Inhalt
Die Konzeption des BOLIVE-Modells fasst literarisches Verstehen (Kapitel 2) als einen unabschließbaren und vielschichtigen Prozess auf, der aus der Rezeption, dem daran anschließenden Verstehensprozess im engeren Sinne (Operation) und schließlich einer Sichtbarmachung des Verstehens (Produktion) besteht. Dabei geht das Modell von Literatur und Narrationen im erweiterten Sinne als polyvalenten Gegenständen aus. Dabei besteht das Ziel darin, literarischem Verstehen auf die Spur zu kommen. Zu diesem Zweck werden literarische Bildung und literarische Kompetenz als Einflussfaktoren literarischen Verstehens neu gefasst, wobei die Annahme zugrunde liegt, dass die literarische Bildung im Gegensatz zur literarischen Kompetenz/Performanz nicht empirisch messbar seien könne.
Um literarisches Verstehen beobachtbar machen zu können, werden die beiden Begriffe literarische Kompetenz und literarische Bildung neu definiert, wobei vor allem das Verständnis von literarischer Bildung voraussetzungs- und folgenreich ist, geht es im vorliegenden Modell doch nicht um die teilweise im literaturdidaktischen Diskurs angenommene Ansammlung von Wissensbeständen über Literatur im kanonischen Sinne, sondern um einen weiten Begriff von Bildung: Dieser "umfasst alles, was ein Individuum zur Selbstbildung und -entwicklung mittels Literatur und ihren vielfältigen Formen benötigt". (S. 22)
Die Strategie von Boelmann und König besteht darin, auf Basis der formalen Unterscheidung messbarer und nicht messbarer Aspekte Kompetenzen zu modellieren, wobei im Denkrahmen darauf verwiesen wird, dass es gerade in Bezug auf Literatur auch Lernziele gebe und geben müsse, die nicht zum Kompetenzbegriff passen, etwa die ästhetische Genußfähigkeit.
Auf Basis des in Kapitel 2 dargelegten Denkrahmens reflektieren König und Boelmann (Kapitel 3) die Aspekte literarischer Bildung. Kern des Ansatzes ist die Modellierung der literarischen Grundkompetenzen:
- der Handlungsebene (Handlungs- und Figurenverstehens),
- der Meta-Ebene (Metaphernverstehen und des Verstehen sprachlicher Mittel)
- des Verständnisses der Erzählinstanz und schließlich
- der Sinndeutung.
In einem ersten Schritt stellen Boelmann und König die jeweiligen Niveaustufen und Durchdringungsstufen klar operationalisiert für die Sekundarstufen (Kapitel 3.1) und in der Folge für die Primarstufe (Kapitel 3.2) vor und weiten den Blick in der Folge auf inklusive Vermittlungskontexte aus (Kapitel 3.3). Eine Darstellung bisheriger und weiterer Einsatzmöglichkeiten des Modells in Empirie und Diagnostik (Kapitel 4) rundet den Band ab. Im Ausblick (Kapitel 5) erläutert das Modell sein Selbstverständnis als revisionsoffenes Open-Source-Modell. Der Anhang dokumentiert am Beispiel des Bildungsplans Deutsch für Baden-Württemberg exemplarische Aspekte literarischer Bildung und Kompetenz in einem Curriculum, wobei weitere Aufstellungen auf der Website www.bolive.de in Aussicht gestellt werden.
Kritik
Anders als das Modell literarischer Kompetenz auf semiotischer Grundlage von Schilcher und Pissarek systematisiert das BOLIVE-Modell seine Teilkompetenzen modellspezifisch und systematisiert die Ziele literarischen Lernens in affektive und kognitive Aspekte, die in der Folge nachvollziehbar, detailliert, empirisch verankert und sehr anwendungsbezogen dargestellt werden. Besonders hervorzuheben ist, dass der Band trotz des überschaubaren Umfangs von knapp 200 Seiten und der sehr gerafften Darstellung der komplexen Modellierungen außerordentlich nachvollziehbar die Schritte der eigenen Erkenntnisgewinnung präsentiert und reflektiert.
Der Grundgedanke wird bestechend klar herausgearbeitet: Wenn es um literarische Kompetenzen oder literarisches Verstehen geht, stellt sich die Herausforderung, der Polyvalenz des literarischen Gegenstandes gerecht zu werden, aber dennoch eine empirische Greifbarkeit erlangen zu können. Anders als in Bezug auf Leseverstehen Die Orientierung an der Plausibilität setzt ihrerseits aber immer noch eine Instanz voraus, die diese Plausibilität bemisst, womit nicht auszuschließen ist, dass doch noch Relikte der Festlegung akzeptabler und nicht akzeptabler Verstehensäußerungen vorhanden sein können. Im Zuge dessen fällt auch auf, dass das Modell trotz aller Orientierung an der rezeptionsästhetischen Wende (Wolfgang Iser) doch "mögliche Sinnangebote, Intentionen und Wirkungsabsichten der Erzählung" (S. 127) annimmt und auf Plausibilität misst, wobei auch hier die durchaus schlüssigen Ausführungen letztlich sehr geschickte, aber auch diskutierbare Setzungen zur Basis haben.
Zwei Annahmen sind für das Modell elementar: Erstens wird literarisches Verstehen nicht auf den gedruckten Text verengt, sondern als eine Kulturtechnik verstanden, die sich auf alle Arten geschichtenerzählender Medien beziehen kann, zweitens differenziert das Modell den Kompetenzbegriff aus und hebt hervor, dass die zu einem spezifischen Zeitpunkt abgerufene Performanz durch verschiedene Störfaktoren (Unlust, Müdigkeit, Leseschwäche, Ausdrucksvermögen) beeinflusst werden kann und daher nicht notwendiger Weise die faktisch vorhandene Kompetenz nachweist, wobei Störungen in allen drei Phasen auftreten und so die Performanz beeinträchtigen können. Somit betonen Boelmann und König, dass diese unterschiedlichen Ursachen einer Leistung auch jeweils unterschiedlichen Förderbedarf nach sich ziehen können. Wenn beispielsweise eine Schülerin oder ein Schüler in einer Anschlussaufgabe schlechte Leistung abrufe, müsse das keinesfalls als Beleg für einen Mangel an inhaltlichem Verständnis aufgefasst werden: "Möchte man die literarischen Verstehensprozesse von Schülerinnen und Schülern folglich genauer analysieren, ist es notwendig, diese vor dem Hintergrund der jeweiligen Rezeptions-, Operations- und Produktionsfähigkeiten des Individuums zu reflektieren." (S. 16) Diese engagierte Zielsetzung führt dazu, dass in der Folge klar operationalisierte Durchdringungsstufen für unterschiedliche literarische Kompetenzen dargeboten werden. In Bezug auf den Entwicklungsstand der Kompetenz "Erzählinstanz verstehen" befindet sich beispielsweise eine Schülerin oder ein Schüler auf Niveaustufe II und in Durchdringungsstufe 5, die zur "Reflexion der Passung von Erzählinstanz, Perspektive sowie erzählerischen Mitteln und der Erzählung unter vollständigem Einbezug der narrativen Funktion und Prüfung mehrdeutiger Hypothesen" (S. 82) in der Lage ist. Derartige Zuordnungen werden anhand exemplarischer Äußerungen aus der Praxis plastifiziert, wobei sich freilich herausstellt, dass bei aller Validität auch die Zuordnung einer Äußerung immer eine Interpretation darstellt – ein Problem, das qualitative Forschung nicht umgehen kann und das im vorliegenden Modell ausführlich reflektiert wird.
Besonders hervorzuheben ist, wie detailliert die Ausprägung der Kompetenzstufen für die Primarstufe angelegt wurde. Es gelingt in herausragender Weise zu zeigen, dass literarisches Verstehen und ästhetische Lernprozesse de facto schon im Grundschulbereich deutlich fortgeschrittener sind als es oft den Anschein hat. Die immer wieder betonte Orientierung an der kognitiven Denkentwicklung von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die Modellierung kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass normative Setzungen bei der Modellbildung nie ganz ausgeschlossen werden können. Dessen ungeachtet stellen Boelmann und König an mehreren Stellen ihrer Argumentation unter Beweis, dass das BOLIVE-Modell in der Tat außerordentlich gut zur Messung literarischer Kompetenz geeignet ist und auch sehr sinnfällige Ableitungen in Bezug auf die Praxis ermöglicht.
Fazit
Der Anspruch des vorliegenden Modells ist hoch, geht es doch darum, literarisches Verstehen valide zu modellieren und dadurch einen Blick auf den unterrichtlichen Umgang mit Literatur zu ermöglichen, der fein ausdifferenziert ist und dadurch ausgesprochen klar konturiert darstellt, welche Operationen beim Umgang mit narrativen Medien vollzogen werden. Die verdienstvolle Modellierung bietet eine große Übersicht und weist evidenzbasiert nach, dass literarische Kompetenz schon in jungen Jahren weit ausgeprägt ist. Damit bietet das Modell eine klare und praxisbezogene Aufgliederung literarischer Kompetenzen, die sowohl in der empirischen Forschung als auch in unterrichtsdiagnostischen Kontexten wertvolle Impulse liefert. Die argumentative Herleitung der Modellierung besticht durch Klarheit, muss aber notwendiger Weise auch Setzungen vornehmen, die ihrerseits diskutiert werden können. Da sich BOLIVE als Open-Source-Modell versteht, scheint genau das aber auch im Sinne der Autorin und des Autors zu sein.
Es handelt sich ohne Frage um eine echte Bereicherung sowohl des fachdidaktischen Diskurses als auch der Praxis, was der Band anhand unterschiedlicher Erprobungssituationen dokumentiert. Der Aufbau ist so gehalten, dass keine Lektüre des gesamten Bandes nötig ist, um die einzelnen Bausteine gut zu verstehen und sicher für Forschung oder Diagnose anwenden zu können. Für die praktische Anwendung auch im Seminarkontext stellt das einen großen Vorteil dar. Unzweifelhaft ist es gelungen, eine sehr anwendungsfreundliche Systematik literarischer Kompetenz zu konstruieren, die sich in Forschungsseminaren und für die schulische Diagnostik sehr gewinnbringend einsetzen lässt. Gerade aufgrund der Übersichtlichkeit des Modells wird BOLIVE in seiner neuen Fassung zweifellos zu einem kanonischen Orientierungsrahmen in Bezug auf literarische Kompetenzen werden.
Als Open Access unter www.bolive.de verfügbar
- Name: Boelmann, Jan M.
- Name: König, Lisa