Inhalt

Lucas ist ein vernachlässigter Junge. Zwar mangelt es ihm nicht an materiellem Wohlstand, aber seine Eltern Sebastién und Marie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie ihrem Sohn Stabilität geben könnten. Die Mutter leidet an Depressionen, der Vater flüchtet sich in die Arbeit und versteckt sich hinter einer harten Schale. Lucas hat keine Freunde, er ist ein übergewichtiger Außenseiter – im Grunde ein Klischeebild des Mobbingopfers. Lange bevor er erste sexuelle Kontakte hat, verfängt er sich in den Online-Angeboten der Pornoindustrie und kommt davon nicht mehr los. Er schläft nicht mehr, weil er sich die Nächte mit dem Schauen von immer härteren Pornos um die Ohren schlägt, seine schulischen Leistungen rauschen in den Keller. Es dauert lange, bis seine Eltern darauf aufmerksam werden. Und als sie es schließlich tun, bricht ein Donnerwetter in der Familie los. Der Vater reagiert mit Wut und Unverständnis und einer schlichten Verbotskultur, er glaubt, das Problem mit Strenge und Härte in den Griff zu bekommen. Sebastién weigert sich stur, die Sucht seines Sohnes als solche anzuerkennen, will auf keinen Fall, einen Therapeuten konsultieren, obwohl seine Frau ihn inständig darum bittet. Einmal mehr kriselt es in ihrer Ehe.. Doch für Lucas ist es nicht schwer, sich heimlich den Verboten seines Vaters zu widersetzen. Zwar schämt er sich für seine exzessive Porno-Rezeption, doch die Sucht ist stärker als die Scham. Erst als Lucas einen Selbstmordversuch macht, lenkt der Vater ein und stimmt einer Therapie zu. In der Klinik lernt Lucas nach und nach neue Verhaltensmuster. Im Schwimmen findet er einen neuen inneren Ausgleich – und er verliebt sich in Èloise, die wegen ihrer Online-Spielsucht in der Klinik ist. Mit ihr lernt er, dass Sexualität nicht mit Pornographie gleichzusetzen ist.

Kritik

Patrick Bard hat einen aufrüttelnden Jugendroman geschrieben, in dem er mit dem Thema Pornosucht ein Tabu aufgreift und literarisch bricht. Der Text regt zum Nachdenken an, ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite und steht im Duktus der problemorientierten Jugendliteratur der 1970er Jahre. Nicht der Blick ins Innere des Protagonisten ist leitend, wie es im psychologischen Roman der Fall wäre. Vielmehr trägt ein heterodiegetischer Erzähler mit nullfokalisierter Sicht die Handlung vor, was der Narration einen regelrecht seltsam anmutenden Erzählton beschert. Eine kurze, manchmal fast abgehackte Syntax trägt dazu bei, dass der Text beinahe einen dokumentarischen Stil entwickelt:

Lucas ist sechzehn und hat noch nie ein Mädchen zärtlich berührt oder gar geküsst. Und schon gar nicht mit einem Mädchen geschlafen. Aber er hat zehntausenden Menschen aus aller Welt dabei zugesehen, wie sie es in allen möglichen Stellungen und allen möglichen Kombinationen miteinander tun. Ein Mann mit einer Frau, eine Frau mit einem Mann, mehrere Männer (eins, zwei, drei...) mit einer Frau, mehrere Frauen (eins, zwei, drei...) mit einem Mann, mehrere Männer untereinander, Frauen mit Frauen, in allen möglichen Aufmachungen, von völlig textilfrei bis hin zu Kostümierungen als Sekretärinnen, Krankenschwestern, Schülerinnen, Professorinnen, Fitnessfans, Cheerleaderinnen und Putzfrauen, um nur die gängigsten zu nennen, von Reizwäsche jeglicher Art gar nicht zu sprechen. (S. 27)

Vielleicht ist dieser distanziert berichtende Ton der einzig mögliche, um dieses brisante Thema jugendliterarisch darzubieten. Zwar ist der mitschwingende moralisch erhobene Zeigefinger nicht zu überlesen, was der Spannungskurve keinen Abbruch tut. Auch wegen der Kürze der Kapitel, die meist nur maximal drei Seiten umfassen, lässt sich das Buch schnell und einfach "weglesen" – wirft aber Fragen auf. Die Lektüre ist bei Rezipienten und Rezipientinnen im Jugendalter ganz sicher auf das Gespräch mit Erwachsenen angewiesen. Für den süchtigen Protagonisten scheint am Ende der Weg zurück in ein normales Leben auf, auch wenn die Geschichte zum Glück auf ein billiges Happy-End verzichtet.

Fazit

Der dokumentarische Erzählton schafft Distanz zum 'Was' des Erzählten, was aufgrund der Brisanz des bislang tabuisierten Themas Porno-Rezeption bei Jugendlichen wohl ein kluger narrativer Schachzug ist. Point of View ist ein problemorientierter Jugendroman, der aufklärt und erläutert. Empfehlenswert für jugendliche Leserinnen und Leser ab 14 Jahren, die aber auch erwachsene Mitleserinnen und Mitleser benötigen, mit denen sie über das Gelesene sprechen können.

Titel: Point of View
Autor/-in:
  • Name: Bard, Patrick
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: Point of View
Erscheinungsort: Bindlach
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Loewe
ISBN-13: 978-3-7432-1477-4
Seitenzahl: 223
Preis: 9,95
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Bard, Patrick: Point of View