Inhalt
Werturteile über Literatur bilden zu können, stellt sich als ein zentraler Bestandteil literarischer Kompetenz dar (vgl. S. 49). Aufbauend auf dem Verständnis von Literatur als kultureller Praxis geht die vorliegende Arbeit zunächst auf die außerschulischen Prozesse literarischer Wertung und Kritik (Kapitel 1) ein, erläutert unterschiedliche Traditionslinien von Literaturkritik sowie -beurteilung und stellt im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Grundierung Anschlussfähigkeiten für die Literaturdidaktik heraus. Darauf aufbauend behandelt die Arbeit in Kapitel 2 das öffentliche Feld des Literaturbetriebs und stellt die Relevanz von Wertungen für den Literaturmarkt heraus. Diese Betrachtungen zur literarischen Öffentlichkeit münden in Kapitel 3 in eine Darstellung unterschiedlicher Formate literarischer Wertungen von klassischen printmedialen Darstellungen bis hin zu Fernsehserien oder Literaturpreisen, wobei die Verfasserin ein Forschungsdesiderat in Bezug auf digitale Formate der Rezeption und Anschlusskommunikation über Literatur herausarbeitet. Dieses Desiderats nimmt sich Kapitel 4 an und erhebt explorativ Erkenntnisse über die Funktionsweise von Kommunikation über Literatur im Internet. Es handelt sich hierbei um das didaktische Herzstück der Studie und es greift Online-Literaturrezensionen, Buchblogs, Booktubes, Leserunden auf Literaturplattformen sowie social reading auf Lectory, einer speziell für den Unterricht entwickelten Plattform, auf. Die Formate werden in ihrer medialen Eigenheit vorgestellt, didaktische Impulse entwickelt und deren Unterrichtseinsatz eruiert. Kapitel 5 bündelt die Erkenntnisse und bestimmt das Feld der intersubjektiven Wertungspraxis als didaktischen Gegenstand, entwickelt ein Modell der rezeptiven und produktiven Wertungskompetenzen und schließt mit einem Ausblick auf die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer im Feld literarischer Kommunikation und Wertung.
Kritik
"Rezensionen realisieren sich in der Spannbreite ihrer positiven oder negativen Wertung zwischen Lob und Verriss." (S. 207) Mit diesen Worten aus der vorliegenden Habilitation und den sorgfältig angestellten Auseinandersetzungen mit formalen wie inhaltlichen Ausgestaltungen von Rezensionen im Hinterkopf bauen sich im ersten Moment Blockaden bei der Anfertigung einer Rezension auf, wenngleich es hier anders als in Ina Brendel-Perpinas Habilitationsschrift nicht um einen kinder- und jugendliterarischen Text geht, sondern um eine wissenschaftliche Abhandlung. Immerhin arbeitet die Verfasserin in ihrer Studie typische und weniger typische Merkmale ebenso wie Qualitätskriterien von Rezensionen heraus (vgl. S. 221). So enthalte eine Standardrezension grundlegende Informationen über Inhalt, Form, Autorin und Autor, Kontextinformationen und Vergleiche mit anderen Werken, schließlich eine nachvollziehbaren Kriterien folgende Bewertung und eine Selbstreflexion der oder des Rezensierenden (vgl. S. 211). Einer guten Rezension gelinge es beispielsweise, einen Spannungsbogen dadurch aufzubauen, die Leserinnen und Leser zunächst im Unklaren über die Wertung eines ausgeführten Aspekts zu belassen oder mit einer starken These einzusteigen, die erst nach und nach begründet wird. Im Kern steht immer, dass die oder der Rezensierende ihre oder seine Kenntnis des Textes ausweist und in die Urteilsfindung einbezieht. Doch der Reihe nach:
Die Arbeit beeindruckt von vornherein durch ihren kulturtheoretischen Vorbau und ihre terminologische Genauigkeit. So definiert die Verfasserin durchgehend überaus sorgfältig die grundlegenden Termini (vgl. etwa S. 18), sichtet in historisch-kritischer Perspektive den für ihre Argumentation jeweils maßgeblichen Diskurs und setzt sich mit konzeptionellen Schwierigkeiten auseinander. So wird deutlich, dass literarische Wertung ihrerseits ein komplexer Vorgang ist, dem unterschiedliche Prozesse des Wertens mit verschiedenen, auch kontextabhängigen Wertmaßstäben und einer spezifischen Logik zugrunde liegen (vgl. S. 23-25). Dabei konturiert die Arbeit sowohl die Rolle der Bewertenden im kulturellen Handlungsfeld als auch die Problematisierung der Festlegung von Werten in Bezug auf literarische Texte. Durch eine Sichtung der bisherigen empirischen Studien zur literarischen Urteilskompetenz und ihrer Förderung im Deutschunterricht in Kapitel 1.3 weist die Verfasserin die hohe Relevanz der Wertungskompetenz für Lesemotivation und literarisches Lernen im bisherigen didaktischen Diskurs in absolut zustimmungsfähiger Art und Weise nach. Die Verfasserin begibt sich damit in ein literaturdidaktisches Feld, an dem in der literaturdidaktischen Forschung (prominent z.B. durch Abraham, Dawidowski, Hurrelmann, und Kepser, um nur einige zu nennen) bereits gearbeitet wurde, das von ihr aber systematisch in einen kulturwissenschaftlichen Zusammenhang gestellt und medial erweitert wird.
Die Einbettung der Überlegungen weist eine außergewöhnliche Breite auf und bindet die Wertung in eine fundierte Betrachtung des Literaturbetriebs ein. Die Überlegungen basieren auf jahrelangen Vorarbeiten der Verfasserin, was die Arbeit zu einem wirklichen Großprojekt werden ließ. Dabei stellt die Verfasserin ihren fundierten Blick auf den Literaturmarkt immer wieder unter Beweis und zeigt, dass literarische Wertungen und Literaturkritik einerseits den Markt und das Feld der (Kinder- und Jugend-)Literatur prägen, aber auch umgekehrt geprägt werden (vgl. etwa S. 139–149). Die Verfasserin fordert:
Die aufgezeigten Zusammenhänge für SchülerInnen durchschaubar zu machen und den kritischen und selbstbestimmten Umgang mit Literatur und ihrer Wertung inmitten literaturkritischer Rahmungen durch Skandalisierungen, Hypes und Kommerzialisierung zu fördern, sollte als Teil literarischer Kompetenz gedacht werden (S. 162).
Bei diesen Betrachtungen und der Vielfalt unterschiedlicher medialer Formate und Umgangsweisen mit dem literarischen Feld wäre denkbar, noch eine mediale Erweiterung in Brendel-Perpinas Modell einzuschreiben und das Genre des "Literaturbetriebsromans" als Metaisierung oder Ästhetisierung der aufgerufenen Erkenntnisse in den didaktischen Blick zu nehmen – wobei diese Idee freilich den Rahmen der ohnehin schon überbordend ausführlichen Studie gesprengt hätte.
Auch wenn die Struktur der Studie bestechend klar ist, bedarf es bei der Lektüre der gesamten Arbeit aufgrund des Umfangs und des Anspruchs der theoretischen Vorüberlegungen einer großen Konzentration, was durch kurze synoptische Zusammenfassungen am Ende größerer Kapitel den Lesefluss etwas entlastet werden könnte.
Die sehr theoretischen Vorüberlegungen in den ersten beiden Kapiteln werden in Kapitel 3 plastisch greifbar gemacht, wenn die Verfasserin unterschiedliche Arten medialer literarischer Wertungen betrachtet, wobei sie jeweils die medialen Besonderheiten sehr ansprechend und einleuchtend herausarbeitet und anhand ebenso sogfältiger wie transparent gehaltener Analysen nachvollziehbar macht, welche medialen Besonderheiten den jeweiligen Formaten zugrunde liegen. Es gelingt der Verfasserin praxisorientiert, die Bereiche der Rezeption und der Produktion in den unterrichtlichen Rahmen zu integrieren und damit Impulse für eine abwechslungsreiche und kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung zu setzen.
Besonders anwendungsbezogen sind die Auseinandersetzungen mit Buchblogs, Booktubes und weiteren medialen Wertungsformaten, die in Kapitel 4 medial ausführlich bearbeitet und didaktisiert werden. Wirklich überzeugend zeigt die Studie hier das Potenzial der medialen Bücherbewertungen auf. Im Zuge der sich ausdifferenzierenden Formate sogenannter Laienbewertungen (vgl. S. 391–407) ergeben sich auch neue Möglichkeiten der Teilhabe von Rezipientinnen und Rezipienten am Feld literarischer Kommunikation. Vor diesem Hintergrund hätte die Verfasserin auch ein wenig engagierter eine Abwendung von Hierarchisierungen vollziehen und in Bezug auf die Untergliederung in literarische Expertinnen oder Experten und Laien (vgl. schon S. 21) noch stärker für eine Aufhebung der Etikettierungen plädieren können.
Der Zusammenhang zwischen der schwindenden Hierarchisierung literarischer Wertung und der konsequent rezeptionsästhetisch gedachten Teilhabe der Rezipientinnen und Rezipienten am Kommunikationsmodell Literatur wird in Kapitel 4 eindrucksvoll anhand verschiedener wertungsbezogener Formate vorgeführt. Das Kapitel mündet in die Betrachtungen zum sozialen Lesen mithilfe der Plattform Lectory (Kapitel 4.5). Unzweifelhaft bündelt das soziale Lesen die zuvor beschriebene Teilhabe und baut darauf auf, Literaturrezeption als einen sich öffnenden kommunikativen Vorgang zu beschreiben, doch entsteht hier der Eindruck, dass die Plattform nicht auf den ersten Blick in die Auflistung der unterschiedlichen, in den vorangehenden Teilkapiteln besprochenen Formate passt. Immerhin geht, wie auch die Verfasserin selbst erhebt, die Arbeit mit dieser Plattform über den wertenden Fokus hinaus und wird von einigen Beteiligten gar nicht in einem primär wertenden Sinne gebraucht. Hier ist zu betonen, dass die entwickelten Einsatzformen ohne Zweifel Prozesse der literarischen Wertung wie den in einem ersten Schritt erfolgenden Inhaltsnachvollzug oder auch die kritische Auseinandersetzung der Rezipientinnen und Rezipienten mit der eigenen Lesehaltung fördern (vgl. S. 640), damit aber nicht unbedingt Spezifika der literarischen Wertung als kultureller Praxis darstellen müssen. Insofern hätte hier doch eine strukturelle Zäsur erfolgen können, indem die Arbeit mit Lectory als eine Art Bündelung der zuvor erarbeiteten Erkenntnisse in ein eigenes Kapitel oder eine Art Ausblick zu Kapitel 4 pointiert worden wäre. Das hätte auch den Stellenwert der aufwendigen Konzeption im Gefüge der Arbeit hervorgehoben.
Diese kosmetischen Anmerkungen sind allerdings lediglich als Diskussionsansätze in einer inhaltlich durchgehend zustimmungsfähigen, sorgfältigen und überblickenden Arbeit zu verstehen, die zweifellos die fachliche Übersicht der Verfasserin über ihr Forschungsgebiet und benachbarte Disziplinen dokumentiert.
Fazit
Ein wahrhaftiges Opus Magnum hat Ina Brendel-Perpina hier vorgelegt. Die Überlegungen basieren auf einer wirklich umfassenden und souverän moderierten kulturwissenschaftlichen Diskursivierung, einer terminologischen Schärfe und auf zahlreichen Forschungsprojekten an unterschiedlichen Universitäten. Auf den ersten Blick scheinen die Betrachtungen bisweilen etwas abstrakt, was die Verfasserin aber von vornherein dadurch erklärt, dass sie keine taxierbaren Operationalisierungen anstrebt, "um die Prozesse literarischer Wertung nicht ausschließlich zweckrational zu standardisieren" (S. 16). Dabei eignet sich die Studie ebenso trefflich als Nachschlagewerk, um sich über aktuelle Formate literarischer Praxis zu informieren und didaktische Impulse zu fokussieren.
Zusammenfassend leistet die Arbeit genau das, was sie eingangs als ihr Ziel ausweist: Eine grundlegende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen literarischer Wertung, die bestechend klar und einleuchtend zeigt, dass literarische Werturteile als Bestandteil der literarischen Kompetenz aufzufassen sind und im Rahmen des Deutschunterrichts in mannigfaltigen Formen zum Einsatz gelangen sollten. Das lässt sich auch und in besonderem Maße durch digitale Formate (Buchblogs, Booktube, Online-Leserunden oder Social Reading im Social Book) anbahnen und auf dieser Basis ein motivierender, lebensweltbezogener, Rezeptions- und Produktionsvorgänge gleichermaßen bespielendender Literaturunterricht konzipieren.
- Name: Brendel-Perpina, Ina