatz einer tiefenpsychologischen Lesart motivieren können.
Literatur
Abraham, Ulf / Launer, Christoph: Weltwissen erlesen. In: Weltwissen erlesen. Literarisches Lernen im fächerverbindenden Unterricht. Hrsg. von Ulf Abraham. Baltmannsweiler: Schneider, 2002 (= Diskussionsforum Deutsch 7). S. 6-58.
Frederking, Volker: Identitätsorientierter Literaturunterricht. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Hrsg. von Volker Frederking und Axel Krommer. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider 2013, S. 414–445.
JuLit 3 (2017): Sick Lit. Warum es in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur so häufig kränkelt.
Narrating Disease and Deviance in Media for Children and Young Adults. Krankheits- und Abweichungsnarrative in kinder- und jugendliterarischen Medien. Hrsg. von Iris Schäfer in Kooperation mit Anika Ullmann und Nina Holst (= Kinder- und Jugendkultur, -Literatur und -Medien. Theorie – Geschichte – Didaktik), Frankfurt am Main: Lang, 2016.
Schäfer, Iris: Von der Hysterie zur Magersucht. Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende: In: Kinder- und Jugendkultur, -Literatur und -Medien. Theorie - Geschichte - Didaktik. Hrsg. von Hans-Heino Ewers, Ute Dettmar und Gabriele von Glasenapp. Bd. 101. Frankfurt am Main, Lang, 2016.
Spinner, Kaspar: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 200 (2006). S. 6–16.
- Name: Schäfer, Iris