von Inger Lison
Mit großer Spannung wurde Susan Krellers vierter Jugendroman Hannas Regen erwartet, der auf gewohnt poetische Art und Weise eine Bandbreite an Themen wie jugendliche Außenseiter, Identitätsentwicklung, (Un)Sichtbarkeit, Sprachlosigkeit, (Nicht)Lügen und Betrug aufgreift. Doch vor allen Dingen handelt der Roman von der sich allmählich herauskristallisierenden Freundschaft zweier Teenager, die nicht viele Worte benötigen, um sich zu verstehen. Seitens der Autorin wurde die Wartezeit knapp zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin mit dem verheißungsvoll klingenden Facebook-Post verkürzt: „Für dieses Buch […] habe ich mir sehr viele Regenvideos angesehen: Leichter Regen zum Einschlafen. Regen ohne Donner. Regen mit Donner. Drei Stunden sanfter Nachtregen. Regen im Regenwald. Regen, der auf Wassermelonen fällt. Ungefähr tausend Videos. Und manchmal bin ich auch durch den Regen gegangen.“ (https://www.facebook.com/susan.kreller) Dementsprechend regenreich ist auch das ansprechende, farbschöne Buchcover ausgefallen, das den Buchumschlägen der Vorgängerromane an symbolträchtigen Purismus und Eleganz in Nichts nachsteht. Für ganz „Zappelige“ hatte der Carlsen-Verlag schon geraume Zeit vor dem Releasetermin eine Leseprobe online gestellt.
Inhalt
Aus Josefins Perspektive wird die erste Begegnung mit der neuen Mitschülerin Hanna Kiesow und die sich später daraus sehr behutsam entwickelnden Freundschaft zwischen den beiden Mädchen beschrieben. Wie der Romantitel bereits suggeriert, findet dieses ,Aufeinandertreffen‘ im Regen statt: "Hanna beginnt im Regen. Sie hört auch im Regen wieder auf, später, nicht jetzt, kein Grund zur Eile. Es ist ein nasser Oktobermorgen, als sie zum ersten Mal in meinem Leben auftaucht, aus heiterem Himmel, obwohl der Himmel an diesem Tag bedeckt ist." (Susan Kreller: Hannas Regen. Hamburg: Carlsen 2022, S. 7).
Leitmotivisch zieht sich der Niederschlag in all seinen Variationen fortan durch die Handlung. Er fungiert sowohl als Hintergrundkulisse der sich zuspitzenden Handlung als auch als Spiegelung von Hannas zerrüttendem Seelenleben sowie als Schutzmantel: "Der Regen, er scheint für sie viel mehr als nur Wasser zu sein, […]. Nein, Hanna bewegt sich nicht gleichgültig durch den Regen, das ist ja das Merkwürdige, in Wahrheit beachtet sie ihn mehr als jeder Andere, versteckt sich in ihm, hüllt sich in ihn ein wie in einen Mantel." (Ebd., S. 8). Aber der Reihe nach. Das seltsame, im Regen untertauchende Mädchen wird in der Schule neben Josefin gesetzt, denn neben ihr ist noch ein Platz frei. Wie soll es auch anders sein, schließlich fühlt sich Josefin als Außenseiterin, beschreibt sie sich doch höchst selbstreflektiert als einen der "seitlichen Menschen":
"Ich bin eine von der Sorte Ich verlass mich auf dich.
Ich bin die, die man anruft, wenn sonst keiner Zeit hat.
Ich gehöre zu den seitlichen Menschen, die aus Versehen mit fotografiert werden." (Ebd., S. 12)
Dementsprechend einsam fühlt sich Josefin, die kaum Anrufe von Gleichaltrigen bekommt und sich eigentlich nichts sehnlicher als Freunde wünscht. Aber über ihre pitsch-nasse Sitznachbarin kann sich das Mädchen nicht so recht freuen, die sie nicht nur aufgrund ihrer ersten Begegnung merkwürdig findet. Seltsam ist auch, dass sich die Fremde zumeist in Schweigen hüllt, immer ein Buch über Gotische Kirchen bei Lichte besehen (vgl. Buchcover) mit sich herumträgt, äußerst schreckhaft auf die Knallgasprobe im Chemieunterricht reagiert und sich ansonsten von ihrer Umwelt komplett abzuschotten scheint. Getriggert wird dieser befremdliche Eindruck noch von Josefins Mutter, die zusammen mit Hannas Mutter bei Future Technology Inc. arbeitet und ihre neue Arbeitskollegin als höchst seltsam und verdächtig einstuft. Da sie begeisterter Krimi-Fan ist, entspinnt sie sogleich eine abstruse Geschichte, dass nämlich die Familie Kiesow unter falscher Identität in die Kleinstadt gezogen ist und irgendetwas Kriminelles zu verbergen hat. Dieses Geheimnis bzw. das Mysteriöse an Hanna und ihren unsympathisch wirkenden Eltern evoziert die konsequent aufrechterhaltene Grundspannung des Romans.
Nach diesem nicht allzu vielversprechenden Begegnungsauftakt und dem von Josefin beobachteten Diebstahl Hannas in Herrn Pollmanns Markt ist es die Neue, die den Kontakt zu Josefin bzw. Josef, wie sie ihre Sitznachbarin mit ihrem allerersten Spitznamen nennt, sucht. Hanna ruft Josefin an und bittet sie, ihr die Stadt zu zeigen. Bei einem Ausflug zur alten Sternwarte brechen die Mädchen ihr Schweigen und tauschen sich vorsichtig übereinander aus. In diesem Kontext berichtet Josefin auch von den kulinarischen internationalen Wochen ihrer Mutter, zu der sie Hanna auf ihre Bitte hin einlädt. Und seit der liechtensteinischen Woche ist Hanna mehr oder minder explosionsartig in das Leben von Josefins Familie getreten, da sie den mit Salz anstelle von Zucker verfeinerten Maisbrei mit Kirschen in hohem Bogen wieder von sich gibt.
Trotz des Kirsch-Desasters scheinen Joefins Eltern und ihr jüngerer Bruder Carlo das Mädchen zu mögen. Auch die Oma, die Josefin und Hanna nach ihrer Flucht vor zwei Männern in der Nähe der Sternwarte aufsuchen, findet einen Zugang zu dem Mädchen. Doch nach diesen gemeinsamen Erlebnissen hüllt sich Hanna des Öfteren wieder in Schweigen und bleibt für Josefin ein Rätsel, ja fast unerreichbar. Ganz behutsam und mit einem herzergreifenden Einblick in Josefins Gefühlswelt wird in den folgenden Kapiteln beschrieben, wie sich trotz dieser Fragezeichen bzw. Unwägbarkeiten bei ihren weiteren Begegnungen eine zarte Freundschaft anbahnt:
"Dann kauen wir nur, dann schweigen wir, und das Schweigen ist wie eine schöne, weiche, sehr leise Stimme und alles fühlt sich so an, als wäre heute Weihnachten, die klapprigen Gartenmöbel und die Äpfel sind unsere wortkargen Weihnachtsgäste und die Schokolade schmeckt nach den Tortenstücken alter Frauen, aber wir essen sie trotzdem, wir kauen und kauen und schweigen und schauen auf das winzige bunte Fenster im großen Schuppenfenster, wir machen uns keine Sorgen, wir gewöhnen uns langsam dran. Alles fühlt sich richtig an." (Ebd., S. 125)
Denn wie schon Josefins Vater bemerkt, kommt es bei einer Freundschaft möglicherweise nicht so sehr auf die Gespräche, sondern vielmehr auf das gegenseitige aufeinander Acht geben an:
"Freundschaft ist, wenn du dir Sorgen um den Anderen machst und trotzdem hingehst. Wenn du ein Geschenk für ihn hast und trotzdem hingehst. Wenn du Angst vor der ganzen Welt hast und dir selber nicht über den Weg traust und das Wetter miserabel ist und der Tag sowieso und wenn du dann trotzdem zu diesem einen Menschen gehst. Das ist dann vielleicht Freundschaft." (Ebd., S. 106, 107).
Genauso unvermittelt wie Hanna in das Leben von Josefin getreten ist, scheint sie auch daraus – wie in den Anfangszeilen des Romans bereits angedeutet wurde – herauszutreten: Denn Hannas betrügerische Eltern entkommen in letzter Minute und mit Hilfe von Josefins Schweigen einem großen Polizeiaufgebot und nehmen ihre Tochter mit. Doch diverse schweigsame Anrufe einige Zeit später lassen Josefins Herz vor Freude schneller schlagen.
Kritik
Mit Hannas Regen ist Susan Kreller wieder ein ganz großer literarischer Wurf gelungen. Bild- und wortgewaltig entspinnt sich diese feine, behutsame Freundschaftsgeschichte zweier Mädchen im Regen, die ohne viele Worte füreinander einstehen und sich gegenseitig Halt innerhalb einer Gesellschaft geben, in der sie sich als Außenseiterrinnen fühlen. Auch wenn Hanna durch die wenigen Informationen zu ihrer Person ein Mysterium bleibt, fungiert sie für Josefin als Helferfigur, in ihrem Umfeld wahrgenommen bzw. sichtbar zu werden und selbstbewusster aufzutreten.
Es wirkt entlastend, dass in diesem Roman, der durch popkulturelle Verweise zu Billie Eilish und Andrea Berg mittels Zitaten aus ihren Songs Everything I wanted und Du hast mich tausendmal belogen in der Gegenwart verortet ist, die aktuell medienpräsenten und -gesättigten Themen wie Pandemie, Krieg und ökologische Katastrophen außen vor bleiben und sich stattdessen mit ganzer Poesie auf die während der Adoleszenz zu bewältigenden universalen „Krisen“ Heranwachsender (Freundschaft, Herausbildung der eigenen Identität, seinen Platz in der Gesellschaft finden) fokussiert wird. Dies gelingt der Autorin ganz wunderbar mit authentischen Beschreibungen von Josefins Gefühlswelt, nämlich eines an sich selbst zweifelnden Teenagers, so dass diese als Identifikationsfigur für die Leserschaft fungieren kann. Auch der digitalen Entschleunigung wird in Hannas Regen Rechnung getragen, da bis auf die Erwähnung diverser Handys samt Klingeltöne und der Nennung der Firma Future Technology Inc. keine weiteren digitalen Errungenschaften vorkommen.
Trotz der Schwere der Themen wartet der Roman mit einer gehörigen Portion Komik in Form der liebenswürdigen Protagonisten auf, die größtenteils einen Spleen zu haben scheinen. Josefins Mutter, mit der oftmals ihr detektivischer Spürsinn durchgeht und die ihre Familie kontinuierlich mit ihren mehr oder weniger gelungenen internationalen Kochkünsten drangsaliert: "Wir befinden uns mitten in der slowenischen Woche, was gut ist, weil wir schon drei Abendessen hinter uns haben, und schlecht, weil uns noch vier bevorstehen“ (Ebd., S. 15), oder Josefins Vater, der sich am Telefon mit variantenreichen Anredeformeln, wie beispielweise „Zweiter Hirte von links, was kann ich für Sie tun?" (Ebd., S. 106) meldet. Wie in anderen Kreller’schen Jugendromanen zuvor gehören auch ältere, skurrile Damen zum Figurenensemble, wie beispielsweise Josefines Oma und Frau Lisco. Und auch das im "Todeskampf" aufgeführte Fliegen-Yoga, das im Hintergrund des Gesprächs zwischen Josefine und ihrer Mutter über die potenzielle Tarnidentität der Familie Kiesow abläuft, hat trotz aller Mortalität etwas Humorvolles an sich. (Keine Sorge, der Fliege geht es gut!)
Fazit
In Hannas Regen stellt Susan Kreller ihren virtuosen und poetischen Umgang mit der Sprache erneut unter Beweis. Herausgekommen ist ein spannender, atmosphärisch dichter Roman, den bestimmte Motive wie der Regen, das für Hanna als Zuhause empfundene Buch über die Gotischen Kirche bei Lichte besehen leitmotivisch durchziehen, in dem aber auch aus anderen Romanen der Wahlberlinerin bekannte Motive wie Unsichtbarkeit und Sprachlosigkeit wieder aufgegriffen und in einen neuen kriminalistischen Kontext gestellt werden. Diese Hommage an den Regen und das Schweigen in ihren jeweiligen 13 Millionen Ausprägungsformen und die Freundschaft endet wie Elefanten sieht man nicht (2012), Schneeriese (2014) und Elektrische Fische (2019) zuvor zwar nicht mit einem Happy-End, aber durchaus hoffnungsvoll. Der als Jugendbuch deklarierte Roman sticht aus den diesjährigen Neuerscheinungen als ein wahres literarisches Juwel heraus, das nicht nur Jugendlichen ab 12 Jahren zu empfehlen ist, sondern als All-Ager darüber hinaus eine ältere Leserschaft in den Bann zu ziehen vermag, nicht nur bei herbstlichem Regenwetter!
- Name: Susan Kreller