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Die Geschichte ist bekannt: Meister Gepetto schnitzt sich eine Holzpuppe, die lebendig wird, in die Welt zieht und Abenteuer erlebt. Immer wieder verlässt Pinocchio den Weg, den er gerade eingeschlagen hat, und lässt sich von den unterschiedlichsten Vergnügungen verführen. So landet er statt in der Schule im Puppentheater oder im Spielzeugland. Regelmäßig wird er auch von Fuchs und Kater übers Ohr gehauen, und wenn er lügt, wächst seine Nase. Schließlich landet er im Bauch eines Fisches, wo er endlich seinen Vater wieder trifft. Den beiden gelingt die Flucht und Pinocchio wird am Schluss ein richtiger Junge. Um diese Abenteuer geht es in Pinocchio, zumindest in dem 1883 erschienenen Roman Carlo Collodis, …

Kritik

… aber auch die Rezeptionsgeschichte des Romans ist abenteuerlich: Neben dem großen Erfolg der Disney-Verfilmung (Regie: Hamilton Luske und Ben Sharpsteen, 1940) darf Pinocchio seine Rolle an der Seite von Schauspiel-Größen wie Gina Lollobrigida (Regie: Luigi Comencini, 1972) oder Mario Adorf (Regie: Anna Justice, 2013) spielen. Doch während die Pinocchio-Figur begeistert, befremdet Collodis Romanschluss, der den hölzernen Helden zwar zu einem richtigen, aber auch zu einem braven Jungen mutieren lässt. "Was hatte ich denn da vor mir?", fragt Christine Nöstlinger 1988 in Die Zeit, als sie den Text übersetzen soll:

Einen Eintopf aus Märchen- und Fabelelementen, Erziehungsroman, Zeitsatire, Morallehre, toskanischer Folklore und oberlehrerhafter Sittenpredigt. Penetrante Tugend, unentwegt in Dialogen abgehandelt, die zu unerträglichen Monologen ausarten, in denen der kleine Holzkerl demütig reuige Gewissensbisse kundtut.

Während Nöstlinger kurzerhand eine eigene Fassung mit dem Titel Der Neue Pinocchio (1988) schreibt, versucht Luigi Malerba einen intertextuellen Ausweg zu finden, um Pinocchio vor dem Schluss Collodis zu bewahren. Der gestiefelte Pinocchio (1977) versucht immer wieder, aus seinem literarisch vorgeschriebenen Weg auszubrechen und in diverse Märchen auszuweichen, ohne Erfolg:

Zwei berittene Wachen beförderten ihn im Galopp retour ins sechsunddreißigste Kapitel, genau an die Stelle, von wo er ausgebüxt war. Es dauerte Jahre, das Märchen vom gestiefelten Kater wieder in Ordnung zu bringen, und heute noch kommt es alle naselang zu Verwirrungen (Malerba 2001).

Im Bereich der deutschsprachigen Hörmedien wurde der Roman beispielsweise von Stefan Kaminski (Oetinger 2011) und Rosemarie Fendel (cbj 2013) eingelesen, aktuell sind außerdem zwei sehr unterschiedliche Hörspiele auf dem Markt: das Orchesterhörspiel mit den Kompositionen von Henrik Albrecht und unter der Regie sowie in der Bearbeitung von Robert Schoen wurde 2006 vom SWR produziert und im gleichen Jahr bei Headroom Sound Production verlegt, einen Pinocchio nach den Geschichten Carlo Collodis von Thilo Reffert hat Deutschlandradio Kultur 2014 hervorgebracht, als CD ist die Produktion 2018 im Hörverlag erschienen.

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"Ich bin ein Holzwurm" (Reffert I/00:18), lässt Reffert eine Erzählerfigur beginnen, die es bei Collodi gar nicht gibt und die das Geschehen aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet – schließlich haust der Holzwurm in Pinocchios Ohr. Hinzu kommt eine Fee, die bei Collodi erst im zweiten Teil an Bedeutung gewinnt, die bei Reffert das Geschehen jedoch von Anfang an maßgeblich mitgestaltet. Allerdings ist sie, wie sie selbst zugibt, eine schlechte Fee: "Die schlechteste der ganzen Schule. Ich bin zweimal durch die Fee-igkeitsprüfung gefallen" (Reffert VIII/01:51).

Zwar lässt Refferts Hörspiel Pinocchio die bekannten Stationen vom Puppentheater über das Wunderfeld bis in den Walfischbauch durchlaufen und er wird auch hier von Fuchs und Kater übertölpelt, viel wichtiger ist jedoch, dass sich am Schluss alle vermeintlichen Versagerinnen und Versager und Außenseiterinnen und Außenseiter zu einem familienähnlichen Gebilde zusammenfinden – auch wenn sie Angst haben, im Dorf könnte gelästert werden:

Geppetto: Guck uns doch an: Ein alter Zausel, eine gescheiterte Fee und eine Holzpuppe, die spricht!
Pinocchio: Ja, normal ist anders.
Fee: Nein, anders ist normal!
Geppetto: Sind wir eben schräg. Normal schräg.
Pinocchio: Wie auch immer, Hauptsache Familie.
(Reffert XIX/03:07)

Was kommt nach der Familie?, fragt die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim im Titel einer Studie und antwortet zunächst: "Die Grenzen werden unscharf, die Definitionen schwanken. Die Verunsicherung wächst" (Beck-Gernsheim 2010, 18). Für das, was sie dann als 'postfamiliale Familie' bezeichnet, ist die Gruppierung am Ende von Refferts Hörspiel ein anschauliches Beispiel. Und dass Pinocchio für diese 'normal-schräge' Familienform die nötigen Kernkompetenzen besitzt, bescheinigt ihm der erzählende Holzwurm: Er sei "einer der besten Schüler, aufmerksam, fleißig, selbstständig, kreativ und teamfähig" (Reffert XIV/01:56). Klar, dass in dieser neuen Welt das pinocchioeske Ammenmärchen von der Nase, die beim Lügen wächst, lediglich Symbolcharakter hat: "Es ist nur eine Redensart" (Reffert XIV/01:15), erläutert die Fee.

Refferts Pinocchio hat dementsprechend auch ganz andere Vorbilder: "Mein Name ist Occhio. Pin Occhio" (Reffert IV/01:27). Diese und viele weitere Anspielungen aus der populärkulturellen Welt der Erwachsenen sind umso witziger, als Leo Knižka, der Sprecher des Pinocchio, enorm jung wirkt – und es mit seinen 8 Jahren durchaus auch ist. Insgesamt ist das Ensemble mit Ulrich Noethen als Gepetto und Jens Wawrczeck als Holzwurm prominent besetzt, und Mandy Rudski als Fee Franka setzt dazu einen herrlich bratzigen Null-Bock-Kontrapunkt. Aber auch ganz einfache studiotechnische Tricks führen dazu, dass ohne großen Effektzauber dennoch illustre Klangräume entstehen: Der sprechende Wal wird, so hätte man zumindest früher gesagt, mit halber Geschwindigkeit abgespielt und bei Dialogen im Walfischbauch wird ordentlich Hall beigemischt.

Der Perspektivwechsel vom auktorialen Erzähler Collodis zum erzählenden Holzwurm Refferts ist in diesem Hörspiel mehr als eine Petitesse. "Aber schließlich tat er, was alle Kinder tun, die keinen Funken Verstand und kein Herz haben" (Collodi 2008, 75), so kommentiert der Erzähler in Collodis Roman die Handlung. Und wenn Pinocchio lügt, lernt man, dass die Lüge "die schlimmste Unart" sei, "die ein Junge haben kann" (ebd., 71f.). Ein Holzwurm hingegen taugt nicht als moralisierende Instanz. Er ist – im Gegenteil – selbst eine Außenseiterfigur, die sich gegen heftige Vorbehalte behaupten muss. "Immer wenn die Menschen mich entdecken", bekennt er gleich zu Beginn des Hörspiels, "muss ich mir eine neue Bleibe suchen" (Reffert I/00:54). Da er nun aber in Pinocchios Ohr wohnt, ist er zwar immer dabei, versteht aber nicht alles, was er sieht und hört. Von einem allwissenden Erzähler kann jedenfalls keine Rede sein: "Und Pinocchio rannte und rannte, ich glaube, er wollte wirklich nach Hause" (VII/00:06). Außerdem hat er natürlich einen ganz eigenen Blick auf die Dinge: Wenn Pinocchio hadert, ob er nun Mensch oder Marionette sei, und diese existentielle Frage zu keinem Ergebnis kommt, dann weiß der Holzwurm durchaus eine Antwort: "Du bist … lecker" (Reffert IX/00:37). Am Schluss des Hörspiels steht, wie gesagt, nicht der ragazzino perbene, sondern jene ebenso anspielungsreiche wie ungewöhnliche Familie, die den Holzwurm mit visionären Überlegungen zurücklässt: "Ich hatte so eine schräge Familie schon mal gesehen, der Vater uralt, die Mutter noch Jungfrau und das Kind … ein Wunder" (Reffert XX/00:51).

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Während in Collodis Roman der Held Pinocchio seine Abenteuer bestehen muss, erlebt in Henrik Albrechts Partitur zum Orchesterhörspiel auch das Pinocchio-Motiv einige abenteuerliche Verwandlungen. Wird es anfangs noch vom Xylophon gespielt, übernimmt es später, nachdem Pinocchio lebendig geworden ist, die Klarinette; Instrumente aus Holz haben hier naturgemäß eine besondere Bedeutung.

Dieses Pinocchio-Thema hat ein eindeutiges Ziel: Es will hoch hinaus, gleichzeitig wirkt es leicht und bekommt durch die kurzen Vorschläge und das Staccato einen frechen und verschmitzten Charakter. Das Orchester begleitet mit Wechselbässen, die die Melodie zusätzlich antreiben. Rhythmisch orientiert sich der Komponist im Finale an der Tarantella, einem wüsten Tanz, der, wie Pinocchio, aus Italien stammt. Albrecht erläutert:

Die Tarantella hat einen etwas gruseligen Ursprung. Sie ist nämlich benannt nach einer giftigen Spinne, der Tarantel. Wenn man von ihr gebissen wird, so muss man ganz schnell ein paar Musiker aus der Umgebung zusammen trommeln, die für einen eine Tarantella spielen. Und dann muss man tanzen, was das Zeug hält, bis man das ganze Spinnengift ausgeschwitzt hat.

Dass im Orchesterhörspiel die Musik eine besondere Rolle spielt, versteht sich von selbst. Der musikalische Sturm beispielsweise, durch den Gepetto in seinem kleinen Boot fast umkommt, ist ein wahres Meisterstück der Hörspielmusik. Anfangs wird sie noch durch Kommentare des Erzählers und Pinocchios Rufe unterstützt, dann wird die Geschichte über rund 90 Sekunden nur vom Orchester weitererzählt (vgl. Albrecht XI/01:50). Doch auch wenn Musik und Sprache kombiniert werden, sind die beiden Zeichensysteme eng ineinander verwoben, Henrik Albrecht betont die Nähe zum klassischen Melodram.

Pinocchio Albrecht Cover 2

Für die Aufnahme, die bei Headroom erhältlich ist und in der das SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern unter Leitung von Andreas Hempel spielt, wurde eine Live-Aufführung mitgeschnitten. Das hat allerdings zur Folge, dass man nicht nur Lacher und den Schlussapplaus hört, auch die Raumwirkung ist durchgehend die eines Saales und die Intimität kleiner Räume, etwa der Werkstatt Gepettos, kann nicht hörbar gemacht werden. Auch auf die bisweilen übertrieben deklamatorische Sprechweise wirkt sich die Aufnahme in einem Konzertsaal aus. Neben der Live-Version gibt es noch eine Studioproduktion (SWR 2003/Der Audio Verlag 2004), in der die Musik allerdings viel stärker in den Hintergrund rückt.

Schaut man in diesem Pinocchio auf den Ausgang der Handlung, so zeigt sich, dass der brave Junge auch hier nicht das dramaturgische oder didaktische Ziel ist. Noch einmal treten die Figuren der Geschichte auf und versuchen Pinocchio mit Reichtum und Vergnügungen zu locken. Schließlich gibt ihm der Thunfisch, seinem Dialekt nach ein echter Hamburger Jung, jenen Rat mit auf den Weg, den er einmal von einer Luftblase bekommen hat: "Werde der, der in dir steckt!" (Albrecht XXII/02:46). Und so steht am Schluss ein Aufbruch, der von der Tarantella musikalisch angetrieben wird: "Geppetto und Pinocchio schauten sich an, dann standen sie auf und machten sich auf den Weg" (Albrecht XXII/03:40).

Fazit

Der Hörspielmarkt für Kinder und Jugendliche boomt. Wenn ein Roman erfolgreich ist, lässt das Hörspiel oft nicht lange auf sich warten. Es hat weniger Anlaufzeit als der Film und die Produktionskosten sind wesentlich niedriger. Das kann zur Folge haben, dass die Adaptionen lediglich den epischen Text dialogisieren und mit Geräusch und Musik anreichern. Wenn ein prominentes Sprechendenensemble und eine professionelle Studiocrew hinzukommen, kann das Ergebnis durchaus respektabel sein. Und dennoch sind jene Produktionen reizvoller, deren Macher eine genuine, eine hörspielspezifische Idee haben.

"'hörspiel' ist ein doppelter Imperativ", schreiben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker (1970, 88) in ihren Anmerkungen zum Hörspiel und markieren damit 1969 die Grenze zwischen dem literarischen Hörspiel der Nachkriegszeit und dem sogenannten Neuen Hörspiel. Thilo Reffert und Henrik Albrecht sind im Bereich der aktuellen Kinderhörmedienszene zwei Hörspieler, denen der doppelte Imperativ des Hörens und Spielens wichtig ist. Sie sind mit dem Medium bestens vertraut, gleichzeitig zeugt ihre Arbeit von großer Experimentierfreude.

Wenn beide sich mit demselben klassischen Plot beschäftigen, wird das Ergebnis sehr unterschiedlich ausfallen, aber man kann sicher sein, dass es eine neue Sicht auf den alten Stoff gibt. Dass eine eigens komponierte Hörspielmusik sehr viel wirkungsvoller ist und die Geschichte noch einmal mit ganz anderen narrativen Techniken erzählt als das mit dem Rückgriff auf musikalische Konserven möglich wäre, hat Henrik Albrecht auch in seinen anderen Orchesterhörspielen für Kinder – etwa in Alice im Wunderland oder Das Gespenst von Canterville – bewiesen. Thilo Reffert hingegen experimentiert virtuos mit Perspektiven und Erzählinstanzen, die auf das Genre Hörspiel hin konzipiert sind, wie er es auch in Faustinchen tut. Beide Pinocchio-Adaptionen zeigen, dass das Hörspiel durchaus in der Lage ist, die Holzpuppe Pinocchio auch im 21. Jahrhundert zum Leben zu erwecken.

 

Literatur

  • Elisabeth Beck-Gernsheim: Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen. 3. Aufl. Beck: München, 2010.
  • Carlo Collodi: Pinocchios Abenteuer. Die Geschichte einer Holzpuppe. Übers. v. Hubert Bausch. Reclam: Stuttgart, 2008.
  • Ernst Jandl und Friederike Mayröcker: Anmerkungen zum Hörspiel. In: Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Hg. v. Klaus Schöning. Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1970. S. 88-91.
  • Luigi Malerba: Der gestiefelte Pinocchio. Übers. v. Burkhart Kroeber. dtv: München, 2001.
  • Christine Nöstlinger: Pinocchio oder die Leiden des Übersetzers. In: Die Zeit 13/1988. URL: https://www.zeit.de/1988/13/pinocchio-oder-die-leiden-des-uebersetzers/komplettansicht (5.11.2018).
 
Titel: Pinocchio. Nach den Geschichten von Carlo Collodi
Regie:
  • Name: Götz Naleppa
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Thilo Reffert
Sprechende: Leo Knižka (Pinocchio), Jens Wawrczeck (Holzwurm), Ulrich Noethen (Gepetto), Mandy Rudski (Fee Franka) u.v.a.
Produktion: DLR/Der Hörverlag
Erscheinungsjahr: 2014/2018
Dauer (Minuten): 53 Minuten
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Collodi, Carlo: Pinocchio (Hörspielvergleich)