Inhalt
Die Herausgeberinnen setzen in der Einleitung zum Sammelband den Fokus auf „kindliche und jugendliche Figuren einerseits und andererseits ‚alte‘ Figuren, die in Rollen von (Ur-)Großeltern agieren […]. Denn alte Menschen haben in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur Konjunktur“ (S. 10). Diesem Ansinnen verpflichtet teilt sich der Sammelband in drei Teile: Abschnitt A widmet sich den intergenerationellen Begegnungen im Bilderbuch, der fünf Beiträge versammelt (Dichtl/Hoppe, Jagdschian, Ingermann/Rettmann, Dube/Schröder, Naugk/Ritter). Es folgen drei Artikel zum Kinderbuch (Abschnitt B: John-Wenndorf/Zielinski, Jürgens, Mikota) und nochmals fünf Beiträge, die sich mit Jugendbuch- und film beschäftigen (Henning-Mohr/Mikota, Drogi, Depner, Sudermann, Höch).
Die Foki der einzelnen Beiträge divergieren hierbei der Typik eines Sammelbandes entsprechend stark und bieten sowohl Einzelanalysen (z. B. Lisa Ingermann und Maike Rettmann zu Sonja Bougaevas Wie Frau B. so böse wurde (2014), Simone Depner zu Stolpertage von Josefine Sonneson (2022) oder Andy Sudermann zu Michael Siebens Ponderosa (2016)) als auch Überblicksartikel zu Themen- und Motivkomplexen. Zu letzterem liefern Juliane Dube und Brigitta Schröder beispielsweise eine diachrone Korpusanalyse zu intergenerationellen Begegnungen in Bilderbüchern und Larissa Carolin Jagdschian untersucht postmemoriale Erinnerungsprozesse in aktuellen Bilderbüchern ab 2015. Jana Mikota betrachtet Großelternfiguren in Kinderkriminalromanen und wirft zusammen mit Astrid Henning-Mohr zudem einen Blick auf den abgebrochenen Dialog zwischen den Generationen in Kinderromanen der Weimarer Republik und Post-DDR-Jugendromanen. Des Weiteren widmet sich Susanne Drogi intergenerationellen Freundschaften zwischen Kindern und alten Figuren, die nicht die Großeltern sind, in aktuellen Kinder- und Jugendromanen.
Kritik
Die Heterogenität der Beiträge scheint bereits in der Inhaltsangabe auf, welche der Genese eines auf einen Call for papers zurückgehenden Sammelbands geschuldet ist. Diese entbehren so gut wie immer einer Systematik, weisen aber die Stärke eines vielstimmigen Blicks auf das gewählte Thema auf. Der Rahmen für die Artikel wird in der Einleitung der Herausgeberinnen gesetzt, welche den Fokus auf die Identitätskategorie ‚Alter‘ narratologisch konturieren und diese mit einem Zitat von Julia Benner und Annika Uhlmann als zentralen Aspekt der Kinder- und Jugendliteratur fassen: „Wer sich mit Kinderliteratur aus wissenschaftlicher Perspektive befasst, kommt nicht umhin, über age nachzudenken“ (S. 9).
Den Auftakt in der Kategorie „Bilderbuch“ machen Eva-Maria Dichtl und Henriette Hoppe mit einer Analyse der Inszenierung intergenerationeller Begegnungen in Antje Damms Bilderbüchern (Der Besuch(2015), Die Wette (2021), Der Wunsch (2022)) „mit Fokus auf die bild- und verbalsprachliche Darstellung und deren intermodales Verhältnis“ (S. 26). Nachfolgend nimmt Larissa Carolin Jagdschian eine erinnerungskulturelle Perspektive ein, indem sie Bilderbücher untersucht, welche die Verfolgung im Dritten Reich thematisieren: Diese „inszenieren postmemoriale Formen im intergenerationellen Dialog zwischen Zeitzeug*innen und nachfolgenden Generationen“ (S. 50), so Jagdschian im Ergebnis. Und: „Intergenerationelle Bilderbücher stellen im Text-Bild-Verhältnis die tradierten Erinnerungsfiguren zur Disposition, die sich seit 1945 in den Kinder- und Jugendromanen ausgebildet haben und die bis heute an die kindlichen Rezipient*innen vermittelt werden“ (S. 57).
Besonders zwei Beiträge sind im Abschnitt über das Bilderbuch erhellend und auch aus didaktischer Perspektive gewinnbringend . Zum einen widmen sich Juliane Dube und Brigitta Schröder Großelternfiguren mit Demenz: „Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Analyse von zehn Bilderbüchern der letzten 25 Jahre, in denen intergenerationelle Beziehungen zu Menschen mit Demenz beschrieben werden“ (S. 79). Vor allem die Breite der Anlage überzeugt, die das Ergebnis zutage fördert, dass den überwiegend weiblichen Figuren in vielen Erzählungen eine Enkelin gegenübersteht:
Erst in den jüngeren Ausgaben ab 2015 wird vermehrt auch das Zusammenleben mit männlichen Betroffenen bzw. Enkeln geschildert (...) Demnach sind es überwiegend Frauen, welche sowohl die Aufklärungs- als auch Pflegefunktionen übernehmen. Väter sind bis auf zwei Ausnahmen kaum präsent, auch nicht auf Bildebene (S. 84).
Hierbei handelt es sich um einen zentralen Befund für weiterführende Forschungen zum Thema, zumal die Autorinnen festhalten können, dass Stereotype in Bezug auf Demenz nicht hinreichend aufgearbeitet werden (vgl. S. 91).
Zum anderen ist der Beitrag von Nadine Naugk und Alexandra Ritter hervorzuheben. Sie haben sich mit dem Umgang von Grundschulkindern mit dem Bilderbuch Wie anders ist alt? von Bettina Obrecht und Julie Völk (2022) beschäftigt. In ihrem Setting verknüpfen sie didaktische Ansätze wie das Philosophieren mit Kindern, das literarische Bilderbuchgespräch und den Handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht miteinander. Exemplarisch veranschaulichen Naugk/Ritter „konkrete Gedanken und Arbeitsergebnisse von Kindern der ersten bis sechsten Klasse zum Thema Alter(n) am o.g. Bilderbuch von Obrecht und Völk“ (S. 98) und zeigen so einmal mehr: „Anspruchsvolle Bilderbücher können neue Impulse für das philosophische Gespräch und Denken setzen“ (S. 101). Dies belegen vor allem die eindrucksvollen Kindertexte, die die Autorinnen in ihrem Beitrag präsentieren können.
Der Abschnitt B zum Kinderbuch beginnt mit einem sehr schönen und rundumfassenden Überblick zur Analyse von Großeltern und Enkel*innen in der Kinderliteratur seit den 2000er Jahren, den Carolin John-Wenndorf und Sascha Zielinski vornehmen. Fragen des Beitrags sind: „Aus welchen Elementen wird das symbolsystemische Muster der Großelternfigur literarästhetisch zusammengesetzt? Wie entsteht narrativ die forschungshypothetisch angenommene Konstellation der Verbündeten zwischen Großelternteil und Enkelkind? Und welches emanzipatorische Potenzial steckt in diesem Narrativ?“ (S. 118). In den Blick nehmen sie unter anderem die Graphic Novel Manno! Alles genauso in echt passiert von Anke Kuhl (2020) oder Der Tag, an dem Opa den Wasserkocher auf den Herd gestellt hat von Marc-Uwe Kling und Astrid Henn (2020). Auf der Basis einer erzähltheoretisch überzeugenden Anlage können John-Wenndorf und Zielinski konstatieren: „Die literarisch gestaltete Komplizenschaft zwischen Großelternfiguren und Enkelkindfigur erwächst aus einer stillen Opposition zu gesellschaftlichen Ansprüchen sowie Distanznahme zu Erwartungen und Normierungen“ (S. 131). Als stabilisierende Faktoren für die Großeltern-Kind-Beziehungen stellen sich gemeinsame Zeit, Erzählen und Zuhören, Spiel, Fantasie, das Aufzeigen der Fehlbarkeit der Eltern und Empathie heraus. An dieses umfassende Ergebnis schließen sich die Beiträge von Vera Jürgens zum Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod im Kinderbuch sowie Jana Mikotas Untersuchung von alten Figuren in Detektivromanen für Kinder an, in denen sie zeigt, dass Großelternfiguren „mit tradierten Vorstellungen brechen und nicht nur auf das Älterwerden reduziert werden“ (S. 155).
Im letzten Abschnitt des Sammelbandes, der sich mit intergenerationellen Begegnungen in Jugendbuch und -film befasst, überzeugt vor allem Simone Depners ausgesprochen feinsinnige Analyse von Josefine Sonnesons Jugendroman Stolpertage (2022), die herausarbeitet, „wie die stärker nach innen gerichtete Tendenz der Selbstfindung mit den häufig unvorhergesehenen Ereignissen des, nicht nur familiären, Umfeldes im Äußeren gestaltet wird und inwiefern die Beziehung zu der übernächsten Generation den Reifeprozess beeinflussen kann“ (S. 214).
Indem Susanne Drogi einen Blick auf intergenerationelle Freundschaften an aktuellen Kinder- und Jugendromanen wirft, stehen dann auch solche Texte im Fokus, in denen es nicht nur um Großeltern geht (so auch bei Mikota und Henning-Mohr/Mikota), zum Beispiel Sarah Crossans Toffee (2023) oder Dita Zipfels preisgekrönter Roman Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte (2019). Eine erweiternde Perspektive auf intergenerationelle Beziehungen wird durch Astrid Henning-Mohr und Jana Mikota eingenommen, die „die Auflösung der intergenerationellen Verbindung in der Erinnerung an den Deutschen Faschismus von 1933-1945 und in den Post-Wende-Jugendromanen der 2000er Jahre“ (S. 176) fokussieren. Hier kommen zeithistorische Texte in den Fokus, was ebenso im Beitrag von Kristina Höch der Fall ist, die intergenerationelle Beziehungen in den Literaturverfilmungen Die Bücherdiebin (2013), Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (2019) und Der Junge im gestreiften Pyjama (2008) untersucht.
Fazit
Die Heterogenität der versammelten Artikel ermöglicht den Leser*innen des Bandes einen umfassenden Einblick in viele Facetten der Begegnungen von Jung und Alt in der Kinder- und Jugendliteratur und eröffnet zahlreiche Anschlussstellen für weiterführende Forschungen. Das gilt vor allem für literaturdidaktische und unterrichtspraktische Perspektiven, von denen man sich in diesem insgesamt sehr lesenswerten Sammelband etwas mehr gewünscht hätte. Einzelne Beiträge (Naugk/Ritter, Drogi) verweisen bereits auf das didaktische Potenzial, das die Kategorie age für das literarische Lernen birgt.
- Name: Susanne Drogi
- Name: Nadine Naugk