Inhalt

Lene erlebt den Zweiten Weltkrieg und die Schrecken des Dritten Reiches in Köln im Alter von 16 Jahren mit. Durch Briefe kommuniziert sie mit ihrem größeren Bruder Franz und ihrer engsten Freundin Rosi. Die drei tauschen sich miteinander aus über das, was sie erleben – ihr Bruder Franz an der Front und beim Marsch auf Stalingrad, ihre Freundin Rosi im beschaulicheren Detmold und Lene in Köln. So berichtet Lene, dass sie sich in Erich verliebt habe, und schildert, dass sie über ihn zum Mitglied einer subversiven Gruppe von Jugendlichen wird, die sich gegen die politischen Umstände in Deutschland verwehren. Während Rosi sich vor allem um Lene sorgt und immer wieder mahnt, sie solle sich lieber fern von den Widerständigen halten, kann Lene immer weniger hinnehmen, was in Köln geschieht: Jüdische Frauen werden enteignet, die Meinungsfreiheit unterdrückt und ihr jüngerer Bruder wird zum Hitlerjungen erzogen. Gleichzeitig berichtet ihr älterer Bruder von der Front, von Massengräbern und der Brutalität der Kriegssoldaten. So gerät Lene immer stärker zu einer überzeugten Widerstandshaltung.

Nach der offiziell vollzogenen Gründung des Clubs der Edelweißpiraten geht es – getarnt als Wander- und Gesangsgruppe – in den erbitterten Widerstand mit illegalen Flugblättern und unblutigen Sabotageplänen, beispielsweise der Versorgung von Zwangsarbeitern, stets in der Lebensgefahr, durch Spitzel in den eigenen Reihen ins Visier der Gestapo zu gelangen. Lene berichtet mit Voranschreiten der Kriegshandlungen und Meinungsunterdrückung von ihrer schwindenden Zuversicht und der Verbitterung, aber auch von der tiefen Verbindung zu ihrem Schwarm Erich und der Hoffnung, es kämen bessere Zeiten. Zugleich geraten der Krieg und die Gräuel auch immer näher an Rosis Erfahrungswelt heran.

Das Ende bleibt offen: Lene berichtet Rosi noch in einem Brief, dass sie überzeugt sei, nichts verbrochen zu haben, was gegen Vernunft und Anstand verstoße, aber das zähle nichts mehr (IV/22:00). Es ist zu hören, wie die Gestapo sie abführt. Allerdings darf Lene nach vier Tagen doch gehen. Erich hat sich an die Front gemeldet, um sich zu retten, sie selbst plant auch, sich ins Ausland abzusetzen, dann bricht die Kommunikation ab. Der letzte Brief stammt von Rosi und wendet sich an Erich: Sie betont, sie hoffe, dass Lene sich irgendwohin habe retten können (IV/28:54).

Kritik

Ein wirkliches Meisterwerk stellt Wo die Freiheit wächst dar. Wie schon die Romanvorlage, so ermöglicht auch das Hörspiel durch die Briefform berührende Perspektiven auf die Meinungsunterdrückung, die Gewaltausübung und den Terror im Dritten Reich. Die Handlung des 376 Seiten starken Romans wurde auf zwei Stunden zusammengekürzt, dadurch sind einige Details, etwa die familiäre Vorgeschichte Lenes und ihre allmähliche Entwicklung zum Widerstand, stark gerafft, doch bleibt der ergreifende Grundeindruck. Die Grausamkeit der Kriegsverbrechen und der Alltag im von Bombenangriffen gebeutelten Köln werden eindrucksvoll in Worte gefasst, ohne dabei aber effekthascherische Grausamkeit zu verbalisieren. Die Gänsehautmomente entstehen vor allem dadurch, dass die beispiellosen Verbrechen durch die Jugendlichen in den Briefen beschrieben werden und deren Fassungslosigkeit zum Ausdruck bringen.

Das Hörspiel beginnt in medias res. Es ertönt eine Aufnahme des Heimatliedes Der kleine Postillon aus dem Jahre 1940, stilecht mit dem Knarzen einer Schellackplatte, danach erklingt eine männliche Stimme: "Liebe Lene, du glaubst gar nicht, wie oft ich an Euch in Köln denke" (I/00:14). Im Hintergrund ist weiterhin die Melodie zu hören. Der Brief führt alle Charaktere ein: Er stammt von Franz, ist adressiert an seine jüngere Schwester Lene, erläutert, dass die Familie vaterlos ist, der kleinere Bruder begeisterter Hitlerjunge wurde und lässt Lenes beste Freundin Rosi grüßen, zu der sich Franz hingezogen fühlt. Sofort entsteht eine stimmige Atmosphäre des Kriegsdeutschlands, die dann in die Erkennungsmelodie des Hörspiels überblendet wird. Dabei handelt es sich um die langsam gespielte Instrumentalmelodie des Volksliedes Bergvagabunden, die nach wenigen Takten in ein melancholisches Pfeifen derselben Melodie übergeht. In den letzten gepfiffenen Ton spricht eine weibliche Stimme den Hörspieltitel und der Autor des Stückes fügt hinzu: "Teil 1 von 4 – und alles andere ist nicht von Belang". Es ist fast bedauerlich, dass der begnadete Vorleser Frank Maria Reifenberg keinen größeren Sprechanteil hat, wenngleich es dramaturgisch absolut stimmig bleibt.

Die Hintergrundmusik von Jan Tengeler ist dezent, durchgehend schwermütig und besteht in weiten Teilen aus langgezogenen Tönen, die Melancholie, Schrecken und Bedrohung andeuten. Das stellt einen deutlichen Kontrast zu den teilweise fast schon in einem ironischen Sinne eingesetzten Schlagern aus den 1930er und 1940er Jahren dar (Schreib mir mal 'ne Karte – was gerade in dem Kontext ironisch ist, dass die Postauslieferung in Kriegszeiten ohnehin nicht funktioniert und Franz' Briefe von der Front teilweise wochenlang nicht ausgeliefert werden. Geradezu bitterböse ist das eingespielte Stück am Ende, als Rosi sich sorgt, weil sie bereits seit Längerem nichts mehr von Lene gehört hat (IV/30:12)). Die Schlager insinuieren die Widersprüchlichkeit einer Zeit, in der es tägliche und nächtliche Bombenangriffe gibt, Männer im Krieg fallen, die Bevölkerung bespitzelt wird, aber dennoch die meisten Bürgerinnen und Bürger nichts davon wissen wollen und über die Judenverfolgung und die Meinungszensur hinwegsehen.

Innerhalb des Hörspiels tauschen die drei Hauptfiguren miteinander Briefe aus. Wenn Lene schreibt, ist das Klacken ihrer Schreibmaschine zu hören, schreibt Rosi, kann man ihren Stift über das Papier gleiten hören, nur bei Franz' Briefen hört man nichts, dafür meist Musik, Stimmgewirr und häufig Motoren- oder Kampfgeräusche im Hintergrund. Allerdings besteht nicht das gesamte Hörspiel nur aus vorgelesenen Briefen: Der Anfang und das Ende jedes Briefes werden gelesen, dann erfolgt meist eine Überblendung in die beschriebene Szene, die anschließend dialogisch und klangreich ausgestaltet wird. Dadurch entstehen eine enorme Dynamik und eine sehr dichte Atmosphäre.

Neben der Geräuschkulisse erzeugen die Originaltöne aus Radionachrichten, Auszüge aus Reden (z.B. von Goebbels) oder Berichte durch Zeitzeugen eine besonders große Nähe zum Geschehen und verbürgen dessen Authentizität. So berichten die Stimmen vom unaussprechlichen Leid der Bevölkerung und vom Wegschauen der Allgemeinheit. Darüber hinaus werden Hintergrundinformationen über die Edelweißpiraten gegeben. So wird bspw. die Information vermittelt, dass die Bezeichnung 'Piraten' den Jugendlichen absolut nicht gefiel und ihnen von außen übergestülpt wurde (IV/33:02).

Insofern bietet der Text die Möglichkeit zum Eintauchen in eine vergangene Welt und zeichnet hautnah ein authentisches Bild der Erlebnisse dreier Jugendlicher und ihrer verstörenden Erlebniswelt. Dabei wird besonders großes Identifikationspotenzial für Hörerinnen und Hörer dadurch hergestellt, dass nebenbei noch typische Erfahrungen Jugendlicher – Freundschaft, erste Liebe und alltägliche Ereignisse – gezeigt werden. So wird erfahrbar, dass auch damalige Jugendliche sich trafen, einander ihre Gefühle gestanden und einander näherkamen. Besonders frappierend ist hier die Schilderung Rosis, die einen sehr schönen Abend mit Ansgar verbringt und dabei nicht merkt, dass dieser kurz davorsteht, sich umzubringen, um nur nicht wieder an die Front zu müssen (IV/15:34). Dieser dramatische Wechsel von jugendlicher Annäherung und angedeuteter Schwärmerei zu Rosis verzweifeltem Brief, in dem sie voller Entsetzen ihre Schuld betont, weil sie das Leid nicht erkannt hat, steht geradezu symptomatisch für die Darstellungsstrategie des Hörspiels: Es ermöglicht viel Identifikation, lädt zur subjektiven Involvierung und emotionalen Verstrickung ein und wartet dann mit einer unverhofften und verstörenden Nachricht auf, ohne sie unnötig auszuweiten.

Fazit

Vor seinem Selbstmord betont der durch eine Kriegsverletzung halbseitig erblindete Ansgar noch, er wünschte, ihm seien beide Augen verloren gegangen, dann müsste er das Furchtbare zumindest nicht mehr sehen (IV/05:40). Nach der Rezeption dieses Hörspiels ist klar: Das Grauen muss man nicht sehen, es reicht schon, es zu hören. Wörtliche Zitate können die packende Stimmung bei Weitem nicht greifen, man muss es als klangliches Gesamtkunstwerk hören und würdigen. Die multiperspektivischen Schilderungen lassen die Emotionen der jeweiligen Figuren nachfühlen und erlauben dann das Versenken in die Schilderung.

Dabei wird der historische Stoff einerseits dadurch narrativiert, dass er auf Basis des Briefwechsels erzählt wird, andererseits wird er durch Authentizitätsmerkmale angereichert. Die Sprecherinnen und Sprecher leisten eine famose Arbeit, intonieren sehr klar, glaubwürdig und emotional ihre Rollen. Ein beeindruckendes zeitgeschichtliches und furios ausgestaltetes Hörspiel, das subjektive Annäherung für Hörerinnen und Hörer ab 14 Jahren ermöglicht und ex post zeigt, dass niemand sich seine Meinung verbieten lassen muss und dass Mut zur eigenen Meinung sowie zum Widerstand zwar gefährlich ist, aber Schweigen schuldig macht. Prädikat: besonders wertvoll, aber bestürzend.

 

 

Titel: Wo die Freiheit wächst
Regie:
  • Name: Claudia Johanna Leist
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Frank Maria Reifenberg
  • Name: Isabel Platthaus
Sprechende: Lou Strenger (Lene), Nils Kretschmer (Erich), Marleen Lohse (Rosi), André Kaczmarczyk (Franz) u.v.a.
Produktion: WDR
Erscheinungsjahr: 2021
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre