Inhalt
Nach einem schweren Verkehrsunfall liegt der Teenager Julius mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Wachkoma. Weder die zahlreichen Operationen noch ein langer Reha-Aufenthalt können an seinem Zustand etwas ändern, sodass sich die Eltern letztlich entschließen, ihren Sohn zu Hause zu pflegen. Die Handlung wird aus der Perspektive von Julius' kleinem Bruder Bela erzählt, der immer deutlicher wahrnimmt, dass die Familie an dem Schicksalsschlag zerbrechen könnte. Auf der Suche nach einer klaren Antwort auf seine Fragen schlägt Belas Freundin Martha vor, den Papst als direkten Vertreter Gottes zu befragen. Mit geplünderten Sparschweinen und 'geborgter' Kreditkarte machen sich die beiden auf ihre Reise nach Rom. Auf dem Weg begegnen sie verschiedenen Personen, die alle auf ihre eigene Art und Weise Erfahrungen mit dem Tod gemacht haben. Nach einigen unvorhergesehenen Planänderungen im Reiseverlauf erreichen sie schließlich den Petersdom. Doch es wird schnell klar, dass das Happy End nicht in eindeutigen Antworten auf die drängenden Fragen zu finden ist. Vielmehr sind es die neu gewonnenen Perspektiven, die es Bela (und Martha) erlauben, den Blick "eben dennoch, trotzdem" (56:51) wieder nach vorne zu richten. [Das Hörspiel steht in der ARD Audiothek zum Abspielen und Herunterladen zur Verfügung.]
Kritik
Bereits die Liste der am Hörspiel Beteiligten verspricht ein gelungenes akustisches Werk. Regisseurin Cordula Dickmeiß, Sprecher Jeremias Matschke und Komponist Michael Rodach sind nicht zuletzt aus dem preisgekrönten Hörspiel Herr der Lügen von Thilo Reffert (DLR 2020) bekannt. Zudem arbeiteten Jeremias Matschke und die Sprecherin der weiblichen Hauptrolle, Tilda Jenkins, schon in zahlreichen Hörspiel-Produktionen zusammen (Rico, Oskar und das Mistverständnis von Andreas Steinhöfel, WDR 2021; Nächster Halt Mars von Thilo Reffert, DLR 2018; Gustav im Schrank von Sarah Trilsch, DLR 2018), was sich merklich in der zwischenmenschlichen Dynamik des Gesprochenen zeigt.
Die Adaption der Buchkapitel verzichtet überwiegend auf innovative hörspieldramaturgische Kniffe und setzt auf eine lineare Handlungsvermittlung, die kammerspielartig in akustischen Räumen durch das großartige Ensemble mit Leben gefüllt wird. Eine besondere Rolle fällt den musikalischen Kompositionen von Michael Rodach zu, welche gleich mehrere Funktionen erfüllen. So sind diese zunächst Raum-/Zeitblenden, die in der Dramaturgie einen Szenenwechsel anzeigen und fließende Übergänge im Handlungsverlauf garantieren. Außerdem transportieren die kurzen Stücke assoziativ die Gefühlslagen der Hauptfiguren, indem sie mit szenisch Gesprochenem montiert werden.
Hörbeispiel 1: Die Inszenierung der Gefühlslage der Figuren über extradiegetische Musik (40:39)
Die Musik drängt sich jedoch nie in den Vordergrund, sondern untermalt stets mit angemessener Schlichtheit spannende wie ruhige Situationen. Nachdem die Musikblende, oft in Kombination mit Belas kurzen erzählerischen Ausführungen, in eine neue Szene eingeleitet hat, wird der akustische Raum des folgenden Kapitels eröffnet. Die Tontechniker Martin Eichberg und Philipp Edelmann arbeiten hierfür regelmäßig mit eindeutigen Geräuschcodes (Bahngleisdurchsagen, knisterndes Kaminfeuer, Schienenrattern etc.).
Hörbeispiel 2: Die Inszenierung des akustischen Raums über Geräuschcodes (14:49)
In der Geschichte lassen sich die Schauplätze durch passend arrangierte Raumresonanzen, geeignete Hintergrundgeräusche sowie die Stereopositionen der Sprecherinnen und Sprecher vor dem inneren Auge mühelos materialisieren und ermöglichen sogar eine lautliche Differenzierung zwischen einem ICE und einem Bummelzug oder einer Sarghalle und einem Dom. Hieraus lässt sich schließen, dass die Produktionsästhetik eine leicht verständliche Vermittlung der Handlung priorisiert, um dem Kernthema des Stoffs genug Raum zu geben.
In Belas Familie gehören Tod und Sterben schon vor dem tragischen Unfall zum Alltag. Vater und Mutter arbeiten in einem Bestattungsinstitut und ihr Sohn Julius muss regelmäßig bei der Arbeit im Rahmen von Telefondiensten aushelfen. Gleich in den ersten 90 Sekunden des Hörspiels werden während des gemeinsamen Frühstücks ganz selbstverständlich Wörter wie 'Steinmetz', 'Krematorium', 'Einäscherung', 'Urnenbeisetzung' und 'Trauergespräch' gebraucht. Schonungslos offen und ohne wirklichkeitsferne Beschönigungen bildet Als mein Bruder ein Wal wurde die Erfahrungen der Hauptfiguren in ihrer ganzen unerbittlichen Tragik ab. Anders gesagt: Das Werk traut seinen jungen Hörerinnen und Hörern zu, sich mit diesem schwierigen und wichtigen Thema auseinanderzusetzen.
Gleichwohl schaffen es Bela und Martha mit ihrer liebevollen Unbefangenheit immer wieder, das inhärente Leid des Stoffs abzumildern, indem sie einander zuhören, über ihre Erfahrungen reflektieren und tröstende Analogien entwickeln. Einigen Diskussionsstoff für diese Reflexionen bieten, ähnlich wie beim französischen Gattungskollegen Der kleine Prinz, Archetypen einer scheinbar vom täglichen Umgang mit dem Tod abgestumpften und entfremdeten Erwachsenenwelt. Zu ihnen gehören ein Anwalt, der routiniert über Erbschaftsangelegenheiten referiert, und ein Chirurg, der zweifelhafte Analogien zwischen einem Gehirn im vegetativen Zustand und Gemüse bemüht ("Ihr Hirn ist auf dem Niveau einer Möhre!"; 29:29). Es wird jedoch relativ schnell deutlich, dass nicht nur Bela und Martha von diesen Begegnungen profitieren, sondern auch die erwachsenen Figuren etwas von den Kindern lernen können.
Besonders Martha beweist durch ihr selbstsicheres Auftreten und ihre gewieften Kommentare eine für ihr Alter bemerkenswerte Reife. Sie zeigt eine natürlich empathische Haltung zu Mitmenschen mit Verlusterfahrung ("Wir können [Michel] doch jetzt nicht alleine lassen, siehst du nicht wie verzweifelt er ist?" 43:24), sie beschäftigt sich mit der Theodizee-Frage ("Wenn es [Gott] gibt […], warum tut er dann so schreckliche Dinge wie Unfälle mit LKW oder andere furchtbare Sachen?" 12:23) und sie demonstriert nüchtern ihre Erkenntnisse zu institutionellen Abläufen des Gesundheitssystems ("Die hätten Julius doch nicht zwei Jahre in der Reha behandelt, wenn sie gewusst hätten, dass er eine Möhre ist. […] Wär' auch viel zu teuer für die Krankenkasse." 32:26). Die figurale Konzeption belegt, dass Autorin Nina Weger und Regisseurin Cordula Dickmeiß großen Wert darauf legen, das Potential eines offenen Umgangs mit Grenzerfahrungen für die Entwicklung der Identität von Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen.
Fazit
"Einfühlsam und einzigartig – ein wunderbares Buch über das Leben", heißt es im Klappentext der gebundenen Ausgabe und diesem Fazit ist vollumfänglich zuzustimmen. In ihrer Geschichte setzt sich die Kinder- und Jugendliteratur durchaus mit Tod, Trauer und Verlustängsten als Grenzerfahrung für junge Heranwachsende auseinander: Für die Behandlung des Todesmotivs im 20. Jahrhundert spielen Der kleine Prinz (1943) von Antoine de Saint-Exupéry, Die Brüder Löwenherz (1973) von Astrid Lindgren sowie Oskar und die Dame in Rosa (2002) von Éric-Emmanuel Schmitt eine besondere Rolle. Die Texte wurden – das sei nebenbei erwähnt – zu aufwändigen wie hörenswerten Kinderhörspielen transformiert (Der kleine Prinz, WDR 2016; Die Brüder Löwenherz, WDR 2011; Oskar und die Dame in Rosa, NDR 2003). Hinzu kommt, dass das Thema 'Sterbehilfe' sowohl in einer frühen Phase der Mediengattung als auch in zeitgenössischen Beispielen bereits behandelt wurde. Zu nennen sind hier die mit dem ersten Hörspielpreis der Kriegsblinden prämierte Produktion Darfst du die Stunde rufen von Erwin Wickert (SDR 1951) und das Doku-Hörspiel Gespenster von Markus&Markus Theaterkollektiv (DLR 2021).
Dennoch schafft es Als mein Bruder ein Wal wurde, neue medien- und themenspezifische Schwerpunkte zu setzen und greift zuweilen weiter als seine stofflichen Vorgänger. Es schafft nämlich neue Impulse in der Frage, wie kindgerechte Literatur beschaffen sein sollte – eben, indem man dem 'Kind gerecht' wird und ihm seine maßgebliche Stellung in allen gesellschaftlichen Themenbereichen einräumt. In Erweiterung zur neuen Subjektivität der 1970er Jahre, die eine Enttabuisierung des Todesmotivs in der Kinder- und Jugendliteratur zur Folge hat, gelingt es Nina Weger durch ihr schonungsloses und ehrliches Aufzeigen von existentiellen Lebenserfahrungen und ihre realistische Erörterung vermeintlich 'erwachsener' Themen, dass ein aufrichtiges Miteinbeziehen junger Menschen im Trauerbewältigungsprozess für alle Beteiligten notwendig ist.
Die Selbstreferentialität der Aussage des Hörspiels findet sich dabei sowohl im Plot als auch in der Vermittlung durch die Medienform. So wird Ehrlichkeit im Umgang mit Angehörigen zum einen von Martha intradiegetisch gefordert: "Alle haben mich belogen. Auch Mamas Freundinnen. Niemand hat mir gesagt, wie schlimm es wirklich ist" (37:53). Zum anderen müssen erwachsene Hörerinnen und Hörer auf einer Metaebene ihren jungen Schützlingen Rede und Antwort stehen, sobald heikle Begriffe wie 'Krebs', 'Wachkoma' und 'Krematorium' einer einfühlsamen und aufrichtigen Klärung bedürfen. Cordula Dickmeiß schafft es damit, unverzichtbare Tugenden wie Ehrlichkeit, Empathie und Offenheit, die Bela und Martha auf ihrer Reise ausleben, über das Medium selbst zu vermitteln.
Das Hörspiel entfaltet seine größte Stärke mithin in der gelungenen Adaption der Botschaft seiner schriftlichen Vorlage und entwirft zugleich die abenteuerliche Reise von Martha und Bela mit eindrucksvollen akustischen Bildern. Die kurzweilige Dramaturgie, die stimmungsvolle Musik, eine atmosphärische klangliche Raumgestaltung und die großartig gesprochenen Dialoge, insbesondere von Matschke und Jenkins, machen Als mein Bruder ein Wal wurde zu einem einzigartigen und hörenswerten Kinder-, Jugend- und Erwachsenenhörspiel.
- Name: Cordula Dickmeiß
- Name: Nina Weger
- Name: Cordula Dickmeiß