Inhalt

Das Thema Hörspiel hat im deutschsprachigen Forschungsraum in unregelmäßigen Abständen eine Art Konjunktur, wie Schenker im ersten Kapitel nachweist. So habe es in den 1960er und 80er Jahren und danach wieder in den 2000er Jahren einen Schub an Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand gegeben. Aktuell scheint sich dieses Interesse erneut zuzuspitzen, da es wieder mehrere Publikationen zum Thema Hörspiel gibt (vgl. etwa Josting / Preis (Hg.), 2021 oder Lehnert / Schenker / Wicke (Hg.), 2022). Interessant ist dabei Schenkers zupackende und scharfsinnige Diagnose, dass Beiträge der germanistischen Medienwissenschaften eine auf den deutschen oder zumindest eurozentrischen Raum fixierte Perspektive einnehmen (S. 15-16). Dass die Arbeit vor diesem Hintergrund anstrebt, sich stärker einer transnationalen Perspektive anzunehmen, legitimiert Schenker in ihrem zweiten Kapitel, in dem sie herausarbeitet, dass schon der Terminus Hörspiel und das, was prototypischerweise im deutschsprachigen Raum unter Hörspiel verstanden wird, sehr stark westlich geprägt ist. So sei in vielen anderen Kulturen der Terminus Hörspiel entweder gar nicht oder vollständig anders belegt, als es im deutschsprachigen Raum der Fall ist (S. 51-52, 60-61). Gründe für diese Unterschiede sind auch im Bereich der Produktion zu sehen, wie Schenker daraufhin nachweist. Eben deshalb erscheint es als nötig, nicht nur einzelphilologische Untersuchungen im Sinne der jeweiligen nationalen Hörspielausprägungen anzustellen, sondern stattdessen eine Erweiterung in transkultureller Hinsicht vorzunehmen (S. 20). Dafür bedient sich die Arbeit der transnationalen Literaturwissenschaft etwa im Sinne Bhabhas oder Bischoffs und Komfort-Heins (Kapitel 1) und stellt heraus, wie wichtig die Beachtung der Welthaltigkeit von Literatur in der Analyse ist, wobei sie diese Beobachtung auf die medialen Besonderheiten von Hörspielen überträgt (vgl. Kap. 1.1 und 1.2). 

Untersuchungsgegenstand der Arbeit sind Hörspielserien aus Ozeanien und Subsahara-Afrika (Vivra Verra (2014-2016) und Echoes of Change (2011-2013)), die Schenker in Bezug zur deutschsprachigen Hör(spiel)kultur setzt. Der serielle Charakter stellt für sie einen Schlüssel dar, um gleichzeitig Erzählmechanismen, Wiederholungen und damit Gesetzmäßigkeiten klarer feststellen zu können. Die Grundthese besteht darin, dass derartige Serien und Soap-Operas „[d]as Leben selbst in verdichteter Form“ (S. 41) widerspiegeln und kreieren. Ausgehend davon, dass Hörspiele einen Chronotopos im Sinne Bachtins ausgestalten, betrachtet Schenker die Räume und ihre zeitlichen Ausgestaltungen. Dabei geht sie davon aus, dass Medientexte einen spezifischen wissensbezogenen Kontext aufweisen, in dem sie Wissen ergänzen oder erweitern, vermitteln, veranschaulichen, popularisieren, problematisieren, antizipieren, implizit enthalten oder selbst eine Form von Wissen sind (vgl. S. 41). Auch deshalb stellt sie den Bezug zum Edutainment her, indem sie meint, die Hörspielserien würden gleichzeitig dazu dienen, Wissen zu vermitteln oder zumindest Wissensbestände herausarbeiten und herauslesen zu können. 

Kern der Arbeit stellt Kapitel drei da, in welchem die Hörspielserien in postkolonialen Kontexten analysiert werden. Die Arbeit geht davon aus, dass postkolonialen Kontexten im Hörspiel eine rhizomatische Struktur von transnationalen und auch transmedialen Querverbindungen zu Grunde liege (vgl. S. 67). Dabei nimmt die Arbeit auch kritisch darauf Bezug, dass bis in die 1980er Jahre hinein viele der behandelten Hörspielserien auf westlicher Förderung basieren und damit zumindest implizit eine gewisse Form von Reproduktion kolonialer Machtgefälle aufweisen. Schließlich weitet sich der Blick auch transmedial und nimmt die veränderten Medienwelten und ihren Einfluss auf das Erzählen in den Blick.

Kritik

Unter Bezugnahme auf Spivak geht Schenker davon aus, dass das Paradigma des Trans-identitären den alteritären Essentialismen (S. 21) entgegenwirken solle und damit auch der eurozentrische Fokus überschritten werden könne. Dazu sei es wichtig, im Zuge der transnationalen Betrachtungen auch stets den eigenen Standpunkt als Forschende zu hinterfragen, was die Verfasserin auch immer wieder in überzeugender Weise selbst vorführt (vgl. etwa S. 173). Aufgrund der transnationalen Besonderheiten, die sich ökonomisch, kreativ, rezeptiv und ästhetisch (vgl. S. 20) äußern können, betrachtet Schenker diese unterschiedlichen Felder, indem sie sich die Fördermittel, die Produktionsbedingungen, die Hintergründe der Kulturschaffenden ebenso wie die ästhetischen Eigengesetzlichkeiten anschaut und sich dabei vor allem darauf konzentriert, welche Weltbilder insinuiert werden, welche Hürden der Produktion, aber auch welche Fördermöglichkeiten bestehen. Dabei beziehen sich die Analyen nicht nur auf die 'histoire'-Ebene, sondern auch überzeugender Weise auf den 'discours', auf die jeweils klangliche Ausgestaltung, die Betonung, die Hintergrundmusik oder wiederkehrende Klangelemente, die innerhalb des Hörspieles als Zeichensystem gewertet werden. 

In der Analyse (Kapitel 3) plausibilisiert die Arbeit sehr ausführlich und nachvollziehbar sowohl das implizit eingeschriebene Wissen als auch die explizit ausgestalteten kulturellen Bestände ebenso wie die klanglichen Zusammenhänge. Aufbauend auf der symbolischen Aufladung von Raum und Zeit sowie der Ausgestaltung von Nähe und Distanz gelangt die Arbeit zur zentralen Auseinandersetzung mit den Zeichensystemen Ton sowie Geräuschkulissen und konturiert Referenzen auf zeitliche, ebenso wie zeitlose Klangkulissen (vgl. etwa S. 92). Es ist das große Verdienst der Arbeit, neben einer Beschreibung der Plots auch zu vertieften Darstellungen der ästhetischen Eigengesetzlichkeit von Hörspielen nichtwestlicher Provenienz zu gelangen. Immer wieder hinterfragt die Arbeit dabei den Einfluss westlicher Erzählstrategien und neokolonialer Einflussfaktoren (vgl. S. 93-94) ebenso wie die Auseinandersetzung mit kolonialen Verletzungen (vgl. S. 97). Engagiert entfaltet sich die Darstellung, der zufolge die Hörspiele friktionale Hörangebote konstituieren und damit Denkorientierungs- und Handlungsmöglichkeiten in die Fiktion einschreiben (vgl. S. 105). Besonders hervorzuheben ist, dass die Verfasserin über ein sehr profundes Wissen und eine sehr vertiefte Kenntnis über die beiden Hörspielserien verfügt, die sie jeweils an nachvollziehbaren Ankerbeispielen plausibilisierend vorführt und arrondierend um weitere Erkenntnisse zu der Serie ergänzt. Dadurch gelangt sie zu ausführlichen Nachweisen diverser episodaler Eindrücke und kann eine echte Narratologie der Serien erstellen, indem sie Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten konturiert (vgl. etwa S. 145). 

Auf dieser Basis kann Schenker auch zu einer Beobachtung der spezifischen Auseinandersetzung mit problematischen Strukturen und innerdiegetischer Kritik gelangen. So arbeitet sie am Beispiel der wiederholten Darstellung ehelicher Gewalt heraus, wie Echoes of Change einen Reflexionsbedarf impliziert (vgl. S. 146). Hier wäre eine Anschlussfähigkeit zur in der KJL-Forschung seit einiger Zeit betriebenen Auseinandersetzung mit der ‚Theorie der Störung‘ (vgl. zusammenfassend dazu Gansel 2022) gegeben, um so diegetische Repair-Prozesse noch konziser fassen zu können. 

Besonders hervorzuheben sind die intermodalen Widersprüche, die Schenker sehr überzeugend und konzis erarbeitet. Beispielsweise kann sie nachweisen, dass Spannungen konstituiert und erzeugt werden, „wenn Stimmen, die in der Serie eigentlich negativ-besetzte Inhalte transportieren, extradiegetisch eine gegensätzliche Meinung vertreten und damit selbstanalytisches Nachdenken über die eigene Entwicklungsfähigkeit durch das Verlassen von Rollen suggerieren“ (S. 153). Dass also negativ besetzte Figuren im Abspann oder Vorspann eine selbstdistanzierende Haltung einnehmen, regt wiederum metareflexiv zu einer Hinterfragung des eigenen Standpunktes an und bietet damit genau die Möglichkeit dieser friktionalen Rezeption. 

Das Kapitel, so lässt sich festhalten, stellt in beeindruckender Weise dar, dass in den beiden betrachteten postkolonialen Hörspielserien diverse Wissensbestände explizit und implizit eingeschrieben sind, wobei immer wieder die jeweiligen Einflussfaktoren der Fördermittel der Produktion und der systematisch angelegten Gegenüberstellungen der ästhetischen Ebene hervorzuheben sind. Zum Teil wäre möglicherweise anzudenken, die unterschiedlichen Ebenen, die Schenker sprachlich grundsätzlich außerordentlich klar kennzeichnet, auch strukturell noch stärker zu berücksichtigen und beispielsweise die jeweiligen Beobachtungen noch einmal mit Unterpunkten wie Produktions-, Rezeptions-, und ästhetische Ebene sowie eingeschriebene implizite Wissens- und Wertungsbestände zu beleuchten, um damit noch eine klarere Leitung durch die höchst anschlussfähigen Ergebnisse zu haben.

Das vierte Kapitel weitet den Blick auf die transmediale Dimension und betrachtet die Serien You Me… Now! (2010-2012) aus Neuseeland und Shuga: Love, Sex, Money (Sendedaten nicht rekonstruierbar, vgl. Schenker S. 162) aus Subsahara-Afrika. Im Mittelpunkt steht hierbei die Ausgangsüberlegung, dass mediale Veränderungen wie VLOGs oder Internetstreaming ihrerseits auch veränderte Produktionsweisen, Erzählstrategien und metamediale Besonderheiten in sich bergen. Die materialreichen Betrachtungen werden zum Teil sehr komplex, da transmediale und transkulturelle Phänomene zugleich verhandelt und aufeinander bezogen werden. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob paramediale Inszenierungsstrategien wie das Vlogging oder das aktivierende Erzählen nicht in einem ersten Schritt gerne noch deutlicher komparatistisch hätten erfasst werden können, um sicherzugehen, welche der Beobachtungen transkulturell sind und welche sich auf die transmediale Perspektive unabhängig von der Kulturperspektive zurückführen lassen. Diese kleine Anmerkung soll aber auf keinen Fall das herausragende Verdienst der vorgelegten Arbeit in ihrer profunden Argumentation schmälern, sondern gerade die Anschlussfähigkeiten konturieren.

Fazit

Ina Schenker betritt mit ihrer Monografie Neuland und erarbeitet auf innovative, standpunktreflexive, machthinterfragende und kultursensible Art und Weise die bisher zu Unrecht vernachlässigte transkulturelle Perspektive auf Hörspielserien aus Ozeanien und Subsahara-Afrika. Das Wagnis, als europäische Wissenschaftlerin die Spezifik der Hörspielserien aus der Außenperspektive zu erfassen, meistert Schenker eindrucksvoll und legt das Fundament für eine dringend nötige Ausweitung des Hörspieldiskurses. Der Band kommt genau im richtigen Augenblick und wird sicher zu einem neuen Blick auf Hörkulturen und Hörmedien beitragen. Die Ergebnisse sind für die Medienwissenschaft ebenso relevant wie anschlussfähig und sollten auch dringend in der Didaktik zur Kenntnis genommen werden. 

Literaturverzeichnis

Gansel, Carsten: Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien – Aspekte einer Theorie der Störung. In: Kinder- und Jugendliteratur heute. Hrsg. von Carsten Gansel, Anna Kaufmann, Monika Hernik und Ewelina Kamińska-Osswska. Göttingen: V&R unipress, 2022. S. 173-188.

Klangwelten für Kinder und Jugendliche. Hörmedien in ästhetischer, didaktischer und historischer Perspektive. Hrsg. von Petra Josting und Matthias Preis. München: kopaed, 2021 (= kjl&m 21.extra).

Gehörte Geschichten. Phänomene des Auditiven. Hrsg. von Nils Lehnert, Ina Schenker und Andreas Wicke. Berlin: de Gruyter, 2022.

Titel: Auditives Erzählen. Dem Leben lauschen: Hörspielserien aus transnationaler und transmedialer Perspektive
Autor/-in:
  • Name: Schenker, Ina
Erscheinungsort: Bielefeld
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: transcript
ISBN-13: 978-3-8376-5860-6
Seitenzahl: 254
Preis: 45
Schenker, Ina: Auditives Erzählen. Dem Leben lauschen: Hörspielserien aus transnationaler und transmedialer Perspektive