Inhalt

Bella ist an einem Punkt in ihrem jungen Leben angelangt, an dem ihre bisherige heile Welt Stück für Stück zusammenbricht. Ihre Eltern lassen sich scheiden und die geliebte Großmutter stirbt − der einzige Mensch, bei dem sie sich nicht verstellen musste, der sie bedingungslos akzeptiert und geliebt hat. Als sie dann auch noch von ihrem Freund Dylan verlassen wird, befindet sich Bella in einer ausweglosen emotionalen Situation, die sie mit Alkohol zu betäuben versucht. Sie trifft sich abends mit ihren Freundinnen entweder bei ihnen zu Hause oder im Park, um dort ungestört Sprodka, eine Mischung aus Sprite und Wodka, zu trinken. Um an den Alkohol zu gelangen, sprechen die minderjährigen Mädchen vor dem städtischen Geschäft Lucky Liquor fremde Personen an. Der Alkohol entpuppt sich fortan als ständiger Begleiter Bellas und für das Mädchen erweist es sich als äußerst schwierig, dem Drang zu widerstehen, nicht bereits am helllichten Tag zu trinken:

Ich werde nicht anhalten und aus der Flasche trinken. Ich werde nicht anhalten und aus der Flasche trinken. Ich werde nicht anhalten und aus der Flasche trinken. Ich muss dieses Projekt machen. Ich muss zur Arbeit gehen. Ich werde Dylan nicht vermissen. Ich werde nicht anhalten und aus der Flasche trinken. Das werde ich nicht. Das werde ich nicht. Das werde ich nicht. (XXII/0:33)

Bella verstrickt sich vor ihrer Mutter immer mehr in ein Lügengeflecht, damit diese nicht merkt, dass sie trinkt. Dabei geht sie auf Konfrontationskurs, in der Hoffnung, dass ihre Mutter dann nicht weiter nachbohrt:

"Habt ihr getrunken? Wir haben eine Abmachung, Bella." Ach ja, die Abmachung nach Luis’ Party: kein Alkohol, keine Partys.

"Nö. Soll ich dich anhauchen?" Ich öffne den Mund. Meine Mutter sieht mich prüfend an.

Wenn du so tun willst, als wäre alles in Ordnung, dann tu so, als wäre alles in Ordnung. Als gäbe es nichts zu verstecken. Ich bin ein braves Mädchen. Ich bekomme gute Noten. Ich helfe im Haushalt. Ich habe einen Job. Ich halte alles zusammen. Ich habe Tod und Scheidung überlebt. Mein überaus bedauerlicher Untergang vor aller Welt war nichts als ein Ausreißer, mehr nicht. (XV/2:49)

Der Jugendlichen wird erst allmählich bewusst, dass sie für ihre jüngere Schwester Ricci die Verantwortung übernehmen muss, die unter der Trennung der Eltern noch stärker leidet als sie selbst. Wird Bella es schaffen, ihre Alkoholsucht in den Griff zu bekommen?

Kritik

Ohne Unterstützung von Geräuschen oder Musik müssen Sprecher:innen in einem Hörbuch die Wirkungseffekte allein mit ihrer Stimme erzielen. Wie gelingt dies in der medialen Adaption von The Glass Girl? Um es vorwegzunehmen: Diese Herausforderung wird von der Sprecherin mit Bravour gemeistert. Durch die facettenreiche Variation des Timbres erhält jede der zahlreich vorkommenden Figuren einen individuellen Ausdruck. Schnelle Rollenwechsel sind nahezu in jeder Szene des Hörbuchs erforderlich: "Wenn ich im Hörbuch die Möglichkeit habe, viele schnelle Brüche einzubauen, dann mache ich das sehr gerne, das ist mir als Schauspielerin sehr nah, das fordert mich, das ist eine Challenge", erläutert Nora C. Schulte. Die Hörbuchsprecherin führt weiter aus:

Bei einer Kinderstimme versuche ich immer aufzupassen, dass diese nicht albern wirkt. Ich versuche einen Grad zu finden, der eben nicht an die Charge geht. Herauszufinden, was die Charaktere widerspiegelt, sie aber in der Stimme nicht überhöht bzw. übertreibt, sondern sie ernst nimmt. Dieses Ernstnehmen der Figuren gepaart mit einem spielerischen Spaß an schnellen Wechseln macht es mir zu großen Freude, den Versuch zu wagen, Figuren stimmlich so glaubwürdig wie möglich zu gestalten.  Auch wenn ich natürlich längst keine 15- oder 7-Jährige mehr bin. (Nora C. Schulte im Gespräch mit Inger Lison am 20.2.2025)

In einem Dialog zwischen den beiden Schwestern wird die Fähigkeit des blitzschellen stimmlichen Rollenwechsels eindrucksvoll deutlich. In dieser Szene möchte Bella Ricci ins Bett bringen, da die mittlerweile alleinerziehende Mutter arbeiten muss. Zu ihren allabendlichen Ritualen gehört, dass sich Bella dabei als Sergeant ausgibt, der der Schwester den unmissverständlichen Befehl erteilt, sich für die Nacht fertig zu machen. Durch den rollenbedingten Betonungs- und Lautstärkewechsel wird eine Dynamik erzeugt:

"Ricci!", rufe ich und stelle mich vor meine Schwester. "Achtung!"

Sie hört auf, sich hin und her zu wälzen, und richtet sich auf, steht stramm, das Tablet unterm Arm.

"Sergeant Schwester, bist du bereit fürs Bett?"

"Nein, Ma’am, nein."

"Sergeant Schwester, wirst du nach dreißig Minuten Katzen-Videos und drei Keksen und einem Glas Milch bereit fürs Bett sein? Major Mom wurde zum Arbeitseinsatz abkommandiert und muss ausrücken, sonst heißt es Militärgefängnis. Wollen wir das Major Mom zumuten?"

"Nein, das wollen wir nicht."

"Verstehen wir einander, Sergeant? Hier spricht dein Captain."

Meine Schwester strafft ihre Schultern. "Ich bin bereit, Captain."

"Dann, los, marsch, eins zwei, eins zwei."

Ich gehe im Marschschritt und zeige den Flur hinunter in Richtung ihres Zimmers. Meine Schwester marschiert mit schwingendem Pferdeschwanz den Flur entlang, während ihre Schlafanzughose mit Olaf, dem Schneemann, ihr den Hintern runterrutscht. Ich folge ihr. (XVI/2:18)

Während der 'Sergeant' mit einer tiefen, kraftvollen und lauten Stimme in einem militärischen zackigen Befehlston spricht, antwortet Ricci mit einer hell und höher klingenden, etwas eingeschüchtert wirkenden Kinderstimme. In dieser schwingt jedoch die Bewunderung für die große Schwester mit, die sich allabendlich auf dieses Spiel einlässt. Eine dritte Stimmnuance wird in dieser Szene benötigt, denn aus Bellas Perspektive wird die Zuhörerschaft in einem nahezu sachlichen Tonfall über die Ereignisse bzw. Handlungen zwischen den Dialogen informiert. Bella spricht mit einer jugendlichen, warmen und sanften, teilweise rauchigen Stimmfarbe. In Szenen, in denen der Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) zum Ausdruck kommt und die Protagonistin Reflexionen hinsichtlich ihrer Abhängigkeit, dem Trennungsschmerz und dem Gefühl der Einsamkeit vornimmt, wirkt die Stimme verletzlich. Nora C. Schulte erläutert:

Für mich war besonders wichtig in der Stimme von Bella die Ambivalenz zwischen einem verletzlichen Kind und verletzten Kind und einem für ihr Alter viel zu erwachsenen Teenager mitklingen zu lassen. Bella ist für mich nämlich eine Figur, die für ihre 15 Jahre viel reifer, viel älter ist, weil sie es sein musste. Daher sollte sie für mich auch ein bisschen zu rau, ein bisschen zu fertig und eben gleichzeitig verletzlich klingen. Hinzu kommt, dass man ja in diesem Alter auch eigentlich ein bisschen älter sein will als man ist. Und diese Mischung aus 'ich will etwas darstellen, was ich gar nicht bin, ich muss etwas darstellen, was ich eigentlich gar nicht bin und ich bin auch schon etwas, was ich gar nicht bin', führt zu meiner Interpretation der Hauptprotagonistin. (Nora C. Schulte im Gespräch mit Inger Lison am 20.2.2025) 

Diese selbstgesetzten Ansprüche erfüllt die Sprecherin voll und ganz, da es ihr tatsächlich gelingt, facettenreich und einfühlsam zu artikulieren und auf diese Weise auch eine emotionale Verbindung zwischen den Figuren − insbesondere zu Bella und ihrer kleinen Schwester Ricci − und den Rezipient:innen aufzubauen. Da Bella zugleich als Ich-Erzählerin fungiert, fließen auch subjektive Wertungen bzw. Kommentierungen des Geschehens mit ein. Für die Zuhörenden ist durch die jeweils treffend gewählte Stimmnuancierung jederzeit offensichtlich, welche Figur gerade spricht. Diese wirken durch die variantenreichen Sprachmelodien und Artikulationsweisen der Sprecherin lebendig und authentisch. Am selben Abend trinkt Bella noch eine große Menge an Alkohol:

Ich kämpfe darum, wach zu bleiben, weil ich nicht einschlafen will, denn ich will mich in meinem Zimmer noch auf den Boden legen und allein sein, meine Kopfhörer aufsetzen, meinen Sprodka austrinken […], während ich die Lichterketten an meinen Wänden betrachte und Dylan vergesse und alles vergesse, allein und stumpf dahin treibe durch meinen eigenen ganz persönlichen Ozean. (XVIII/2:02)

Die Auswirkungen, die der exzessive Alkoholkonsum für Bella hat, werden für die Zuhörenden nachvollziehbar erfahrbar gemacht. So bestimmen Kopfschmerzen und Gereiztheit den nächsten Morgen des Teenagers, so dass auch ihre Antworten für die Familie unerwartet schroff und teilweise gequält klingen:

Unaufhaltsam kaut sich Ricci durch ihr Knuspermüsli. "Du siehst komisch aus", sagt sie. Milchtropfen perlen ihr das Kinn runter.

Ich werfe ihr eine Serviette zu, gieße Cold-Brew-Kaffee aus dem Kühlschrank in einen großen Becher und trinke einen kräftigen Schluck. Mein Kopf dröhnt und meine Augen brennen. "Halt die Klappe. Ich habe Kopfschmerzen."

Ricci sieht in ihre Schüssel und rührt durch ihr Müsli. Sanft klirrt ihr Löffel gegen die Schüssel. Ich habe sie verletzt. "Tut mir leid", murmele ich.

"In letzter Zeit bist du manchmal ganz schön gemein", sagt Ricci leise. (XVIII/2:28)

Bella befindet sich in einer Abwärtsspirale, aus der sie allein nicht mehr herauskommt. In besonders drastischen bzw. emotionalen Szenen wird oftmals das Stilmittel der Wiederholung eingesetzt, indem das Verb als Apokope dreimal gesagt bzw. gedacht wird, beispielsweise: "Poch, poch, poch" oder "Kotz, kotz, kotz."

Nachdem Bella auf einer Party einen emotionalen Zusammenbruch erleidet und ins Krankenhaus eingeliefert wird, entscheidet die Mutter, ihre Älteste anschließend in eine Entzugsklinik einzuweisen. Dort lernt sie andere Teenager kennen, die aus unterschiedlichen Gründen tablettensüchtig oder alkoholabhängig sind. In dieser prägenden Zeit reflektiert das Mädchen über ihre Kindheit, die Scheidung der Eltern und ihre Sucht und findet heraus, dass ihre Großmutter Laurel sie unbewusst an das Trinken herangeführt hat. Denn die regelmäßigen Probierschlückchen beim Scrabble Spielen führten dazu, dass Bella sich den vom Alkohol verursachten Entspannungszustand insbesondere während der Trennungsstreitereien ihrer Eltern immer wieder herbeisehnte. Für Bella ist es noch ein langer und mit zahlreichen Rückschlägen versehener Weg, der Sucht zu entkommen.

Fazit

Kathleen Glasgow gelingt es, die Alkoholanhängigkeit von Jugendlichen und die Auswirkungen auf ihre Gesundheit und das Umfeld nachvollziehbar in ehrliche und bildreiche Worte zu fassen, ohne dabei belehrend zu wirken oder einen moralischen Zeigefinger zu erheben. Durch die Wahl der Ich-Perspektive erhalten die Rezipient:innen einen vielschichtigen Einblick in die Gefühlswelt Bellas, die durch die variantenreiche stimmliche Interpretation Nora C. Schultes im Hörbuch überaus gelungen und glaubwürdig zum Ausdruck gebracht wird. Um für die Themen Alkohol, Scheidung, Trennungsschmerz und Trauerbewältigung zu sensibilisieren, ist das Hörbuch für Jugendliche ab 14 Jahren sehr zu empfehlen. Dieses eignet sich aufgrund der nicht beschönigenden, authentischen Darstellung in Auszügen auch im schulischen und universitären Kontext, beispielsweise im Rahmen der Lehramtsausbildung. Denn es gilt angehende Lehrer:innen auf aktuelle Romane und ihre mediale Adaptionen aufmerksam zu machen, die für Schüler:innen relevante Themen aufgreifen. Für Teenager, die eine ähnliche Erfahrung durchmachen, appelliert es, gegen die Alkoholsucht anzukämpfen: "Wo immer du auch bist, / Wie dunkel der Weg dir auch erscheinen mag, / Komm zurück, / Jemand hat das Licht für dich angelassen." (I/0:20) Angesichts des sensiblen Themenspektrums wäre vielleicht zu überlegen, ob The Glass Girl wie Girl in Pieces mit einer Triggerwarnung versehen werden sollte. Der Argon Verlag weist in einem Nachwort auf ein digitales Booklet mit Adressen hin, an die sich Jugendliche wenden können, wenn sie dieselben Probleme wie Bella haben.

Titel: The Glass Girl
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Kathleen Glasgow
Sprechende: Nora C. Schulte
Produktion: Argon Verlag
Erscheinungsjahr: 2025
Dauer (Minuten): 13 Stunden, 11 Minuten
Preis: 24,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Glasgow, Kathleen: The Glass Girl (Hörbuch)