Inhalt
Der Sammelband mit dem programmatischen und weit gefassten Titel Kinder- und Jugendliteratur heute gliedert sich in vier Teile: Zunächst geht es im ersten Teil „um theoretische Überlegungen, die in Verbindung mit Entwicklungen in der KJL stehen. Angesprochen sind literaturgeschichtliche Tendenzen nach 1968, Fragen zu Adaptionsstrategien, zur Kanonbildung und zur Wertung von kinderliterarischen Texten“ (S. 12), so akzentuieren es die Herausgeber*innen in der Einleitung.
Im zweiten Teil steht die Beschäftigung mit aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten und Tendenzen im Zentrum. Anschließend verhandelt der dritte Teil praktische Fragen der Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur. Hier finden sich zwei Interviews: ein von der Literaturkritikerin Roswitha Budeus-Budde mit der Verlegerin und Herausgeberin Sybil Gräfin Schönfeldt geführtes und ein Gespräch zwischen Carsten Gansel und Roswitha Budeus-Budde.
Der vierte Teil versammelt Beiträge zu Ehren von Prof. Dr. Benno Pubanz, einer der wenigen Kinder- und Jugendliteraturforschenden der DDR, der zudem „Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 12-13) fokussierte.
So umfasst der Band in Gänze 521 Seiten...
Kritik
...und ist in dieser Fülle und Breite außerordentlich lesenswert, wenngleich die Zusammenstellung der Beiträge und die Auswahl der untersuchten Primärtexte in Teilen etwas willkürlich erscheint (was freilich bei einem Sammelband keine Ausnahmeerscheinung, sondern eher die Regel ist). Diese tendenzielle Willkür tilgt sich zuweilen durch den Bezug auf die von Carsten Gansel begründete Theorie der Störung, wobei diesen nicht alle (aber doch ein Großteil der) Artikel aufnehmen. Ebendiese Theorie legt Gansel in seinem Basisbeitrag erneut anschaulich dar, indem er sie auf die historische Genese von Allgemein- und Kinder- und Jugendliteratur sowie ihrer Zusammenführung in sogenannten All-Age-Texten anwendet. Er stellt heraus, dass es bei Letzteren nicht um den discours geht, denn als „All-Age-Literatur können Texte bezeichnet werden, die die Grenzen des KJL-Systems hin zum allgemeinliterarischen System überschreiten und vor allem durch die Handlungen in den Bereichen Distribution, also die Tätigkeiten von Verlegern, Lektoren, Kritikern, in beiden Systemen einen Platz erhalten“ (S. 21). Mit Blick auf diese Distributionsprozesse sieht Gansel in den letzten Jahren realistische Texte auf dem Vormarsch und verzeichnet mit der Zunahme des Realismus auch einen Anstieg an politischen Themen. Vor dem Hintergrund des nachfolgenden Beitrags zur historischen Rekonstruktion formuliert Gansel folgende These:
„In der Literatur vor allem ab 1800 ging es darum, eine ‚Sprache empathischer Rekonstruktion‘ von Adoleszenz überhaupt erst zu finden. Nach den phantastischen Novellen in der Romantik nahm dann sukzessive der Realismuseffekt zu, was dazu führte, dass die kulturelle Präfiguration in eine literarische Konfiguration, mithin in ein literarisches Gebilde, überführt wurde. Die Schulromane um 1900 leben von diesem Realismuseffekt – mit entsprechenden Folgen für die Refiguration durch die Leser. Einige der hochgelobten Texte nach 2000 gehen einen anderen Weg, sie verlängern in der Wirklichkeit angelegte Tendenzen im Medium der Literatur, um zu provozieren und aufzustören. Insofern handelt es sich weniger um ‚empathische Konstruktionen von Wirklichkeit denn um deren ‚Ästhetisierung‘“. (S. 23)
Auf diese Zentralsetzung des Prinzips 'Aufstörung' als eine Facette von Störung beziehen sich viele nachfolgende Beiträge des Sammelbands. So erläutert Cornelius Herz in seinem Artikel die Grenzen des Erziehungssystems in der Kinder- und Jugendliteratur und fragt, inwiefern diese mehr als didaktisches Vehikel denn als ernstzunehmende Texte wahrgenommen werden. Anschließend diskutiert Thomas Boyken mediale Konventionsbrüche und stellt narratologische und poetologische Überlegungen an einem narratologischen Desiderat dar: den buchmedialen Repräsentationen, die ihr Erscheinungsbild an die typographische Gestaltung eines Romans binden. Er versucht sich an einer Re-Formulierung der klassischen Konzepte des showing und telling, indem er – am Beispiel von Otfried Preußlers Räuber Hotzenplotz (1962), aber auch mit Blick auf neuere Kinderromane wie Die beste Bahn meines Lebens (2019) von Anne Becker – zeigt, dass eine „poetologische Erweiterung“ (S. 73) im Sinne eines narratologischen und poetologischen Problemaufrisses anzustreben ist, wenn sich Texte an der Grenze von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegen. Dem französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette „unterlaufen“, so Boyken, „zwei Ungenauigkeiten: (i): Er setzt Sprache mit Schrift gleich und (ii) behauptet, dass Narrationen ausschließlich sprachlicher Natur seien“ (S. 73). Dies zeigt er eindrucksvoll am Beispiel von Preußlers Poetik und rekonstruiert den dortigen Moduswechsel vom telling zum showing, der sowohl mit Typographie als auch mit Illustration korrespondiert beziehungsweise „typographische und gestalterische Darstellungsform […] erzählerisch funktionalisiert“ (S. 75). Dies geschehe auch in neueren Medienkombinationen integrierenden Jugendromanen wie Anne Freytags Nicht weg und nicht da (2016), den Boyken hier ebenfalls im Blick hat.
Es folgt ein Beitrag von Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim zu ihrem bereits vielfach diskutierten Konzept der Auralität in Dennis Gansels filmischen Jim Knopf-Adaptionen (2018-2020). Diese kennzeichnen sie hier überzeugend als retroromantische Inszenierungen, wenn sie konstatieren, dass die „Ästhetik beider Filme auf Verwertbarkeit im Verbundsystem ausgerichtet“ (S. 91) ist. Denn: „Adaptiert werden durch intermediale Verweisketten nicht nur lediglich Endes Romane“, sondern „auch narratoästhetische Merkmale des Medien- und Produktverbunds“ (ebd.). Darin sehen Kurwinkel und Schmerheim „das kindheitsnostalgische, retroromantische Potenzial selbstreferenzieller, gleichsam auf ihr eigenes Verbundarchiv deutender Verweisstrukturen: Erwachsene rezipieren auch die Erinnerung an die eigene Medienkindheit“ (ebd.). Das zeigen die Verfasser in ihrem Beitrag eindrücklich durch Rekurs auf die populären Inszenierungen der Augsburger Puppenkiste von Endes Klassiker. Mitsamt ihrer Titelmelodie beziehungsweise des Lummerlandlieds und des Meers aus Frischhaltefolie haben sich diese in das kinderkulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Es sind diese Erinnerungen an die Kindheitsnostalgie der Eltern und Großeltern, die im Sinne des 'Family Entertainments' in die Kinos ziehen.
Es folgen Überlegungen von Martin Blawid zu prophetischen Träumen als All-Age-Trend in der phantastischen englischsprachigen Literatur. Eva Rünker blickt auf populäre Frühmittelalter-Romane als Indikator gesellschaftlicher Trends und Marlene Zöhrer auf ökologische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche, deren Appellstruktur sich der Autorin zufolge (und ein Blick auf die Titel bestätigt diesen Befund) bereits in Titeln und Klappentexten spiegelt. Schließlich untersucht Jeanette van Laak die Kinderbuchillustrationen Lea Grundigs.
Allein diese flüchtige Zusammenschau (die Autor*innen mögen mir diese verzeihen, eine Einzelwürdigung der lesenswerten Beiträge würde den begrenzten Rahmen einer Online-Rezension sprengen) zeigt die Breite der Ansätze, die diesen Sammelband prägen, während die Auswahlkriterien für die einzelnen Schwerpunktsetzungen insgesamt eher unscharf bleiben. Diesen ersten Teil beschließt ein zweiter Artikel von Carsten Gansel, in dem er die Aspekte seiner Theorie der Störung noch einmal basal darlegt, die er als „ein wesentliches Mittel, um gesellschaftliche Wandlungsprozesse anzuregen“ (S. 177) kennzeichnet und somit zu der sich auch auf Distributionsprozesse beziehenden These kommt: „Wer beim Erzählen der Geschichten die zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Normen überschreitet oder verletzt, kann mit Aufmerksamkeit rechnen“ (S. 185).
Ein Großteil der Texte, die im zweiten Teil des Bandes im Zentrum stehen, dürfte diese Aufmerksamkeit zuteilgeworden sein. Ganz klar gilt das für die Jugendromane Ursula Poznanskis (Beitrag von Ewa Hendryk), Lena Goreliks Roman Mehr Schwarz als Lila (2017) (gleich in zwei Artikeln analysiert von Anna Kaufmann und Joanna Sumbor), Stefanie de Velascos Tigermilch (2013) (Sonja E. Klocke) und Elisabeth Steinkellners Papierklavier (2020) (Monika Hernik). Darüber hinaus liest Petra Josting den Roman der Augsburger Puppenkiste Herzfaden (2020) von Thomas Hettche als eine „Geschichte der Störungen und Erlösungen“ (S. 191), Nicola König widmet sich dem „Fehlen des Didaktischen und damit der altersübergreifenden Adressierung“ in „der Präsenz des Komischen“ (S. 282) in Manja Präkels Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß (2017) und José Fernández Pérez sieht bei der Analyse der Darstellung von Flucht und Migration in den Bilderbüchern Die Flucht (2016) von Francesca Sanna und Migrar. Weggehen (2011) die Gefahr, dass die Texte nicht als ästhetisches Phänomen mit ihrem kennzeichnenden Charakteristikum der Mehrdeutigkeit wahrgenommen, sondern politisch-pädagogisch vereinnahmt werden (S. 310). Ewelina Kamińska-Ossowska betrachtet Störungen in der Adoleszenz in Lilly Axters Die Stadt war nie wach (2017) und akzentuiert, dass gewisse Themen „seit den 1990er Jahren in der KJL kein Tabu mehr sind: adoleszente Identitätskrisen, Gewalt, Sexualität und sexuellen Missbrauch und weibliche Homosexualität“ (S. 211). Anna Braun ordnet Que Du Luus Roman Im Jahr des Affen (2016) „als psychologische, komische und problemorientierte All-Age-Literatur“ (S. 324) ein, der „verschiedene Lesarten für jugendliche und erwachsene LeserInnen ermöglicht“ (ebd.). Jana Mikota rückt mit Christina Duda und Martina Wildner zwei Autor*innen ins Zentrum, die „stellvertretend für eine Autor*innengeneration nach 2000“ (S. 339) stehen, „die einerseits von komplexen Themen erzählt, andererseits Spannung und Komik nutzt und sich somit vom problemorientierten Kinderroman der 1970er Jahre abhebt“ (ebd.), was sie unter Rekurs auf die Kritik von Ewers, die Kinderliteratur der 1970er Jahre lege „bestimmte Unterhaltungsfunktionen“ (S. 327) profunde, ausschärft.
Hadassah Stichnothe befasst sich mit Julya Rabinowichs viel diskutiertem Roman Dazwischen ich (2016) und sieht hier eine „Poetik der Universalisierung“, denn „die Spiegelung möglichst vieler Erfahrungen in einer beispielhaften Erzählung könne durch ihren hohen Abstraktionsgrad auch leicht zu einer simplifizierenden Geschichts- oder Gegenwartsbetrachtung führen“ (S. 359), so Stichnothe kritisch.
Caroline Roeder entwirft eine Topographie der Arbeit in von Kindheit und Jugend erzählenden Herkunftsgeschichten und Michael Stierstorfer betrachtet „(un-)gleiche Machtverhältnisse in der aktuellen Dystopie-Welle“ (S. 429).
In latent irritierender Weise sticht der Beitrag von Paulina Cioroch hervor, die die heilende Kraft der Märchen beim Lesen von therapeutischen Märchen zum Coronavirus herausstellen will. Sie legt offensichtlich stark belehrende Texte aus, die Kinder zum richtigen Umgang mit dem Coronavirus und den Hygieneregeln anleiten und spricht diesen die Moralisierung ab, was wenig nachvollziehbar erscheint.
Die eher praktisch angelegten Buchteile, welche Interviews mit Roswitha Budeus-Budde und Sybil Gräfin Schönfeldt präsentieren und schließlich das Engagement des in der ehemaligen DDR agierenden Benno Pubanz ehren, sind außerordentlich erhellend und kurzweilig zu lesen. Es hallt der Appell der bekannten Literaturkritikerin Budeus-Budde nach, man müsse die Texte alle lesen, lesen, lesen! Das bestärkt die begeisterte Lesefreude: Kinder- und Jugendliteratur heute und überall und ganz viel!
Fazit
Der Band ist ein wahres Monument und Kompendium, das einen breiten Ausschnitt aktueller Kinder- und Jugendliteraturforschung präsentiert und trotzdem zwangsläufig auf eine kleine (zum Teil willkürliche) Auswahl reduziert bleibt und den Blick der Leser*innen auf aktuelle Forschungsdiskurse und (vielfach aufstörende) Texte weitet. In seiner Fülle ist er lesens- und empfehlenswert und liefert weitreichende und vielfältige Einblicke in zahlreiche Felder, so dass sie sich in einer Rezension kaum abbilden ließen. Nicht zuletzt animiert er zum Lesen der Kinder- und Jugendliteratur von heute. Mit Budeus-Budde gesprochen: Du musst die Texte lesen! Dass sie dies konnte, führt sie im Interview mit Carsten Gansel augenzwinkernd auf die finanzielle Sicherheit zurück, die ihr durch ihren Ehemann zuteilwurde. Aber so muss es ja nicht zwangsläufig sein. Man kann auch ohne einen solchen lesen, lesen und nochmals lesen, voller Retroromantik und mit Blick auf Aufstörungen, Buchhaftigkeit und Typographie, um nur einige der Aspekte herauszunehmen, auf die die Beiträger*innen dieses Bandes abheben.
- Name: Carsten Gansel
- Name: Anna Kaufmann
- Name: Monika Hernik
- Name: Ewelina Kamińska-Ossowska