Inhalt

Schauplatz: England, Vane Island im viktorianischen Zeitalter, kurz nach dem Tod Darwins. Dies ist das historische und geographische Setting, in dem sich die 14jährige Protagonistin Faith als Detektivin bewegt. Gemeinsam mit ihren Eltern, dem Reverend Sunderly und seiner Frau Myrtle sowie ihrem kleinen Bruder Howard, muss das neugierige, aufgeweckte Mädchen die Heimat Kent fluchtartig verlassen und auf der Insel Vane ein neues Leben im Pfarrhaus beginnen. Die Angestellten haben sie alle zurückgelassen und müssen sich nun mit neuen Bediensteten arrangieren. Die Gründe für diesen Ortswechsel bleiben zunächst im Dunkeln, denn auch Faith ist nicht informiert. Die Protagonistin verehrt und liebt ihren Vater zutiefst, obwohl dieser sie herablassend und abschätzig behandelt, schließlich ist sie nur ein Mädchen. Und dass diese im viktorianischen Zeitalter nichts zählen, erfährt Faith im Laufe der Handlung einmal mehr. Immer wieder wird sie mit vermeintlich naturwissenschaftlichen Prämissen konfrontiert, die besagen, die Intelligenz eines Menschen korreliere unmittelbar mit seiner Schädelgröße – und Frauen haben nun mal einen kleineren Kopf, da können sie ja nicht denkfähig sein. Dasselbe gilt demnach auch für Faith’ Mutter Myrtle, die zunächst, aus der Perspektive der Tochter, als launisch und verwöhnt erscheint. Sie ist für die Koordination des Haushalts und die Organisation der Angestellten verantwortlich, während der Vater sich für Fossilien und Naturwissenschaft interessiert und Faith auf den quengeligen kleinen Bruder aufpassen muss. Dabei würde sie sich viel lieber an der Fossilienausgrabung ihres Vaters beteiligen. Unvergessen ist ihr der erste eigene Fossilienfund, nicht zuletzt deshalb, weil dies das einzige Erlebnis in ihrem Leben war, bei dem ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit des idealisierten Vaters galt. Von der naturwissenschaftlichen Wissbegier getrieben, beobachtet Faith ihre Umwelt sehr genau – seit der Ankunft ihrer Familie auf Vane, ereignet sich ein merkwürdiger Unfall nach dem nächsten. Und eines Tages wird ihr geliebter Vater tot aufgefunden. Faith ist sich sicher: Es war Mord! Zielstrebig macht sie sich an die Aufklärung des Falles, ungeachtet der Tatsache, dass ihr aufgrund des Geschlechts überall mangelnde Intelligenz unterstellt wird. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf das Tagebuch des Vaters und auch auf den mysteriösen Lügenbaum – eine Pflanze, die von Lügen lebt. Fantastische und realistische Elemente verschwimmen. Aber Faith gibt nicht auf: Sie will den Mörder ihres Vaters finden!

Kritik

Die britische Autorin Frances Hardinge entwirft hier eine düstere, dichte und ausladende Handlung, zu der das rein in schwarz gehaltene Coverbild, das einen knorrigen, alten Baum zeigt, vortrefflich passt. Die Narration zieht sich, liest sich trotz der Kriminalhandlung nicht so einfach weg, sondern funktioniert auf mehreren Ebenen, denn es geht hier um mehr als nur um die Aufklärung eines Mordes. Zunächst einmal liegt mit dem Lügenbaum ein historisches Zeitpanorama vor, das die Zwänge und Konventionen der viktorianischen Gesellschaft, in der Frauen und Mädchen nichts zählen, regelrecht schmerzhaft abbildet. Die Diskriminierung tut besonders weh, weil sie auch dem idealisierten Vater in den Mund gelegt ist, der aber durch die interne Fokalisierung durch die Augen der Protagonistin beschrieben wird, und sie verherrlicht seine Person, ohne auch nur ansatzweise kritisch Distanz zu nehmen. Das ist psychologisch glaubwürdig, verlangt dem Leser aber einiges ab. Denn so muss er differenzieren zwischen dem Bild, das Faith von ihrem Vater zeichnet und dem, wie die Figur agiert. Seine Tochter wendet sich vertrauensvoll an ihn, sucht das Gespräch und erhält zur Antwort:

Augenscheinlich ist dein Charakter auf gefährliche Abwege geraten. Aufrichtigkeit ist für einen Mann empfehlenswert, aber für eine Frau oder ein Mädchen ist sie von grundlegender Bedeutung, wenn sie vor den Augen der Gesellschaft bestehen will. Hör zu, Faith. Ein Mädchen kann weder so mutig noch so klug und geschickt sein wie ein Junge. Wenn es nicht gut und ehrlich ist, ist es gar nichts. Hast du verstanden?(S. 118)

Die tiefenpsychologische Schärfe der Narration speist sich gerade aus der hier aufscheinenden Diskrepanz zwischen intern fokalisierter Figurensicht und dem, was der Leser zwischen den Zeilen liest. Und so klärt Faith nicht nur einen Mord auf und kämpft gegen die Begrenzungen für Mädchen ihrer Zeit, sondern ist vor allem von den eigenen inneren Dämonen bedroht, die zunächst nur auf vermeintlich fantastischer Erzählebene explizit werden, wenn sie den Lügenbaum mit Lügen füttert. Über lange Strecken bleibt unklar und verworren, was sich hinter diesem Motiv verbirgt, zumal Faith stellenweise eine unzuverlässige Erzählerin ist. Wenn der Lügenbaum genug Lügen hat, verhelfen sie demjenigen zu Erkenntnissen, der seine Früchte isst. Von diesem Umstand ist Faith zutiefst überzeugt, solange sie noch daran glaubt, dass ihr Vater ein wunderbarer, unfehlbarer, unsäglich kluger Mensch war, dessen Tod es zu rächen gilt. Ihre geistige Präsenz verbindet sich ungebrochen mit den verletzten Gefühlen des kleinen Mädchens – eine solche Figurenkonzeption ist selten in einem Jugendroman, der sich aufgrund der vordergründigen Handlung als Krimi einstufen lässt. In dem Motiv des Lügenbaums steckt eine gewaltige Symbolkraft, die aber in diesem noch lange nicht erschöpft ist. Denn die vielen skurrilen Figuren, Haushälterin, Friedensrichter und Fotograph, tauchen nicht nur auf der realistischen Ebene auf, auf der die Kriminalhandlung angesiedelt ist, sondern auch in den Visionen von Faith, die sie durch den Lügenbaum hat und im Papiertheater des kleinen Bruders:

Faith zog die Kulisse heraus. Es gab noch drei weitere Hintergründe, aus denen man auswählen konnte, eine mit der gleichen Landschaft bei Nacht im Mondschein, eine mit der Innenansicht eines Zimmers – mit Bildern an der Wand und einem Kronleuchter – und eine in Grüntönen gehaltene Waldszene. Mit übertriebener Gründlichkeit schob Faith die mondbeschienene Landschaft in den Schlitz. (S. 206)

Faith wechselt nicht nur die Kulissen des Papiertheaters, es wechseln auch die Kulissen der mysteriösen Kriminalhandlung, die bevölkert ist von einem herrlich morbiden Figurenensemble, das zuweilen wie eine Hommage an Hitchcock-Filme wirkt, insbesondere die strenge, aber klare Haushälterin Mrs. Vellet, von der Faith am Ende erkennt, dass sie "nicht trocken" (S. 409) ist. Zu den Figuren gesellen sich gefälschte Fossilien, Ratten und eine Schlange, die sich häutet – die Erzählebenen sind so raffiniert miteinander verschränkt, dass sie sich beim einmaligen, einfachen Lesen nicht erschließen. Das ist auch anstrengend und verlangt dem (jugendlichen) Leser ein hohes Maß an literarischer Verstehenskompetenz ab, um es mit einem gängigen Begriff aus dem literaturdidaktischen Diskurs zu fassen: Genaues Lesen ist erforderlich, denn das Maß an Unbestimmtheitsstellen ist hier sehr hoch.

Fazit

Ein besonderes Buch, das sich keinesfalls auf die Kriminalhandlung oder die fantastische Ebene reduzieren lässt. Morbider Charme, Kritik am viktiorianischen Zeitgeist, naturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse, Geschlechterkampf und Emanzipation, unzählige Symbole, dichte, düstere Kriminalhandlung, raffiniert konzipierte Figuren und eine latent unzuverlässige Erzählerin – trotz einer Stärke von 439 Seiten ist es verwunderlich, dass das alles in einen Roman passt und in sich auch noch stimmig ist. Leser ab 14 Jahren müssen die Bereitschaft mitbringen, sich auf diese literarische Komplexität einzulassen. 

Titel: Der Lügenbaum
Autor/-in:
  • Name: Hardinge, Frances
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: The Lie Tree
Übersetzung:
  • Name: Alexandra Ernst
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2017
Verlag: Freies Geistesleben
ISBN-13: 978-3-7725-2798-2
Seitenzahl: 440
Preis: 22,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Hardinge, Frances: Der Lügenbaum