Inhalt

Die Erzählgegenwart der Märchenerzähler-Fortsetzung ist 18 Jahre nach der des ersten Bandes angesiedelt, in dem es um Anna und Abel ging. Nun avanciert ihr gemeinsamer Sohn Elias zum Ich-Erzähler. Er wächst bei den Großeltern und der Mutter auf, pflegt ein enges Verhältnis zu seiner Tante Micha, die im ersten Teil ein kleines Mädchen war und leidet schmerzlich unter der Abwesenheit seines Vaters. Die Schatten der Vergangenheit holen ihn immer wieder ein, erst recht, als Elias entdeckt, dass Anna offenbar Briefe von Abel erhält. Wie kann das sein? Lebt er etwa doch noch? Dieser Verdacht erhärtet sich, als Elias die Briefe liest, denn in ihnen wird ein brutales und furchtbares Märchen erzählt, das eigentlich nur aus der Feder von Abel, dem Märchenerzähler, stammen kann. Und wieder fungiert der Märchentext als Spiegel der realistischen Erzählebene, nimmt die brutalen Ereignisse vorweg, die auf den Protagonisten einprasseln. Er ist ziemlich sicher, dass der Schatten, den er manchmal zwischen den Bäumen sieht, sein Vater sein muss. So offenbart sich ein Blick in die schmerzvolle Vergangenheit, in der Abel Opfer von Kindesmissbrauch und Vergewaltigung geworden war. Aber die Vergangenheit ruht nicht. Elias lernt das Mädchen Zara kennen, die – wie einst Abel und Micha – mit ihrem kleinen Bruder Mert vor einem gewalttätigen Vater flieht, der nicht davor zurückschreckt, die eigenen Kinder für pädophile Pornoaufnahmen zu verkaufen. Dagegen wächst Elias bis dato in einer behüteten Welt auf, die aber nun zu zerbrechen droht. 

Kritik

Märchen und brutaler Thriller vermischen sich in Michaelis‘ Jugendroman und gehen eine Union ein, die einen schier atemlos macht. Dass sich die Autorin vor schonungslosen Gewaltdarstellungen nicht scheut, hat sich schon in vielen jugendliterarischen Vorgängerromanen aus ihrer Feder gezeigt (z.B. in Niemand liebt November). Und auch wenn man um diesen Umstand weiß, mag man doch erschrecken angesichts der Themen, die der Jugendroman hier anfasst. Kunstvoll verwebt Michaelis die verschiedenen Handlungsstränge miteinander und arrangiert den durch Kursivdruck abgehobenen Märchentext, der als Reflex und die Spiegel der Erzählgegenwart fungiert, in die Erzählgegenwart hinein. Durch dieses Arrangement, das von der viel gerühmten poetischen Sprache Michaelis’ getragen ist, liest sich die brutale Thriller-Handlung selbst beinahe wie ein geheimnisvoller Märchentext. Er gibt der Rätsel auf und repräsentiert ein Setting von Figuren, die verängstigt, verstört und zurückgenommen wirken, zumal sie die meiste Zeit flüstern oder "wispern". Die Sprache ist formelhaft und redundant und rückt somit Märchen und realistische Handlungsebene nah zusammen:

"In der Nacht saß ein Junge mit einem Totenkopfschwärmer auf der Wange auf einer Bank am Fluss und betrank sich alleine.

In der Nacht lag ein blondes Mädchen in den Armen eines Jungen im zweiten Stock eines großen Hauses, in dessen Auffahrt ein weißer Mercedes schlief, aber das blonde Mädchen schlief nicht, es war wach und sah an die Decke und dachte an jemand anderen.

In der Nacht stand ein Träumer aus seinem Bett auf und schlich einen Flur entlang.

In der Nacht verwelkten zwei weiße Rosen im Garten eines Hauses voll blauer Luft und eine neue erblühte, blutrot." (S. 303)

So wird der Text zu einem ästhetisch-komplexen Gewebe, das sein im Sinne des Literaturwissenschaftlers Carsten Gansel aufstörerisches Potenzial (vgl. Carsten Gansel: Aufstörung und Denormalisierung als Prinzip? Zu aktuellen Entwicklungen zwischen KJL und Allgemeinliteratur. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, hrsg. von Carsten Gansel und Pawel Zimniak, Heidelberg: Winter 2011, S. 13-36) aus den harten Themen speist, die hier im Gewand der märchenhaften Sprache reflektiert werden. Beschönigt wird nichts, die kindlichen und jugendlichen Figuren sind auf allen Erzählebenen Opfer von brutaler Gewalt, aber sie begehren auf und halten zusammen. Im ersten Band taten dies Anna, Abel und Micha, nun sind es Elias, Zara und Mert. Ihre Geschichten spiegeln einander nicht nur, sondern sind auch direkt miteinander verwoben, wie es der Titel sagt: Elias steht im Schatten seines Vaters, des Märchenerzählers. Von daher ist es stimmig, dass er im Grunde nur eine schattenhafte Existenz führen kann: Er kreist und dreht um die Vergangenheit – und mit ihm tut das der ganze Roman. Die Leserinnen und Leser müssen selbst abwägen, ob sie sich in solchen Schatten drehen wollen, ob der Text zu sehr "Abklatsch" des schon Erzählten ist oder innovativ in der Fortsetzung. Das aufstörerische Potenzial hingegen dürfte dem Roman niemand absprechen.

Fazit

Im Schatten des Märchenerzählers steht im Schatten des Märchenerzählers. Die dynamische Thriller-Handlung, die brutale Thematik, der märchenhafte Stil und die poetische Sprache ergeben im Zusammenspiel ein vielschichtiges Erzählgefüge, an dem sich die Geister scheiden mögen. Eine brisante Jugendlektüre, frühestens ab 16 Jahren zu empfehlen: mutig, ehrlich und hochgradig komplex.

Titel: Im Schatten des Märchenerzählers
Autor/-in:
  • Name: Michaelis, Antonia
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7512-0165-0
Seitenzahl: 458
Preis: 22,00
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Michaelis, Antonia: Im Schatten des Märchenerzählers