Inhalt
"Jeder hat Narben. Manche sind nur besser zu sehen" – diese (bisweilen etwas plakative) Lebensweisheit ist dem neuen Jugendroman von Erin Stewart im Paratext vorangestellt. Erzählt wird im Roman selbst die tragische Geschichte von Ava, die bei einem Hausbrand nur knapp mit dem Leben davongekommen ist. Ihre Eltern und ihre Cousine Sara starben in den Flammen. Nun lebt die zutiefst traumatisierte und von Brandwunden und Narben gezeichnete Ava bei Tante und Onkel, den verwaisten Eltern der verstorbenen Cousine. Die Handlung setzt in medias res ein Jahr nach dem verheerenden Feuer ein. An diesem Tag kann Tante Cora, die sich aufopfernd um ihre überlebende Nichte kümmert, diese endlich zur Wiederaufnahme des Schulbesuchs bewegen. Für Ava steht fest: Sie wird nur wenige Tage in der neuen Highschool bleiben. Sie versteckt ihr verbranntes Gesicht vor den Mitschülerinnen und Mitschülern und starrt stur auf den Boden, zutiefst beschämt über die eigene optische Entstellung.
Doch es kommt anders: Zwar ist die Jugendliche massiven Mobbingattacken ausgesetzt, doch Ava findet hier Freunde, die ihr Mut machen. Im Zentrum steht vor allem ihre Freundschaft mit Piper, die ebenfalls Brandwunden trägt und infolge eines Unfalls im Rollstuhl sitzt und die vermeintlich viel besser damit umgehen kann als Ava selbst. Außerdem lernt Ava Asad kennen, einen freundlichen Jungen, der sie ermutigt, am Leben teilzunehmen und sich nicht mehr zu verstecken. Dank seiner Hilfe entdeckt Ava ihre alte Leidenschaft fürs Theater wieder und erhält eine Rolle im Musical zum Zauberer von Oz. Doch die Theaterproben sind eine große Herausforderung für das verbrannte Mädchen, vor allem Kenzie, die sie offen ausgrenzt, macht ihr das Leben schwer.
Nach und nach wird klar, dass Piper und Kenzie früher beste Freundinnen waren und den Unfall, bei dem Piper sich folgenschwer verletzte, gemeinsam verursacht haben. Doch Piper kann sich Ava zunächst nicht öffnen, verbirgt sich hinter einer Maske und mag ihre inneren Wunden nur langsam preisgeben – doch am Ende siegen Freundschaft und Überlebenswillen. Piper und Ava überstehen schließlich sogar in freundschaftlicher Verbundenheit, dass Ava sich in Asad verliebt und der sich leider in Piper. Aber gerade diese unglückliche Liebesgeschichte macht sie schlussendlich ein Stück weit zu ganz normalen Teenagern – trotz der Narben.
Kritik
In sicherlich ehrenwerter Absicht nähert sich die Autorin in diesem Roman sensibel einem schwierigen Thema und gibt einem Brandopfer durch durchgehend interne Fokalisierung auf die Ich-Erzählerin eine eindringliche Erzählstimme. Die Erzählung ist unterbrochen durch paratextuell abgesetzte, typographisch der Handschrift nachempfundene Rückblenden, die in Ansätzen von dem schrecklichen Feuer erzählen, das Ava ihre Familie nahm und sie entstellte. Wie es zu dem Brand kam, lässt der 413 Seiten starke Jugendroman bis zum Ende offen. Vielmehr konzentriert sich der Text auf die Erzählgegenwart und legt den Fokus auf Avas Leben nach dem Feuer in der Highschool, will Mut machen und für die Schicksale von Brandopfern sensibilisieren, was die Autorin auch als Anliegen des Romans in der Danksagung expliziert.
Die Story ist mitreißend und ergreifend, jedoch auch voraussehbar. So erscheint von vorneherein klar, dass es auf Avas erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft hinausläuft. Strukturell und thematisch erinnert der Roman sehr an die in den Sick Lit-Diskurs eingeordneten Romane von Anne Freytag (Mein bester letzter Sommer). Auch diese setzen vor allem auf Empathie und Identifikation mit den Protagonistinnen, entfalten die Story langsam und detailgetreu und treffen mit dieser Anlage sicherlich bei vielen jugendlichen Leserinnen und Lesern einen Nerv.
Literarästhetische Innovation ist dem Roman weniger zuzusprechen, zu traditionell ist die Erzählweise, zu wenig poetisch die Sprache. Dieser Mangel (wenn man es denn so nennen will) fällt besonders in den Tagebuch-Aufzeichnungen auf, in denen Ava die tragischen Branderlebnisse aufarbeitet, weil man hier aufgrund der Typographie Poetisches erwartet, aber eigentlich nur Aufzählungen liest:
Ich wusste, dass mein Gesicht schlimm aussah.
Wie hätte ich das nicht wissen sollen?
So wie die Leute mich ansahen.
Und wegen der violett-pinkfarbenen Wirbel überall
auf meinem Körper.
Ich wusste es.
Deshalb sah ich nicht hin.
Einen Monat lang.
Bis Cora und die Ärzte meinten, es sei an der Zeit.
Im Spiegel.
Eine Fremde. (S. 202)
Keine Wortkraft, dafür aber Nähe zu liebevoll konzipierten Figuren und eine mitreißende Handlung, die sich leicht liest und sicher sensibilisiert für Opfer von Bränden – Freundschafts- und Liebesdramen inklusive.
Fazit
Ein lesenswerter, dicht erzählter Jugendroman voller Tragik. Er liest sich leicht und wendet sich vor allem an jugendliche Leserinnen ab 16 Jahren, die vor ernsten und traurigen Thematiken nicht zurückschrecken. Wer die Bücher von Anne Freytag mag, wird sicherlich auch angetan von Erin Stewarts Debütroman sein.
- Name: Stewart, Erin
- Name: Henriette Zentner